Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 83 IV 89



83 IV 89

25. Urteil des Kassationshofes vom 14. Juni 1957 i.S. Statthalteramt des
Bezirkes Zürich gegen Marti. Regeste

    Art.25Abs. 1 MFG. Vorsichtspflicht des Fahrzeugführers, der aus
einem dem allgemeinen Verkehr nicht offen stehenden privaten Flurweg bei
verdeckter Sicht in eine öffentliche Strasse einbiegt.

Sachverhalt

    A.- Am 4. August 1955, um 10.00 Uhr, führte Arthur Morf seinen
Personenwagen auf der 5,5 m breiten, feuchten und schlüpfrigen
Schlierenstrasse durch Urdorf Richtung Niederurdorf. Als er sich der
rechtsseitigen, durch Sträucher und Bäume verdeckten Einmündung eines dem
öffentlichen Verkehr nicht offen stehenden Flurweges auf ca. 15 m näherte,
bog Fritz Marti, der einen schweren Lastwagen steuerte, mit ungefähr 5
km/Std. in die Schlierenstrasse ein. Obschon Morf unverzüglich bremste,
wurde sein Fahrzeug vom Lastwagen erfasst und gegen die Strassenmitte
gedrückt, wo es stark beschädigt stehen blieb.

    B.- Am 4. Oktober 1955 büsste das Statthalteramt des Bezirrkes Zürich
Marti wegen Übertretung von Art. 25 Abs. 1 MFG mit Fr. 60.-.

    Marti verlangte gerichtliche Beurteilung.

    Am 24. Mai 1956 sprach ihn der Einzelrichter in Strafsachen des
Bezirksgerichtes Zürich frei. Er ging davon aus, dass Marti, um links
in die Schlierenstrasse blicken zu können, wegen der Sträucher soweit
aus der Einmündung habe herausfahren müssen, bis die Führerkabine des
Lastwagens auf der Höhe des Fahrbahnrandes angelangt sei. Da die Distanz
zwischen der vorderen Stossstange und dem Lenkrad 1,6 m betragen habe,
habe er mindestens 1,5 m weit in die Schlierenstrasse vorstossen müssen,
um feststellen zu können, ob von links ein Fahrzeug nahe. Indem er mit
bloss 5 km/Std. aus der Einmündung herausgefahren sei, habe er seiner
Vorsichtspflicht genügt. Einen Sicherheitshalt habe er nicht einschalten
müssen.

    C.- Das Statthalteramt des Bezirkes Zürich führt Nichtigkeitsbeschwerde
mit dem Antrag, das Urteil des Einzelrichters sei aufzuheben und die
Sache zur Bestrafung Martis wegen Übertretung von Art. 25 Abs. 1 MFG an
die Vorinstanz zurückzuweisen.

    D.- Marti beantragt Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

    Nach der verbindlichen Feststellung des angefochtenen Urteils
handelt es sich bei dem vom Beschwerdegegner befahrenen Weg um einen
dem allgemeinen Verkehr nicht offen stehenden privaten Flurweg,
dessen Einmündung in die Schlierenstrasse durch Sträucher und Bäume
verdeckt ist. Marti stand daher gegenüber dem auf der Schlierenstrasse
verkehrenden Morf nicht der Vortritt zu. Vielmehr hatte er auch infolge
der Unübersichtlichkeit der Stelle bei seiner Einfahrt in die genannte
Strasse höchste Vorsicht walten zu lassen, um den dortigen Verkehr nicht
zu stören oder zu gefährden. Da er, wie die Vorinstanz in tatsächlicher
Beziehung annimmt, ungefähr 1,5 m weit mit seinem Fahrzeug in die
Schlierenstrasse hineinfahren musste, um feststellen zu können, ob die
Fahrbahn frei sei, hatte er sich langsam und vorsichtig voranzubewegen
und damit den allenfalls von links sich nähernden Fahrzeugen seine
Gegenwart anzuzeigen. Er hatte das Manöver mit so geringer Geschwindigkeit
durchzuführen, dass ein korrekt auf der rechten Seite der Schlierenstrasse
verkehrender Führer bei Auftauchen des Lastwagens noch Zeit hatte, durch
Signalgabe oder Ausweichen nach links zweckmässig zu reagieren. Dieser
Vorsichtspflicht hat der Beschwerdegegner nicht genügt. Wie die Vorinstanz
selber feststellt, stiess Marti mit ca. 5 km/Std. auf die bloss 5,5 m
breite Schlierenstrasse vor. Er legte demnach in der Sekunde 1,39 m zurück
(vgl. BRÜDERLIN, Die Mechanik des Verkehrsunfalles, Tabelle II zu S. 113),
was angesichts der erhöhten Sorgfaltspflicht, die ihm unter den gegebenen
Umständen oblag, übersetzt war.

    Sollte es ihm aber, wie behauptet, technisch nicht möglich gewesen
sein, eine den Verhältnissen angepasste Geschwindigkeit von 1-2 km/Std.
einzuhalten, hätte er nur soweit in die Schlierenstrasse einfahren
dürfen, als nötig war, um von den dort verkehrenden Strassenbenützern aus
angemessener Entfernung gesehen zu werden. An diesem Punkte angelangt hätte
er einen Sicherheitshalt einschalten müssen und erst danach bis auf 1,5 m
vorstossen dürfen, um volle Sicht zu gewinnen und feststellen zu können, ob
die Fahrbahn frei sei. Statt dessen bog Marti unvermittelt mit 5 km/Std. in
die Schlierenstrasse ein. Er verstiess somit in jedem Fall gegen Art. 25
Abs. 1 MFG, wonach der Führer verpflichtet ist, die Geschwindigkeit den
gegebenen Strassen- und Verkehrsverhältnissen anzupassen und überall da,
wo sein Fahrzeug Anlass zu Unfällen bieten könnte, den Lauf zu mässigen
oder nötigenfalls anzuhalten. Die Beschwerde ist daher begründet.

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Einzelrichters in Strafsachen des Bezirksgerichts Zürich vom 24. Mai
1956 aufgehoben und die Sache zur Bestrafung des Beschwerdegegners wegen
Übertretung des Art. 25 Abs. 1 MFG an die Vorinstanz zurückgewiesen.