Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 83 IV 187



83 IV 187

53. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 24. Oktober 1957
i.S. Killer gegen Staatsanwaltschaft des Mittellandes Bern. Regeste

    Art. 64 Abs.2 StGB. Begriff der schweren Bedrängnis.

Auszug aus den Erwägungen:

    Schwere Bedrängnis im Sinne des Art. 64 Abs. 2 StGB liegt nach
der Rechtsprechung des Kassationshofes nicht schon vor, wenn der
Täter in finanziell schlechten Verhältnissen lebt, sondern nur, wenn
eine notstandsähnliche Lage ihn zur Begehung der strafbaren Handlung
treibt, d.h. wenn die Bedrängnis einen besonders hohen Grad erreicht
und den Täter so beeindruckt, dass er einen Ausweg nur in der strafbaren
Handlung zu finden glaubt (Urteile vom 6. März 1953 i.S. Schär, 24. März
1954 i.S. Liembd und dort erwähnte frühere Entscheide).

    Das angefochtene Urteil geht davon aus, der Begriff der schweren
Bedrängnis setze eine von aussen geschaffene, schicksalshafte Notlage
voraus, die dann nicht gegeben sei, wenn der Täter wie im vorliegenden
Fall die schlechte finanzielle Lage zur Hauptsache selber verursacht
habe. Diese Auslegung hält vor dem Gesetz nicht stand. Erfahrungsgemäss
kommt es sehr selten vor, dass eine Notlage ausschliesslich auf äussere
Umstände zurückzuführen ist, ohne dass gleichzeitig der Bedrängte
durch sein eigenes Tun oder Unterlassen dazu beigetragen hätte. Dem
Strafmilderungsgrund der schweren Bedrängnis würde denn auch praktisch
jede Bedeutung genommen, wenn seine Anwendbarkeit auf Fälle beschränkt
bliebe, in denen das vom Willen des Betroffenen unabhängige Schicksal
als einzige Ursache der Notlage erscheint. Art. 64 StGB schliesst die
Annahme einer schweren Bedrängnis selbst dann nicht aus, wenn der Täter
sie selber verschuldet hat. Ähnlich verhält es sich beim Notstand, der
als solcher nicht davon abhängt, ob die Gefahr, in der der Täter handelt,
von ihm verschuldet sei; das Selbstverschulden bewirkt nur, dass anstelle
von Straflosigkeit Strafmilderung nach freiem Ermessen tritt (Art. 34
Ziff. 1 Abs. 2 StGB). Ebenso kann eine notstandsähnliche Lage objektiv
vorliegen und der Täter unter ihrem Eindruck gehandelt haben, wenn er sie
durch eigene vermeidbare Fehler (Müssiggang, Verschwendung, Spekulation
usw.) herbeigeführt hat. Damit ist nicht gesagt, dass die Verschuldung
der Bedrängnis keine Rolle spiele. Der Richter, der die Voraussetzungen
der schweren Bedrängnis als erfüllt betrachtet, ist nicht verpflichtet,
Art. 64 StGB anzuwenden, sondern er kann nach freiem Ermessen darüber
befinden, ob die Umstände eine Strafmilderung rechtfertigen (BGE 71 IV
80). Unter diesem Gesichtspunkt ist es dann erheblich, ob und inwieweit
der Täter die Notlage selber verschuldet hat.