Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 83 IV 95



83 IV 95

27. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 3. Mai 1957 i.S. Deucher
gegen Statthalteramt Horgen. Regeste

    Art.27Abs. 1 MFG. Verhältnis dieser Bestimmung zu Art.  12bis SigV
(Erw. 1). Besteht eine Rechtspflicht des Vortrittsberechtigten, seine
Geschwindigkeit herabzusetzen, um andern Fahrzeugen, die in einer
Stopstrasse warten, das Einbiegen zu ermöglichen? (Erw. 2, 3).

Sachverhalt

    A.- Franz Deucher fuhr am 30. März 1956, ca. 17 Uhr, mit seinem
Personenwagen durch die mit einem Stopsignal versehene Zugerstrasse in
Horgen, um in die verkehrsreiche Seestrasse nach links Richtung Zürich
einzubiegen. Als sich in der seeabwärts bewegenden Fahrzeugkolonne eine
Lücke zeigte, brach er den Sicherheitshalt ab und schwenkte auf die
rechte Fahrbahn der Seestrasse ein. Dadurch wurde ein Motorradfahrer,
der mit Abstand der Kolonne gefolgt war, an den rechten Trottoirrand
gedrängt und zum Bremsen gezwungen.

    B.- Der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirksgerichts Horgen
büsste Deucher am 12. Juli 1956 wegen Verletzung des Vortrittsrechts
(Art. 27 Abs. 1 MFG) und wegen einer weitern Übertretung mit einer Busse
von Fr. 30.-.

    C.- Deucher beantragt mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde,
das Urteil des Einzelrichters sei aufzuheben und die Sache zu seiner
Freisprechung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Er macht mit Bezug auf
den ersten Tatbestand geltend: Auf das Einbiegen aus einer Stopstrasse
sei nicht Art. 27 Abs. 1 MFG, sondern ausschliesslich Art. 12 bis
SigV anwendbar. Nach dieser Bestimmung habe sich der Fahrzeugführer
nur zu vergewissern, ob er die Fahrt ohne Gefährdung anderer fortsetzen
könne. Im vorliegenden Fall habe eine solche Gefahr nicht bestanden. Denn
der Anspruch auf ungestörte Beibehaltung der Geschwindigkeit, den
der von rechts Kommende an gewöhnlichen Kreuzungen innerorts habe,
könne an der Einmündung einer stark befahrenen Stopstrasse in eine
Strasse mit Kolonnenverkehr nicht gelten. Die gegenteilige Auffassung
werde den Bedürfnissen der heutigen Verkehrsdichte nicht gerecht. Dem
Vortrittsberechtigten dürfe vielmehr eine angemessene Herabsetzung der
Geschwindigkeit zugemutet werden, um den in der Stopstrasse Wartenden das
Einschwenken zu ermöglichen. Selbst wenn Art. 27 Abs. 1 MFG anwendbar wäre,
so hätte das Gebot der Rücksichtnahme verlangt, dass der Motorradfahrer
nicht mit unverminderter Geschwindigkeit weitergefahren wäre.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Art. 12 bis SigV schreibt dem Motorfahrzeugführer an Stellen mit
Stopsignal einen Sicherheitshalt vor und entzieht ihm das Vortrittsrecht,
das er allenfalls hätte. Mehr sagt die Vorschrift nicht. Insbesondere
setzt sie weder ausdrücklich noch sinngemäss die Bestimmung des Art. 27
Abs. 1 MFG über den Rechtsvortritt ausser Kraft. Im Gegenteil. Art. 12
bis SigV will nicht nur die Unfallgefahr vermindern, sondern zu gleicher
Zeit dem Verkehr auf der Strasse, in die die Stopstrasse einmündet,
im Interesse einer flüssigen Abwicklung den Vorzug geben. Zu diesem
Zweck entzieht die Verordnung den Fahrzeugen in der Stopstrasse das
allenfalls bestehende Vortrittsrecht und überträgt es auf diejenigen
auf der Hauptverkehrsader. Die dort von links kommenden werden damit
ebenfalls vortrittsberechtigt. Es wäre daher sinnwidrig, anzunehmen,
Art. 12 bis SigV habe Art. 27 Abs 1 MFG ausschalten wollen.

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 27 Abs. 1 MFG setzt der Rechtsvortritt gleichzeitiges
Eintreffen zweier Fahrzeuge an einer Kreuzung oder Strasseneinmündung
voraus. Gleichzeitigkeit ist gegeben, wenn der Vortrittsberechtigte seine
Fahrt auf der Schnittfläche der beiden Strassen nicht mit gleichmässiger
Geschwindigkeit fortsetzen könnte, ohne Gefahr zu laufen, mit dem von
links kommenden Fahrzeug zusammenzustossen (BGE 77 IV 219, 79 II 214,
80 IV 199). An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten, und zwar -
entgegen einem in der Zeitschrift des bernischen Juristenvereins 90
S. 416 angeführten kantonalen Urteil - ohne Rücksicht darauf, ob die
Kreuzung ausser- oder innerorts liege und wie gross die Entfernung
zwischen einem rasch fahrenden Vortrittsberechtigten und dem von links
Kommenden sei. Wollte man von den geltenden Grundsätzen abweichen
und dem Berechtigten die Pflicht auferlegen, die Geschwindigkeit
zugunsten Nichtvortrittsberechtigter, die vor ihm einbiegen wollen,
herabzusetzen, so würde das Vortrittsrecht als elementare Verkehrsregel
entwertet. Die Folge wäre, dass eine erhebliche Unsicherheit an Kreuzungen
und Strasseneinmündungen entstände, die Unfallgefahr erhöht und die mit
der Einführung der Stopstrassen erstrebte Flüssigkeit des Verkehrs auf
Durchgangsstrassen weitgehend vereitelt würde. Zudem wäre es schwierig,
das Ausmass der dem Berechtigten obliegenden Pflicht zur Herabsetzung der
Geschwindigkeit generell festzusetzen und im Einzelfall festzustellen,
ob und inwieweit ihr nachgelebt worden sei.

    Richtig ist, dass starker Verkehr auf Durchgangstrassen in den
einmündenden Stopstrassen zu Fahrzeugstauungen und zu langen Wartezeiten
führen kann. Das gleiche Problem stellt sich aber auch in Nebenstrassen,
die nicht mit einem Stopsignal versehen sind, und überall, wo aus sich
kreuzenden Fahrzeugkolonnen nach links abgebogen werden soll. Diese mit
der heutigen Verkehrsdichte zusammenhängenden Schwierigkeiten durch eine
wesentliche Einschränkung des Rechtsvortrittsrechts beheben zu wollen,
dafür aber eine erhebliche Lockerung der allgemeinen Verkehrssicherheit
einzutauschen, wäre unzweckmässig und nicht zu verantworten. Wo die Polizei
nicht durch besondere Anordnungen (Art. 18 MFG) eingreifen kann, bleibt als
Lösung einzig der freiwillige Verzicht der Vortrittsberechtigten. Er beruht
aber nicht auf gesetzlicher Pflicht und darf, wenn sich der Berechtigte
nicht durch die sittlichen Gebote des Anstandes und der Rücksichtnahme
leiten lässt, nicht erzwungen werden.

Erwägung 3

    3.- Die Vorinstanz stellt verbindlich fest, dass der Beschwerdeführer
während seines Einbiegens den von rechts kommenden Motorradfahrer seitlich
abgedrängt und zum Bremsen gezwungen hat. Ob sie bei der Berechnung der
Anfahrtswege den Grundsatz "in dubio pro reo" missachtet habe, der dem
kantonalen Recht angehört, hat der Kassationshof auf Nichtigkeitsbeschwerde
hin nicht zu überprüfen. Somit steht fest, dass der Motorradfahrer
seine Fahrt nicht ungestört fortsetzen konnte, wollte er eine Kollision
verhindern, und dass folglich die beiden Fahrzeuge gleichzeitig an der
Kreuzung eingetroffen sind. Der Beschwerdeführer hat daher Art. 27 Abs. 1
MFG verletzt.

Erwägung 4

    4.- .....

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.