Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 83 IV 151



83 IV 151

40. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 11. Juli 1957
i.S. Kollbrunner gegen Merk und Christen. Regeste

    Art.177Abs.2 StGB. Wann ist eine Beschimpfung "unmittelbar" auf eine
Provokation erfolgt?

Sachverhalt

                     Aus dem Tatbestand:

    Kollbrunner geriet anlässlich seiner Ehescheidung mit seinen
bisherigen Freunden Merk und Christen in Streit. In der Folge führte jede
Seite gegen die andere einen Ehrverletzungsprozess. Im zweiten dieser
Verfahren machte ein Vetter Kollbrunners eine für dessen Prozessgegner
günstige Zeugenaussage. Am folgenden Tag richtete Kollbrunner ein
Schreiben an seinen Vetter, worin er dessen Stellungnahme tadelte und
Merk und Christen unter Hinweis auf deren Machenschaften als "Schufte"
bezeichnete. Kollbrunner wurde wegen dieses Ausdrucks der Beschimpfung
schuldig erklärt und zu einer Busse verurteilt. Mit Nichtigkeitsbeschwerde
beruft er sich unter anderem darauf, im Verhalten seiner Prozessgegner
liege eine Provokation im Sinne des Art. 177 Abs. 2 StGB.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

    Gemäss Art. 177 Abs. 2 StGB kann der Richter den Täter von Strafe
befreien, wenn der Beschimpfte durch sein ungebührliches Verhalten zu
der Beschimpfung unmittelbar Anlass gegeben hat.

    Voraussetzung der Strafbefreiung ist, dass die Beschimpfung durch
ein verwerfliches Verhalten des Beschimpften hervorgerufen wurde und
dass sie unmittelbar auf die Provokation erfolgt ist. Das Merkmal der
Unmittelbarkeit ist zeitlich zu verstehen, und zwar in dem Sinne, dass
der Täter in der durch das ungebührliche Verhalten erregten Gemütsbewegung
handelt, ohne dass er Zeit zu ruhiger Überlegung hat. Der französische und
italienische Text, der im Gegensatz zum deutschen das Wort unmittelbar
("immédiatement", "immediatamente") nur in Abs. 3 verwendet, in Abs. 2
hingegen den Ausdruck "directement" bzw. "direttamente" gebraucht, führt
zu keiner andern Auslegung. Hätte sich der Gesetzgeber auf das Erfordernis
des Kausalzusammenhangs zwischen Provokation und Beschimpfung beschränken
wollen, wie der Beschwerdeführer annimmt, so hätten im deutschen Text
schon die Worte "Anlass gegeben" genügt. Aus dem Wort "unmittelbar"
muss geschlossen werden, dass mehr als das verlangt werden wollte. Darauf
weist vor allem auch die Überlegung, dass die Ermächtigung des Richters,
den Täter von Strafe zu befreien, kaum anders gerechtfertigt werden kann,
als insbesondere dadurch, dass der Provozierte in einem Erregungszustand
gehandelt hat und deshalb für seine Tat nicht voll verantwortlich
erscheint. Wird die Tat überlegt begangen, so bieten Art. 63 und 64
StGB genügend Raum, der Provokation bei der Strafzumessung angemessen
Rechnung zu tragen. Es wäre auch nicht einzusehen, weshalb in Abs. 2 die
Unmittelbarkeit nicht gefordert sein sollte, während im Fall der Retorsion
(Abs. 3), welche ebenfalls eine Provokation - in Form einer Beschimpfung -
voraussetzt, die Reaktion eine unmittelbare sein muss, damit Straflosigkeit
eintreten kann.

    Dass der Brief des Beschwerdeführers unmittelbare Reaktion auf das
Verhalten seiner Gegner gewesen sei, wird mit Recht nicht geltend gemacht.
Der Beschwerdeführer hat in der Untersuchung selber erklärt, er habe den
Brief ruhig und überlegt, nicht im Affekt geschrieben. Somit kann er sich
nicht auf Art. 177 Abs. 2 StGB berufen.