Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 83 IV 163



83 IV 163

45. Urteil des Kassationshofes vom 21. Juni 1957 i.S. Polizeirichteramt
der Stadt Zürich gegen Dinkel. Regeste

    Art.25Abs. 1,26Abs. 3 MFG. Vorsichtspflicht des Führers, der ausserhalb
einer Strassenkreuzung oder -gabelung nach links abbiegt (Änderung der
Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Am 14. September 1956, um 19.50 Uhr, führte Frau Ella Dinkel-Otto
ihren linksgesteuerten Personenwagen in Zürich auf der Hönggerstrasse
stadteinwärts. Sie beabsichtigte, auf der Höhe des Hauses Nr. 101 nach
links abzubiegen, um zu der gegenüberliegenden Garage zu gelangen. Nachdem
sie in den Rückspiegel geblickt und dabei kein ihr folgendes Fahrzeug
festgestellt hatte, betätigte sie den linken Richtungsanzeiger, fuhr 20-30
m weiter und setzte die Geschwindigkeit auf ca. 20 km/Std. herab. Sodann
warf sie nochmals einen Blick in den Rückspiegel. Als sie kein Fahrzeug
von hinten herannahen sah, steuerte sie ihren Wagen links über die
Strasse. Dabei stiess sie mit dem Rollerfahrer Hans Vogel zusammen,
der in gleicher Richtung fuhr und im Begriff war, sie zu überholen.

    B.- Das Polizeirichteramt der Stadt Zürich büsste am 31.  Oktober 1956
Frau Dinkel wegen Übertretung von Art. 25 Abs. 1 MFG mit Fr. 15.-.

    Frau Dinkel verlangte gerichtliche Beurteilung.

    Am 9. Mai 1957 sprach sie der Einzelrichter in Strafsachen des
Bezirksgerichtes Zürich von Schuld und Strafe frei. Er nahm an, Frau
Dinkel habe ihrer Vorsichtspflicht genügt, indem sie rechtzeitig den
Richtungsanzeiger gestellt, die Geschwindigkeit herabgesetzt und zweimal
in den Rückspiegel geblickt habe. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung
verlange nicht, dass der links abbiegende Automobilist auch noch durch das
seitliche Wagenfenster nach rückwärts blicke. Dass sich der Rollerfahrer,
was nicht unwahrscheinlich sei, im sichttoten Winkel befunden habe,
ändere daran nichts.

    C.- Das Polizeirichteramt der Stadt Zürich führt Nichtigkeitsbeschwerde
mit dem Antrag, das Urteil des Einzelrichters in Strafsachen sei aufzuheben
und die Sache zur Bestrafung der Beschwerdegegnerin wegen Übertretung
von Art. 25 Abs. 1 MFG an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    D.- Frau Dinkel hat auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtes sind Stellen,
wo Garageeinfahrten, Privatwege udgl. mit der öffentlichen Strasse
zusammentreffen, nicht Strassenkreuzungen im Sinne des Art. 26 Abs. 3
MFG, an denen das Überholen verboten wäre (BGE 64 II 318, 76 IV 58, 78
IV 183). Wer an solchen Orten nach links abschwenken will, hat daher vor
einem nachfolgenden Fahrzeug nicht den Vortritt und muss alle Vorsicht
walten lassen, um einen Zusammenstoss zu vermeiden. Insbesondere hat
er die beabsichtigte Richtungsänderung rechtzeitig anzuzeigen, seine
Geschwindigkeit herabzusetzen und mit erhöhter Aufmerksamkeit den in
gleicher wie in entgegengesetzter Richtung sich bewegenden Verkehr zu
beobachten; er darf, wie der Führer, der auf der Strasse wenden will
(Art. 48 Abs. 3 MFV), sein Manöver erst ausführen, wenn er sicher sein
kann, damit die übrigen Strassenbenützer nicht zu gefährden (vgl. BGE 76
IV 58).

Erwägung 2

    2.- Unbestritten ist, dass die Beschwerdegegnerin ihre Absicht, nach
links abzubiegen, rechtzeitig zu erkennen gab, den Lauf ihres Fahrzeuges
mässigte und innert einer Strecke von ca. 30 m zweimal in den Rückspiegel
blickte, ein erstes Mal vor Betätigung des Richtungsanzeigers und sodann,
unmittelbar bevor sie nach links abbog. Dafür, dass sie es bei Beobachtung
der hinter ihr liegenden Strassenstrecke durch den Rückspiegel an der
erforderlichen Aufmerksamkeit hätte fehlen lassen, enthalten weder das
angefochtene Urteil noch die Akten sichere Anhaltspunkte. Die Tatsache,
dass Frau Dinkel den ihr folgenden Rollerfahrer nicht gesehen hat, lässt
sich demnach nur so erklären, dass dieser durch den zwischen Seiten- und
Rückfenster befindlichen Teil der Wagenwand verdeckt war. Vermittelte ihr
aber die Beobachtung durch den Rückspiegel kein vollständiges Bild der
tatsächlichen Verkehrslage, durfte sie sich nicht auf die so gemachte
Wahrnehmung verlassen. Zwar wurde in BGE 78 IV 184 ausgesprochen, dass
der Führer seiner Vorsichtspflicht genüge, wenn er vor dem Abbiegen nach
links ernsthaft durch den Rückspiegel beobachte. Daran kann indessen
nach erneuter Prüfung nicht festgehalten werden. Bei dem sog. sichttoten
Winkel handelt es sich um ein in der Bauart des Fahrzeuges liegenden
Faktor, den der Führer zum vorneherein in Rechnung zu stellen hat. Es
geht nicht an, das Verborgenbleiben eines nachfolgenden Fahrzeuges
dem Zufall zuzuschreiben und die sich aus dem toten Winkel ergebenden
Risiken auf andere Strassenbenützer abzuwälzen. Wer links abbiegen
will, hat als Vortrittsbelasteter selbst dafür zu sorgen, dass solche
Gefahren ausgeschaltet werden. Ob das in der Weise zu geschehen habe,
dass der Fahrzeuglenker vor Ausführung des Manövers ausser durch den
Rückspiegel auch durch das seitliche Fenster beobachtet, lässt sich nicht
allgemein entscheiden. Zwar sind Fälle denkbar, bei denen diese Vorkehr
genügt, um dem Führer die Sicherheit zu geben, dass er ohne Störung des
Verkehrs nach links abbiegen kann. Immer aber wird eine solche Massnahme
nicht zureichende Gewähr dafür bieten, dass ihm nicht ein von hinten
herannahendes Fahrzeug verborgen bleibt, ganz abgesehen davon, dass bei
rechtsgesteuerten Wagen eine Beobachtung durch das linke Seitenfenster
unzumutbar und unzweckmässig wäre. Je nach der Verkehrslage, der Weite
des durch die Bauart des Fahrzeuges bedingten toten Winkels und der
Steuerung des Wagens wird demnach der Führer in unterschiedlicher Weise
(z.B. langsames Fahren über eine angemessene Strecke unter ständiger
Beobachtung nach vorne und rückwärts, zusätzliche Beobachtung des Verkehrs
durch einen Mitfahrer, Einschalten eines Sicherheitshalts udgl.) vorgehen
müssen, um seiner Vorsichtspflicht zu genügen.

    Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdegegnerin vor dem Abbiegen
nach links zweimal in den Rückspiegel geblickt, im übrigen aber nichts
vorgekehrt, um die sich aus dem toten Winkel ergebenden Gefahren zu
beheben. Hätte sie den für ihr Manöver in Betracht fallenden Verkehr
so aufmerksam beobachtet, wie sie es als Vortrittsbelastete unter den
gegebenen Umständen zu tun verpflichtet war, hätte sie den ihr folgenden
Rollerfahrer rechtzeitig wahrnehmen und einen Zusammenstoss vermeiden
können. Das hat sie nicht getan, weswegen sie nach Art. 25 Abs. 1 MFG zu
bestrafen ist.

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Einzelrichters in Strafsachen des Bezirksgerichts Zürich vom 9. Mai 1957
aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen
an die Vorinstanz zurückgewiesen.