Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 83 I 16



83 I 16

4. Urteil vom 27. März 1957 i.S. Grundul gegen Bryner & Co. GmbH und
Richteramt III Bern. Regeste

    Art. 84 Abs. 1 lit. c O G, Art. 90 Abs. 1 lit. b OG. Das Bundesgericht
prüft die Anwendung von Staatsverträgen mit dem Ausland frei (Erw. 1);
es berücksichtigt dabei auch neue tatsächliche und rechtliche Vorbringen
(Erw. 2).

    Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951. Wer
ist Flüchtling im Sinne des Abkommens? (Erw. 3). Wann sind Flüchtlinge
von der cautio judicatum solvi befreit? (Erw. 4).

Sachverhalt

    A.- Julius Grundul wurde 1889 in den baltischen Provinzen des
Russischen Reichs auf dem Gebiet des nachmaligen Lettland geboren. 1913
wanderte er nach China aus, wo er Beamter des Marinezollamts in Tien-Tsin
wurde. Mit der Gründung der Republik Lettland im Jahre 1918 erlangte
er die lettische Staatsangehörigkeit. 1940 wurde Lettland durch die
URSS besetzt. Kurz bevor die Kommunisten im Jahre 1947 in Tien-Tsin
an die Macht kamen, trat Grundul von seinem Amt zurück. Seinen Plan,
nach USA auszureisen, konnte er indes nicht mehr verwirklichen. In der
Folge wurde er von der Zweigstelle Shanghai der "IRO" (International
Refugee Organization, Internationale Flüchtlingsorganisation der Vereinten
Nationen) als "bona-fide refugee" registriert und mit den erforderlichen
Ausweisen ausgestattet. Auf Empfehlung dieser Organisation wurde er Anfangs
1955 in Norwegen aufgenommen, wo er seither in einem Flüchtlingsheim lebt.

    B.- Am 11. Oktober 1956 erhob Grundul beim Richteramt III in Bern
gegen die Firma Bryner & Co. GmbH Klage auf Bezahlung von Fr. 5504.--.

    Vor Einreichung einer Antwort beantragte die Beklagte, der
Kläger sei zur Sicherstellung der Prozesskosten zu verpflichten,
da er keinen Wohnsitz in der Schweiz habe und sich als Staatenloser
nicht darauf berufen könne, dass sein Wohnsitzstaat Norwegen der Haager
Übereinkunft betr. Zivilprozessrecht vom 17. Juli 1905 angehöre. In seiner
Vernehmlassung wiedersetzte sich der Kläger diesem Begehren. Er machte
geltend, lettische Staatsangehörige, welche die Sowjetunion verlassen
hätten, seien als Flüchtlinge zu betrachten. Als Flüchtling habe er
gemäss Art. 16 Ziff. 3 des Genfer Abkommens über die Rechtsstellung
der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (im Folgenden Genfer Abkommen
genannt) in Verbindung mit Art. 17 der Haager Übereinkunft keine
Prozesskostensicherheit zu leisten. In ihren Gegenbemerkungen wandte die
Beklagte demgegenüber ein, der Kläger habe Norwegen in der Klageschrift
als seine "Heimat" bezeichnet, was darauf schliessen lasse, dass er schon
zur Zeit seiner Tätigkeit im Fernen Osten in jenem Land Wohnsitz gehabt
habe. Ein Staatenloser sei jedoch nur dann als Flüchtling im Sinne des
Genfer Abkommens zu betrachten, wenn er sich ausserhalb des Landes,
in dem er früher Wohnsitz gehabt habe, aufhalte und in dieses nicht
mehr zurückkehren könne oder infolge begründeter Befürchtungen nicht
zurückkehren wolle. Das treffe auf den Kläger, der schon vor dem Umsturz
in China seinen Wohnsitz in Norwegen gehabt haben müsse, nicht zu.

    Das Richteramt III schloss sich der Auffassung der Beklagten
an. Gestützt auf Art. 70 Ziff. 1 der bernischen ZPO setzte es dem Kläger
mit Verfügung vom 9. Januar 1957 eine Frist von zwanzig Tagen an, um
den Betrag von Fr. 1000.-- als Prozesskostensicherheit beim Gericht zu
hinterlegen. Für den Unterlassungsfall drohte es ihm die kostenfällige
Rückweisung der Klage (Art. 76 ZPO) an.

    C.- Mit Eingabe vom 25. Januar 1957 führt Grundul staatsrechtliche
Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV. Er beantragt, die
Kostensicherungsauflage sei aufzuheben. Zur Begründung macht er
im wesentlichen geltend, ob Lettland trotz der Besetzung durch die
Sowjetunion als selbständiges Staatswesen bestehe und weiterhin an
der Haager Übereinkunft betr. Zivilprozessrecht teilhabe, und ob er,
Grundul, die lettische Staatsangehörigkeit (auf die er nie verzichtet
habe und die ihm auch nicht durch individuellen Hoheitsakt entzogen
worden sei) noch besitze, könne offen bleiben, da er jedenfalls als
Flüchtling auf Grund des Genfer Abkommens Anspruch auf Befreiung von der
Kostensicherungspflicht habe. Die Voraussetzungen, unter denen eine Person
nach Art. 1 lit. A dieses Abkommens als Flüchtling gilt, erfülle er in
zweifacher Hinsicht. Einmal sei er nach der Verfassung der Internationalen
Flüchtlingsorganisation als Flüchtling betrachtet worden. Sodann befinde
er sich infolge von Ereignissen, die vor dem 1. Januar 1951 eingetreten
sind, ausserhalb seines (früheren) "Wohnsitzstaats". Entgegen der
Annahme des Richteramts III habe er während der für die Bezeichnung
des "Wohnsitzstaats" massgebenden Zeit in China Wohnsitz gehabt. Nach
Norwegen sei er erst Anfangs 1955 gekommen. Dass dieses Land in der
Klageschrift als seine "Heimat" bezeichnet wurde, beruhe auf einem
Übersetzungsfehler. Da ihm das Richteramt III keine Gelegenheit geboten
habe, zu den Gegenbemerkungen der Beklagten Stellung zu nehmen, habe er
diesen Irrtum nicht berichtigen können.

    D.- Die Firma Bryner & Co. GmbH schliesst auf Abweisung
der Beschwerde. Sie macht geltend, es sei Sache des Klägers
gewesen, rechtzeitig alle Beweismittel beizubringen, aus denen seine
Flüchtlingseigenschaft hervorgehe. Wenn der Richter beim Entscheid dieser
Frage mangels sonstiger Angaben auf die Ausführungen der Klageschrift
abgestellt habe, so liege darin keine Willkür. Der Kläger habe im übrigen
auch heute nicht dargetan, dass keine der Voraussetzungen gegeben seien,
unter denen nach Art. 1 lit. C des Genfer Abkommens einer Person die
Flüchtlingseigenschaft abzusprechen ist.

    Das Bundesgericht hat die Beschwerde begründet erklärt

Auszug aus den Erwägungen:

                          in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer bezeichnet die Beschwerde als solche wegen
Verletzung von Art. 4 BV. Er erblickt eine formelle und materielle
Rechtsverweigerung (Willkür) darin, dass die kantonale Instanz Art. 1
lit. A und Art. 16 Ziff. 3 des Genfer Abkommens über die Rechtsstellung
der Flüchtlinge sowie mittelbar auch Art. 17 Abs. 1 und 2 der Haager
Übereinkunft betr. Zivilprozessrecht missachtet habe. Art. 1 lit. A
des Genfer Abkommens umschreibt die Voraussetzungen, unter denen
einer Person in den Vertragsstaaten und im Verkehr zwischen diesen der
besondere Status eines Flüchtlings zuerkannt wird. Art. 16 Ziff. 3 dieses
Abkommens und Art. 17 Abs. 1 und 2 der Haager Übereinkunft handeln
von der Sicherstellung der Prozesskosten (cautio judicatum solvi). Die
Verletzung derartiger staats- und völkerrechtlicher bzw. prozessrechtlicher
Bestimmungen von Staatsverträgen mit dem Ausland bildet nach Art. 84
Abs. 1 lit. c OG einen eigenen Beschwerdegrund. Das Bundesgericht hat
die Anwendung solcher staatsvertraglicher Bestimmungen nicht nur unter
dem beschränkten Gesichtswinkel der Willkür, sondern in tatsächlicher
Hinsicht frei zu überprüfen (BGE 81 I 142 Erw. 1, 82 I 245 Erw. 1 und
dort angeführte Urteile). Der Rüge der Rechtsverweigerung kommt daneben
keine selbständige Bedeutung zu.

Erwägung 2

    2.- Beschwerden wegen Verletzung anderer als zivil- und
strafrechtlicher Bestimmungen von Staatsverträgen mit dem Ausland
sind zulässig, bevor von den kantonalen Rechtsmitteln Gebrauch gemacht
worden ist (Art. 86 Abs. 3 OG; BGE 82 I 82 und dortige Zitate). Nach der
Rechtsprechung des Bundesgerichts (BGE 68 I 162 Erw. 2, 73 I 51 Erw. 2, 78
I 116 Erw. 6, 81 I 142 Erw. 1) sind in den Fällen, in denen der kantonale
Instanzenzug nicht erschöpft zu werden braucht, im bundesgerichtlichen
Verfahren neue rechtliche und tatsächliche Vorbringen statthaft. Auf die in
der Beschwerdeschrift erstmals aufgestellten Behauptungen und auf die vom
Beschwerdeführer eingereichten neuen Beweismittel ist daher einzutreten.

Erwägung 3

    3.- Dem am 28. Juli 1951 in Genf abgeschlossenen Abkommen über die
Rechtsstellung der Flüchtlinge (AS 1955 S. 443 ff., ROLF 1955 S. 461 ff.)
sind sowohl die Schweiz (vgl. Bundesbeschluss über die Genehmigung
dieses Abkommens vom 14. Dezember 1954, AS 1955 S. 441) als auch Norwegen
(vgl. AS 1955 S. 462) beigetreten. Gemäss Art. 1 lit. A Ziff. 1 Abs. 1
des Staatsvertrags ist Flüchtling im Sinne des Abkommens jede Person,
die nach der Verfassung der Internationalen Flüchtlingsorganisation
(oder nach bestimmten früheren Vereinbarungen) als Flüchtling betrachtet
wurde ("has been considered a refugee under...the Constitution of the
International Refugee Organization"; "a été considérée comme réfugiée... en
application de la Constitution de l'Organisation internationale pour
les réfugiés"). Ist einer Person von den zuständigen Organen der
Internationalen Flüchtlingsorganisation die Flüchtlingseigenschaft
zuerkannt worden, so ist dieser Entscheid auch für die Vertragsstaaten
des Genfer Abkommens bindend. Eine Überprüfung der Verfügungen dieser
Organisation haben sich die Vertragsstaaten nur für die Fälle vorbehalten,
in denen einer Person die Flüchtlingseigenschaft von dieser Seite nicht
zuerkannt worden war (vgl. Art. 1 lit. A Ziff. 1 Abs. 2 des Abkommens
im englischen und französischen Originaltext, der in der deutschen
Übersetzung, AS 1955 S. 444, ungenau wiedergegeben worden ist).

    Wie aus dem von der "Philippines & Far East Mission" der
"IRO" ausgestellten "Certificate of Travel" hervorgeht, wurde der
Beschwerdeführer von der Internationalen Flüchtlingsorganisation als
Flüchtling ("bona-fide refugee, eligible for IRO legal and political
protection") anerkannt. Er ist somit nach Art. 1 lit. A Ziff. 1 Abs. 1
des genannten Staatsvertrags als Flüchtling im Sinne des Genfer Abkommens
zu betrachten.

    Der Beschwerdeführer kann im weiteren auch auf Grund von Art. 1
lit. A Ziff. 2 des Genfer Abkommens Anspruch auf die Zuerkennung der
Rechtsstellung eines Flüchtlings erheben. Nach dieser Bestimmung gilt jede
Person als Flüchtling, "die sich auf Grund von Ereignissen, die vor dem
1. Januar 1951 eingetreten sind, und aus begründeter Furcht vor Verfolgung
wegen ihrer Rasse, Religion, Staatszugehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer
bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung
ausserhalb ihres Heimatlandes (country of his nationality, pays dont elle
a la nationalité) befindet und dessen Schutz nicht beanspruchen kann oder
wegen dieser Befürchtungen nicht beanspruchen will; oder die sich als
Staatenlose infolge solcher Ereignisse ausserhalb ihres Wohnsitzstaates
befindet und dorthin nicht zurückkehren kann oder wegen der erwähnten
Befürchtungen nicht zurückkehren will".

    Der Ausdruck "Wohnsitzstaat", wie ihn die nicht mit Gesetzeskraft
ausgestattete deutsche Übersetzung verwendet, führt zu einer Unsicherheit,
die auch die kantonale Instanz zu unrichtigen Schlüssen veranlasst
haben mag. Der englische und der französische Originaltext bringen
demgegenüber mit der Umschreibung "outside the country of his former
habitual residence", "hors du pays dans lequel elle avait sa résidence
habituelle" klar zum Ausdruck, dass der Staatenlose, der als Flüchtling
anerkannt werden will, sich ausserhalb des Staates befinden muss, in dem er
seinen ordentlichen Wohnsitz hatte, bevor er "infolge solcher Ereignisse"
("as a result ofsuch events") anderwärts Zuflucht suchte.

    Der Beschwerdeführer war von 1913 bis 1947 Beamter des Marinezollamts
in Tien-Tsin. Alles spricht dafür, dass er während dieser Zeit und bis zu
seiner Ausreise nach Europa dort Wohnsitz hatte. Nach der Besetzung des
kontinentalen China durch die Streitkräfte der chinesischen Volksrepublik
in den Jahren 1947/48 musste er wegen seiner politischen Überzeugung,
bis zu einem gewissen Grade wohl auch wegen seiner Zugehörigkeit zu einer
bestimmten sozialen Gruppe, jenes Land verlassen. In sein Ursprungsland
Lettland, das 1940 von den Sowjettruppen besetzt und als Lettische
Sozialistische Sowjetrepublik in die Sowjetunion eingegliedert worden
war, konnte er aus denselben Gründen nicht zurückkehren, wie er auch von
dieser Seite keinen diplomatischen Schutz zu erwarten hat. Ob er, wie er
geltend macht, heute noch die lettische Staatsangehörigkeit besitze, oder
ob er als Staatenloser zu betrachten sei, kann bei dieser Sachlage offen
bleiben. Im einen wie im andern Falle erfüllt er die Voraussetzungen,
unter denen eine Person nach Art. 1 lit. A Ziff. 2 des Genfer Abkommens
als Flüchtling zu gelten hat.

    Die in Art. 1 lit. C Ziff. 1-6 des Abkommens genannten Umstände, unter
denen ein Flüchtling nicht mehr des einem solchen zu gewährenden Schutzes
teilhaftig wird, treffen auf den Beschwerdeführer offensichtlich nicht zu.

Erwägung 4

    4.- Gemäss Art. 16 Ziff. 3 des Genfer Abkommens ist der Flüchtling in
den Vertragsstaaten, in denen er nicht seinen ordentlichen Aufenthalt hat,
hinsichtlich der Zulassung vor Gericht, des Armenrechts und der cautio
judicatum solvi gleich zu behandeln wie ein Angehöriger des Landes, in
dem er seinen ordentlichen Aufenthalt hat. Der Beschwerdeführer ist seit
Anfangs 1955 im Vertragsstaate Norwegen niedergelassen. Er ist daher in
der Schweiz wie ein norwegischer Staatsangehöriger zu behandeln.

    Norwegen ist wie die Schweiz der Haager Übereinkunft betr.
Zivilprozessrecht vom 17. Juli 1905 (BS 12 S. 277 ff.) beigetreten. Nach
Art. 17 Abs. 1 und 2 der Übereinkunft dürfen die Gerichte eines
Vertragsstaates den Angehörigen eines anderen Vertragsstaates, der
in einem Vertragsstaate seinen Wohnsitz hat, wegen seiner Eigenschaft
als Ausländer oder deswegen, weil er keinen Wohnsitz oder Aufenhalt im
Inland hat, nicht zur Sicherstellung der Prozesskosten verhalten. Diese
Bestimmung ist, wie dargelegt, auch auf den Beschwerdeführer anwendbar
(vgl. BBl. 1954 II S. 77).

    Die kantonale Instanz hat dem Beschwerdeführer gestützt auf Art. 70
Ziff. 1 der bernischen ZPO mangels eines Wohnsitzes in der Schweiz zur
Hinterlegung einer Prozesssicherheit Frist angesetzt. Dies war nach dem
Gesagten unzulässig. Die angefochtene Verfügung ist daher aufzuheben.