Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 83 IV 19



83 IV 19

5. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 10. Mai 1957 i.S. Müller
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau. Regeste

    Art. 204 Ziff. 1StGB.

    1.  Auch Schriften, die von Hand oder mit der Maschine geschrieben und
nicht vervielfältigt sind, werden von dieser Bestimmung erfasst (Erw. 3).

    2.  Wann ist eine Schrift "verbreitet" ("distribué")? (Erw. 4).

    3.  Art. 204 Ziff. 1 Abs. 2 StGB erfasst nicht weitere Arten der
Bedienung des letzten Abnehmers unzüchtiger Veröffentlichungen, sondern
nur Vorstadien des Verkaufens, Verbreitens, öffentlichen Ausstellens oder
gewerbsmässigen Ausleihens (Erw. 4).

    4.  Wann ist ein Gegenstand unzüchtig? (Erw. 6).

Sachverhalt

    Da es Müller nicht gelang, seine ehemalige Braut zurückzugewinnen,
verunglimpfte er sie auf Postkarten und auf Photographien von ihr durch
unzüchtige Vorhalte. Die Karten liess er ihr und einmal ihrem Vater durch
die Post offen zustellen, die Photographien warf er in der Nähe ihrer
Wohnung auf die öffentliche Strasse. Er wurde daher wegen fortgesetzter
unzüchtiger Veröffentlichungen zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Er
führte Nichtigkeitsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Art. 204 StGB bietet Schutz gegen "unzüchtige Schriften, Bilder,
Filme oder andere unzüchtige Gegenstände". Unter "Schriften" im Sinne
dieser Bestimmung will der Beschwerdeführer, ohne seine Auffassung
zu begründen, nur Darlegungen verstehen, die in einem Druckverfahren
vervielfältigt worden sind, nicht dagegen "handschriftliche oder
maschinengeschriebene Ausführungen mit Texten, die sich nicht wiederholen".

    Die öffentliche Sittlichkeit, die durch Art. 204 StGB gewahrt
werden soll (s. Randtitel zu Art. 203 ff.), kann indessen auch durch
eine sich nicht der Druckerpresse bedienende Handlung verletzt werden,
z.B. durch öffentliches Ausstellen eines Bildes oder eines unzüchtigen
Gegenstandes, wie sich aus Art. 204 selbst ergibt. Es ist nicht zu
ersehen, weshalb die schriftliche Äusserung vor der Öffentlichkeit nur
dann erfasst werden sollte, wenn die Schrift gedruckt, nicht auch,
wenn sie von Hand erstellt ist. Der Einfluss auf die öffentliche
Sittlichkeit kann im einen wie im anderen Falle der gleiche sein. Zwar
lassen sich Druckschriften leichter in vielen Exemplaren herstellen
und verbreiten als Handschriften. Art. 204 kann aber auch anders als
durch Verbreitung in einer Mehrzahl von Exemplaren übertreten werden,
wie sich aus dem Fall des öffentlichen Ausstellens, der von dieser
Bestimmung miterfasst wird, ergibt. Übrigens können auch Handschriften
auf nicht mechanischem Wege in einer Vielzahl von Exemplaren hergestellt
werden. Es fehlt jeder Grund, sie unter dem Gesichtspunkt der öffentlichen
Sittlichkeit anders zu behandeln als Schriften, die gedruckt oder sonstwie
mechanisch vervielfältigt sind. Dem Strafgesetzbuch ist der Begriff der
Druckschrift durchaus geläufig (Art. 27, 347). Wollte es in Art. 204 nur
sie erfassen, so würde es das ausdrücklich sagen. Das internationale
Übereinkommen zur Bekämpfung der Verbreitung und des Vertriebes von
unzüchtigen Veröffentlichungen vom 12. September 1923, das für die
Schweiz am 1. Februar 1926 in Kraft getreten ist, verlangt denn auch
strafrechtlichen Schutz unter anderem gegen die Veröffentlichung von
"Schriften" wie von "Druckschriften". Schon das Bundesgesetz vom 30.
September 1925 betreffend die Bestrafung des Frauen- und Kinderhandels
sowie der Verbreitung und des Vertriebs von unzüchtigen Veröffentlichungen,
das durch das Strafgesetzbuch aufgehoben worden ist (Art. 398 Abs. 2 lit. m
StGB), hat demgegenüber nur von "Schriften" gesprochen (Art. 4), in der
Meinung, unter diesen Begriff fielen unter anderem auch die Druckschriften
(Botschaft zum Entwurf, BBl 1924 III 1025). Es bestand nicht der geringste
Anlass, von den im internationalen Übereinkommen stehenden Ausdrücken
"Schriften" und "Druckschriften" den allgemeineren zu übernehmen, um den
engeren Begriff zu bezeichnen. Durch Art. 204 StGB sodann ist Art. 4
des erwähnten Bundesgesetzes ersetzt worden, ohne dass man den Schutz
gegen unzüchtige Veröffentlichungen irgendwie hätte einschränken wollen
(StenBull, Sonderausgabe zum StGB, NatR 412, StR 194).

    Dass die dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Veröffentlichungen
ausschliesslich von der Hand oder mit der Maschine geschrieben, jedoch
nicht vervielfältigt worden sind, steht somit der Anwendung des Art. 204
StGB nicht im Wege.

Erwägung 4

    4.- Nach Art. 204 Ziff. 1 Abs. 3 StGB ist strafbar unter anderem,
wer die von dieser Bestimmung erfassten Schriften usw. "verbreitet".

    Im französischen und italienischen Text ist dieser Ausdruck mit
"distribuer" bzw. "distribuire" wiedergegeben. Diese Begriffe decken
sich mit dem deutschen nicht, sondern haben den Sinn von "verteilen",
setzen also voraus, dass mehrere Exemplare je an verschiedene Empfänger
gelangen. "Verbreiten" heisst französisch "répandre", "propager" oder
"diffuser" und ist im Abs. 1 des italienischen Textes von Art. 204 Ziff. 1
zutreffend mit "diffondere" übersetzt. Diese Tätigkeit kann mit einem
einzigen Exemplar des unzüchtigen Gegenstandes begangen werden.

    Welcher Text der richtige ist, kann offen bleiben. Möge Abs. 3
ein "Verbreiten" oder vielmehr ein "Verteilen" verlangen, so ist er
jedenfalls nur dann anwendbar, wenn der Täter den unzüchtigen Gegenstand
einer grösseren Zahl von Personen zur Kenntnis bringt (vgl. Botschaft
des Bundesrates vom 25. November 1924, BBl 1924 III 1027). Das hat der
Beschwerdeführer insoweit nicht getan, als er sich auf Postkarten geäussert
und diese an die Adresse der Zivilklägerin (Karten vom 20. Dezember 1954,
9. Januar und 28. März 1955) bzw. ihres Vaters (Karte vom 25. März 1955)
der Post übergeben hat. Damit hat er lediglich der Zivilklägerin und den
mit ihr im gleichen Haushalt lebenden Eltern sowie einigen Postangestellten
Gelegenheit gegeben, das Geschriebene zu lesen, also einem objektiv
begrenzten Kreis von wenigen Personen. Darin lag weder ein "Verbreiten"
noch ein "Verteilen".

    Das Aufgeben der Postkarten fällt auch nicht unter eine der anderen
von Art. 204 Ziff. 1 Abs. 3 erfassten Tätigkeiten. Der Beschwerdeführer
hat diese Karten weder "öffentlich oder geheim verkauft", noch "öffentlich
ausgestellt", noch "gewerbsmässig ausgeliehen".

    Es wird ihm auch nicht vorgeworfen, dass er jemals beabsichtigt habe,
die Karten zu einem der in Art. 204 Ziff. 1 Abs. 1 erwähnten Zwecke
zu verwenden, d.h. mit ihnen "Handel zu treiben", sie zu "verbreiten"
(faire la distribution) oder sie "öffentlich auszustellen". Die Frage,
ob er sie im Sinne dieser Bestimmung "hergestellt oder vorrätig gehalten"
habe, stellt sich somit nicht.

    Art. 204 Ziff. 1 Abs. 2 sodann, der mit Strafe bedroht, wer unzüchtige
Gegenstände "zu den genannten Zwecken einführt, befördert oder ausführt
oder sonstwie in Verkehr bringt", erfasst nur Handlungen, die zwischen dem
Herstellen (Abs. 1) einerseits und dem Verkaufen, Verbreiten (Verteilen),
öffentlichen Ausstellen oder gewerbsmässigen Ausleihen (Abs. 3) anderseits
liegen. Handlungen, durch die der unzüchtige Gegenstand bereits in die
Hand des letzten Abnehmers gebracht wird, für den er bestimmt ist, sind
nur nach Abs. 3 zu würdigen. Erfüllen sie die Voraussetzungen dieser
Norm nicht, weil sie nicht die Merkmale des Verkaufens, Verbreitens
(Verteilens), öffentlichen Ausstellens oder gewerbsmässigen Ausleihens
aufweisen, so trifft auch Abs. 2 auf sie nicht zu. Diese Bestimmung will
nicht weitere Arten der Bedienung des letzten Abnehmers unter Strafe
stellen, sondern nur Vorstadien des Verkaufens, Verbreitens, öffentlichen
Ausstellens oder gewerbsmässigen Ausleihens erfassen, d.h. Handlungen, die
gewöhnlich von Zwischenagenten besorgt werden. Der Beschwerdeführer kann
daher für das Versenden der Postkarten weder mit der Begründung, er habe
sie "befördert", noch mit dem Vorwurf, er habe sie "sonstwie in Verkehr
gebracht", bestraft werden. Übrigens setzt jedenfalls das Einführen,
Befördern oder Ausführen voraus, dass es "zu den genannten Zwecken"
erfolge, nämlich um mit den unzüchtigen Gegenständen Handel zu treiben, sie
zu verbreiten (verteilen) oder öffentlich auszustellen, Voraussetzungen,
die der Beschwerdeführer durch das Versenden der Postkarten nicht erfüllt
hat. Ob auch Personen, die unzüchtige Gegenstände "sonstwie in Verkehr
bringen", nur dann strafbar sind, wenn sie einen der erwähnten Zwecke
verfolgen, kann dahingestellt bleiben.

    Der Beschwerdeführer hat sich durch das Schreiben und Versenden der
Postkarten auch nicht gegen Art. 204 Ziff. 1 Abs. 4 oder 5 vergangen.

Erwägung 6

    6.- Art. 204 StGB setzt voraus, dass die öffentlich ausgestellten
Gegenstände unzüchtig seien. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes
trifft das dann zu, wenn sie in nicht leicht zu nehmender Weise gegen
das Sittlichkeitsgefühl verstossen, und zwar schützt die Bestimmung
jedenfalls das Sittlichkeitsgefühl in geschlechtlichen Dingen, wenn
sie nicht sogar auch auf Gegenstände angewendet sein will, die an
die Aussonderung von Kot usw. erinnern (BGE 79 IV 126). Nicht nötig
ist, dass der Gegenstand den Leser oder Betrachter geschlechtlich
aufreize, wie der Beschwerdeführer geltend macht. Art. 204 bezweckt
nicht lediglich Schutz vor geschlechtlicher Erregung, sondern will
überhaupt den geschlechtlichen Anstand wahren. Auch was abstossend wirkt,
kann daher im Sinne des Gesetzes unzüchtig sein. Dieses erlaubt nicht,
dass gerade die schmutzigsten Darstellungen, die einen normalen Menschen
anwidern, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Solche Nachsicht
würde dem Verderb der Sitten geradezu Vorschub leisten. An der engeren
Umschreibung des Begriffes der unzüchtigen Schrift, wie sie in Auslegung
des Bundesgesetzes vom 30. September 1925 in BGE 53 I 239 f. anerkannt
worden ist, kann somit nicht festgehalten werden. Auch in Frankreich ist
der Schutz der öffentlichen Sittlichkeit erweitert worden, indem Art. 119
des Gesetzes vom 29. Juli 1939 den Begriff "obscène" durch "contraire
aux bonnes moeurs" ersetzt hat (DALLOZ, Recueil périodique 1939 IV 378;
vgl. DALLOZ, Répertoire de droit criminel et de procédure pénale, 1954,
2 462 Nr. 12 f.). In der deutschen Lehre gilt eine Schrift ebenfalls
schon dann als unzüchtig, wenn sie objektiv geeignet ist, das Scham- und
Sittlichkeitsgefühl in geschlechtlicher Beziehung zu verletzen (SCHÖNKE,
7. Aufl. 556), ja es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sie nicht
geeignet zu sein braucht, geschlechtliche Lüsternheit zu erregen, sondern
dass sie durch die Art und den Gegenstand der Darstellung im normalen
Leser oder Beschauer auch Widerwillen oder Abscheu hervorrufen kann
(Leipziger Kommentar 6. und 7. Aufl. 2 109). Der Beschwerdeführer sagt
denn auch mit keinem Worte, aus welchen Gründen es sich rechtfertigen
könnte, von der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtes abzuweichen
und das geschlechtliche Schamgefühl normal empfindender Menschen schutzlos
zu lassen, wenn eine Darstellung nicht aufreizend wirkt.