Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 83 I 152



83 I 152

21. Urteil vom 8. Mai 1957 i.S. Schürch gegen Vormundschaftsbehörde
Fällanden und Direktion der Justiz des Kantons Zürich. Regeste

    Einsicht in Verwaltungsakten.

    Kann ein Privater Einsichtnahme in Akten einer Verwaltungsbehörde
(Vormundschaftsbehörde) verlangen

    -  unmittelbar auf Grund von Art. 4 BV? (Erw. 5).

    - auf Grund einer kantonalen Vorschrift, nach welcher das Recht auf
Einsicht in "öffentliche Urkunden" ein "rechtliches Interesse" voraussetzt
(§ 231 zürch. EG zum ZGB)? (Erw. 6).

Sachverhalt

                     Aus dem Tatbestand:

    Bei der durch Urteil des thurgauischen Obergerichts vom 24. Februar
1948 rechtskräftig gewordenen Scheidung der Ehe des Beschwerdeführers
Alfred Schürch mit Rosa Meierhans wurde der am 21. Mai 1944 geborene Knabe
Walter Alfred der Mutter zugewiesen. Nachdem diese im Jahre 1953 mit dem
Kind von Frauenfeld nach Fällanden (Kt. Zürich) übergesiedelt war, stellte
der Beschwerdeführer gemäss Art. 157 ZGB das Begehren um Unterstellung des
Knaben unter seine elterliche Gewalt, wurde damit aber vom Bezirksgericht
Uster und mit Urteil vom 22. April 1954 auch vom Obergericht des Kantons
Zürich abgewiesen. Am 30. September 1954 ordnete die Vormundschaftsbehörde
Fällanden gestützt auf Art. 283 ZGB eine vormundschaftliche Aufsicht
über den Knaben an und betraute damit den Amtsvormund Dr. Nänni in
Uster. In der Folge stellte der Beschwerdeführer bei diesem das Gesuch
um Einsicht in dessen Akten, insbesondere in ärztliche Berichte über den
Knaben. Da dem Gesuch nicht entsprochen wurde, beschwerte er sich bei der
Vormundschaftsbehörde Fällanden mit dem Begehren, Dr. Nänni anzuweisen,
ihm volle Einsicht in sämtliche seinen Knaben betreffende Akten zu
gewähren. Die Vormundschaftsbehörde wies das Begehren durch Entscheid
vom 19. Juni 1956 ab und bemerkte dazu, dass sie um Einschränkung des
Besuchsrechts des Beschwerdeführers nachsuchen müsste, wenn dieser nicht
aufhöre, den Knaben gegen seine Mutter aufzuwiegeln und ihm ungeeignete
Geschenke zu machen.

    Eine Beschwerde gegen diesen Entscheid wurde vom Bezirksrat Uster
und ein gegen dessen Entscheid erhobener Rekurs am 11. Januar 1957 von
der Justizdirektion des Kantons Zürich abgewiesen.

    Hiegegen hat Alfred Schürch staatsrechtliche Beschwerde wegen
Verletzung von Art. 4 BV erhoben.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

    1./3. - (Prozessuales).

    4. - Die Vormundschaftsbehörde Fällanden hat in ihrem Beschluss
vom 19. Juni 1956 bemerkt, sie wäre, sofern der Beschwerdeführer sein
Verhalten nicht ändere, gezwungen, um Einschränkung seines Besuchsrechtes
nachzusuchen. Nach Auffassung der Justizdirektion handelt es sich
bei dieser vom Beschwerdeführer beanstandeten Androhung nicht um eine
rekursfähige Verfügung, sondern lediglich um eine vorsorgliche Mitteilung.
Der Beschwerdeführer bestreitet dies, weil damit "sein Klagerecht in
unzulässiger Weise tangiert" werde, legt aber nicht dar, dass und weshalb
die Auffassung der Justizdirektion willkürlich, d.h. schlechterdings
unhaltbar sei. Auf diese Rüge ist daher mangels tauglicher Begründung
nicht einzutreten (Art. 90 lit. b OG). Es ist übrigens unerfindlich,
inwiefern der Beschwerdeführer durch jene Bemerkung in seinem Klagerecht
beeinträchtigt sein soll; er wird dadurch in keiner Weise gehindert,
eine Klage auf Abänderung des Scheidungsurteils einzureichen, und eine
allfällige Beschränkung seines Besuchsrechts könnte nur der Richter nach
Anhörung des Beschwerdeführers anordnen.

    5. - Der aus Art. 4 BV fliessende Anspruch auf rechtliches Gehör,
der unter gewissen Voraussetzungen auch in Verwaltungssachen besteht
(BGE 75 I 226), umfasst u.a. auch die Befugnis, die Akten einzusehen,
unter Vorbehalt immerhin von verwaltungsinternen Auskünften und
vertraulichen Akten, für deren Geheimhaltung berechtigte Interessen
Dritter oder des Staates sprechen (BGE 53 I 113/4; nicht veröffentlichte
Urteile vom 13. März 1947 i.S. Weber Erw. 3 und vom 1. Juni 1955
i.S. Tenner Erw. 2). Ausserdem bezieht sich der unmittelbar aus Art. 4
BV abgeleitete Anspruch auf rechtliches Gehör nur auf die Parteirechte
während der Dauer des Verfahrens (nicht veröffentliches Urteil vom
23. März 1950 i.S. Marfurt). Im vorliegenden Falle läuft aber bei der
Vormundschaftsbehörde kein Verfahren, in welchem der Beschwerdeführer
Parteistellung hätte und zur Wahrung seiner Rechte der Einsichtnahme in
die Akten der Vormundschaftsbehörde bedürfte. Er begehrt die Einsichtnahme
nur zu Informationszwecken und namentlich zur Sammlung von Prozessmaterial
für eine neue Klage auf Abänderung des Scheidungsurteils. Der unmittelbar
aus Art. 4 BV abgeleitete Anspruch auf rechtliches Gehör steht daher nicht
in Frage; das Begehren um Akteneinsicht kann sich nur auf eine besondere
Bestimmung des eidgenössischen oder kantonalen Rechtes (vgl. BGE 82 II
563 Erw. 4 und 7) stützen.

    6. - Der Beschwerdeführer macht in dieser Beziehung geltend, dass ihm
die Akteneinsicht auf Grund von § 231, eventuell 232 zürch. EG zum ZGB
(EG) gewährt werden müsse. Die Auslegung und Anwendung dieser kantonalen
Gesetzesbestimmungen kann das Bundesgericht nicht frei, sondern nur unter
dem beschränkten Gesichtswinkel der Willkür überprüfen.

    a) § 231 EG umschreibt die Voraussetzungen, unter denen Privatpersonen
die Einsicht "gerichtlicher oder notarialischer Akten und Protokolle oder
anderer öffentlicher Urkunden" gestattet ist, während § 232 EG das Recht
auf Einsicht "in eine Privaturkunde" regelt. Der Begriff der öffentlichen
Urkunde im Sinne von § 231 EG wird in der Lehre und Rechtsprechung nicht
einheitlich ausgelegt (vgl. KEHL, Die gegenseitige Akten-Editionspflicht
S. 19 ff.). Ob darunter auch die Akten fallen, die der Beschwerdeführer
einsehen möchte, kann indessen dahingestellt bleiben, da der angefochtene
Entscheid auch dann dem Vorwurfe der Willkür standhält, wenn es sich um
öffentliche Urkunden im Sinne von § 231 EG handelt.

    b) Die Justizdirektion lässt als zur Einsicht in Verwaltungsakten
berechtigte Privatpersonen im Sinne von § 231 EG nur die an einem
Verwaltungsverfahren direkt beteiligten Personen, d.h. die Parteien, gelten
und nimmt an, Drittpersonen hätten selbst dann keinen Anspruch auf Einsicht
in Verwaltungsakten, wenn sie daran ein berechtigtes Interesse nachweisen
könnten. Dass und warum diese Gesetzesauslegung schlechterdings unhaltbar
und deshalb willkürlich sein soll, wird in der Beschwerde nicht darzutun
versucht. Sie ist es auch nicht. Der Wortlaut des Gesetzes steht dieser
einschränkenden Auslegung nicht entgegen, und sie lässt sich sachlich
rechtfertigen mit der Schweigepflicht des Beamten, der im Zivilprozess das
Zeugnis über Wahrnehmungen bei seiner amtlichen Tätigkeit verweigern kann
(§ 187 Ziff. 2 zürch. ZPO), sowie mit dem öffentlichen Interesse daran,
dass die Behörden ihre Aufgabe richtig erfüllen können (vgl. zu diesem
Problem REICHLIN. Die Schweigepflicht des Verwaltungsbeamten ZBl 1952
S. 473 ff. und 505 ff., KEHL aaO S. 32 ff.). Dass aber der Beschwerdeführer
nicht Partei in einem Verwaltungsverfahren ist, in welchem er zur Wahrung
seiner Rechte der Einsichtnahme in die fraglichen Akten bedürfte, ist
bereits dargelegt worden (Erw. 5).

    c) Der angefochtene Entscheid ist übrigens auch dann haltbar,
wenn man Drittpersonen ein Recht auf Einsicht in die Verwaltungsakten
zugesteht. Voraussetzung dieses Rechts ist nämlich nach § 231 (wie auch
nach § 232) EG, dass "ein rechtliches Interesse an der Einsichtnahme
bescheinigt wird". Ein bloss tatsächliches Interesse genügt demnach
nicht. Nun ist es jedenfalls nicht willkürlich, dem Beschwerdeführer
ein rechtliches Interesse an der Einsichtnahme in die fraglichen
Akten abzusprechen. Das für den Knaben bestellte vormundschaftliche
Aufsichtsorgan hat dessen Pflege und Erziehung zu überwachen und, wie sich
aus dem Bestellungsbeschluss ergibt, der Mutter bei der Abwehr störender
Einwirkungen des Beschwerdeführers behilflich zu sein. Die fraglichen Akten
betreffen also die Pflege und Erziehung des Knaben, die Verhältnisse, unter
denen er aufwächst. Daran ist der Beschwerdeführer als Vater zweifellos
interessiert. Da ihm aber die elterliche Gewalt nicht zusteht, er also
keinen Rechtsanspruch auf Mitwirkung bei der Erziehung des Knaben hat,
ist die Annahme nicht willkürlich, dass er an der Akteneinsicht kein
rechtliches, sondern bloss ein tatsächliches Interesse und damit nach §
231 (oder 232) EG keinen Anspruch darauf habe. Daran ändert nichts,
dass der Beschwerdeführer bei Änderung der Verhältnisse die Abänderung
des Scheidungsurteils mit Bezug auf die Kindeszuteilung verlangen kann
(Art. 157 ZGB). Solange einem solchen Begehren nicht entsprochen und dem
Beschwerdeführer die elterliche Gewalt über den Knaben nicht übertragen
worden ist, wird sein tatsächliches Interesse an der Erziehung des Knaben
nicht zu einem rechtlichen. Insbesondere ist sein Interesse, sich durch
die Akteneinsicht den Stoff für die Begründung einer Abänderungsklage
zu verschaffen, tatsächlicher Natur; ein Rechtsanspruch darauf, dass ihm
die Vormundschaftsbehörde die Unterlagen für die Einleitung eines solchen
Prozesses verschaffe, besteht nicht. Die Berufung des Beschwerdeführers
auf das obergerichtliche Urteil ZR 55 Nr. 12 ist unbehelflich. Die in
der Beschwerde wiedergegebenen Urteilserwägungen wurden im Zusammenhang
mit der Frage der Grenzziehung zwischen kantonalem Prozessrecht und
Bundeszivilrecht gemacht, und ausserdem handelte es sich dort nicht um
Akten einer Verwaltungsbehörde, sondern einer Privatperson (Erblasser)
und bestand nicht nur ein rechtliches Interesse, sondern (wie im Falle
BGE 82 II 555 ff.) ein materiellrechtlicher Anspruch auf die Einsichtnahme.

    d) Der angefochtene Entscheid liesse sich schliesslich auch dann
halten, wenn dem Beschwerdeführer das rechtliche Interesse an der
Akteneinsicht nicht abgesprochen werden könnte. Wie in BGE 80 I 5
ausgeführt wurde, sind die Vormundschaftsbehörden für die Erfüllung
der ihnen vom ZGB übertragenen Aufgaben auf vertrauliche Informationen
angewiesen und genötigt, in die private Geheimsphäre der unter ihrer Obhut
stehenden Personen einzudringen, weshalb ein grosses, auch öffentliches
Interesse an einem ausgedehnten Schutz ihres Amtsgeheimnisses besteht
und sie mangels besonderer Vorschrift nicht verpflichtet sind, den
Zivilgerichten Einsicht in ihre Akten zu geben. Diese Erwägungen, auf die
im einzelnen verwiesen wird, müssen erst recht gelten, wenn die Einsicht
von einer Privatperson verlangt wird. § 231 EG enthält keine allgemeine
Vorschrift über die Herausgabe von Verwaltungsakten (vgl. ZBl 1927 S. 92)
und insbesondere keine Bestimmung, wonach Vormundschaftsbehörden gehalten
wären, Dritten Einsicht in ihr Akten zu geben. Aus jener Bestimmung folgt
daher jedenfalls nicht zwingend, dass diese Behörden verpflichtet wären,
jeder Privatperson, die ein rechtliches Interesse bescheinigen kann,
Einsicht in ihre Akten zu gewähren. Vielmehr muss ihnen, wenn wie hier
keine gesetzliche Vorschrift entgegensteht, zum mindesten gestattet sein,
das Interesse der Verwaltung an der Geheimhaltung ihrer Akten und dasjenige
des Privaten an der Einsichtnahme gegeneinander abzuwägen. Dabei kann im
vorliegenden Falle dem Interesse an der Geheimhaltung ohne jede Willkür
der Vorrang zuerkannt werden. Es ist nicht Sache des Beschwerdeführers,
der die elterliche Gewalt nicht besitzt, sondern des vormundschaftlichen
Aufsichtsorgans, die Erziehung des Knaben zu überwachen und im Falle
einer Gefährdung desselben die notwendigen Massnahmen zu ergreifen. Diesem
Zweck der vormundschaftlichen Aufsicht würde es zuwiderlaufen, wenn der
Beschwerdeführer in die Akten des Aufsichtsorgans Einsicht nehmen könnte
und dadurch in die Lage versetzt würde, sich in die Erziehungsmassnahmen
einzumischen und die ruhige Fortentwicklung des Kindes zu stören. Das
muss ganz besonders gelten, wenn wie hier die vormundschaftliche Aufsicht
vornehmlich deswegen errichtet wurde, um Mutter und Kind gegen die Versuche
des Beschwerdeführers zu schützen, die im Scheidungsurteil getroffene
Gestaltung der Elternrechte umzustossen. Der Beschwerdeführer gibt zu,
dass er die Akteneinsicht zur Vorbereitung einer weitern Abänderungsklage
verlangt. Dieses Interesse hat aber vor demjenigen an der Geheimhaltung
der Akten zurückzutreten. Die Ausübung des Rechts auf Einleitung einer
Abänderungsklage wird dem Beschwerdeführer dadurch, wie bereits ausgeführt
wurde, durchaus nicht verunmöglicht oder in unerträglichem Masse erschwert.
Übrigens macht er in der Beschwerdebegründung keine konkreten Angaben
darüber, inwiefern die Mutter ihre Elternpflichten nicht erfülle. Sollte
er dafür Anhaltspunkte haben, so vermöchte das die Öffnung der Akten der
Vormundschaftsbehörde ihm gegenüber gleichwohl nicht zu rechtfertigen;
vielmehr hätte er dies dem vormundschaftlichen Aufsichtsorgan zu melden und
sich bei Untätigkeit desselben an die Aufsichtsbehörden zu wenden. Dass
die Vormundschaftsbehörde ihrer Aufsichtspflicht im vorliegenden Falle
nicht nachkomme, ist eine nicht näher substanzierte und nicht bewiesene
Behauptung.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.