Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 83 II 272



83 II 272

40. Urteil der II. Zivilabteilung vom 6. Juni 1957 i.S. S. gegen
Bezirksrat Zürich. Regeste

    Entmündigung wegen lasterhaften Lebenswandels (Art. 370 ZGB) im Falle
der Prostitution?

Sachverhalt

    Die im Jahre 1932 geborene Beklagte lernte nach der Entlassung aus der
Primarschule keinen Beruf. Sie arbeitete als Hilfskraft in verschiedenen
Branchen und wechselte häufig die Stelle. Im Jahre 1951 wurde sie von
einem verheirateten Kriminellen geschwängert. Auf Grund eines Gutachtens
der Psychiatrischen Universitäts-Poliklinik Zürich vom 7. August 1951 wurde
diese Schwangerschaft unterbrochen. Am 12. August 1952 gebar die Beklagte
ein Kind, als dessen Vater sie den nach ihren Angaben liederlichen,
arbeitsscheuen und zeitweise trunksüchtigen M. bezeichnete. In einem von
der Vormundschaftsbehörde der Stadt Zürich eingeholten Ergänzungsgutachten
vom 20. September 1952 kam die Psychiatrische Universitäts-Poliklinik
zum Schluss, die Beklagte leide an einem Schwachsinn vom Ausmass
einer Debilität und an schweren Charakterschwächen und -abnormitäten
und bedürfe deswegen des Schutzes und der Führung, um sozial und vor
allem sittlich nicht noch weiter zu verwahrlosen. Über diese Gefahr
führt das Gutachten u.a. aus, die Beklagte sei vergnügungssüchtig und
verschwenderisch, habe Umgang mit Kriminellen, Haltlosen und Dirnen
und treibe sich in Dancings und Bars herum. Die Vormundschaftsbehörde
beantragte daraufhin dem Bezirksrate Zürich, die Beklagte (welche die
ihr gemachten Vorhalte bestritt oder bagatellisierte) gemäss Art. 369
und 370 ZGB wegen Geistesschwäche und liederlichen Lebenswandels zu
entmündigen. Mit Beschluss vom 24. April 1953 entmündigte sie der
Bezirksrat gemäss Art. 369 ZGB wegen Geistesschwäche. Sie auch gemäss
Art. 370 ZGB zu entmündigen, lehnte er ab, weil ihre Liederlichkeit ein
Ausfluss ihrer Geistesschwäche und zudem nicht so schwerwiegend sei, dass
sie die Anwendung dieser Bestimmung zu rechtfertigen vermöchte. Nach
Zustellung dieses Beschlusses stellte die Beklagte das Begehren um
gerichtliche Beurteilung, worauf der Bezirksrat die Vormundschaftsbehörde
anwies, auf Bestätigung der Entmündigung zu klagen.

    Diese Klage wurde am 1. März 1954 eingeleitet, nachdem neue
Erkundigungen der Vormundschaftsbehörde ergeben hatten, dass die - seit dem
1. Juni 1953 verheiratete - Interdizendin sich der gewerbsmässigen Unzucht
hingab. Mit Urteil vom 22. April 1955 sprach das Bezirksgericht Zürich die
Entmündigung gestützt auf Art. 369 und 370 ZGB aus. Das Obergericht des
Kantons Zürich hat diesen Entscheid am 4. Dezember 1956 mit der Abänderung
bestätigt, dass es nur Art. 370 ZGB zur Anwendung brachte. Das Vorliegen
einer Geistesschwäche im Sinne von Art. 369 ZGB verneinte es auf Grund
eines Gutachtens von Dr. med. W. vom 17. November 1956.

    Mit der vorliegenden Berufung an das Bundesgericht beantragt die (heute
geschiedene) Beklagte wie im kantonalen Verfahren Abweisung der Klage.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Angesichts des von der Vorinstanz als schlüssig gewürdigten
Gutachtens von Dr. W. hat sich der Kläger mit Recht damit abgefunden,
dass die Vorinstanz es abgelehnt hat, die Beklagte wegen Geistesschwäche
im Sinne von Art. 369 ZGB zu entmündigen. Streitig ist also nur noch, ob
die Entmündigung wegen lasterhaften Lebenswandels im Sinne von Art. 370
ZGB gerechtfertigt sei oder nicht.

Erwägung 2

    2.- Die Beklagte hat sich nach den für das Bundesgericht massgebenden
tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz von 1953 bis in das Jahr
1956 als Dirne betätigt und dieses Gewerbe namentlich vom Oktober 1954
an "hemmungslos" ausgeübt. Sie hat also zweifellos einen lasterhaften
Lebenswandel im Sinne von Art. 370 ZGB geführt. Für die Zeit nach
dem 23. April 1956, d.h. für die Zeit nach dem Verhör der Zeugen,
die bestätigten, dass die Beklagte häufig Männerbesuche empfangen
habe, ist jedoch nicht festgestellt, dass die Beklagte sich weiterhin
der Gewerbsunzucht hingegeben habe. Die Vorinstanz billigt ihr im
Gegenteil zu, dass ihr Lebenswandel, soweit er auf Grund der Akten
bekannt sei, sich heute nicht mehr in der "abgründigen Tiefe" bewege
wie früher. Aus der im angefochtenen Urteil erwähnten Tatsache, dass
sie am 17. September 1956 von der Sittenpolizei festgenommen wurde,
die sie dann dem Gutachter Dr. W. zuführte, zieht die Vorinstanz nicht
den Schluss, dass die Beklagte damals wiederum im Begriffe gewesen sei,
sich zu prostituieren. Dass die Beklagte sich nur unter dem Drucke des
Entmündigungsverfahrens vorübergehend etwas besser gehalten habe, stellt
die Vorinstanz nicht fest. Unter diesen Umständen konnte ihr zur Zeit
der Fällung des vorinstanzlichen Urteils nicht mehr vorgeworfen werden,
dass sie einen lasterhaften Lebenswandel führe. Der geltend gemachte
Entmündigungsgrund war also in dem für die Beurteilung der vorliegenden
Berufung massgebenden Zeitpunkte nicht gegeben. Hiebei bliebe es übrigens
auch dann, wenn es nach dem Frühjahr 1956 noch zu vereinzelten Fehltritten
gekommen wäre; denn von lasterhaftem Lebenswandel kann nur die Rede sein,
wenn eine Person sich gewohnheitsmässig einem Laster hingibt.

Erwägung 3

    3.- Die Entmündigung wegen lasterhaften Lebenswandels im Sinne von Art.
370 ZGB könnte aber auch dann nicht bestätigt werden, wenn man mit dem
Kläger annähme, vom Antragsteller könne aus praktischen Gründen nicht
verlangt werden, dass er die Fortdauer des lasterhaften Lebenswandels
bis zum Erlass des Urteils der letzten kantonalen Instanz beweise,
oder sogar davon ausginge, eine während des Entmündigungsverfahrens
tatsächlich eingetretene Besserung im Verhalten des Interdizenden
sei nach der Lebenserfahrung gewöhnlich nicht von Dauer und deshalb
unerheblich. Denn der lasterhafte Lebenswandel kann nach Art. 370 ZGB nur
dann zur Entmündigung führen, wenn die betreffende Person sich oder ihre
Familie dadurch der Gefahr eines Notstandes oder der Verarmung aussetzt
oder wenn sie deswegen zu ihrem Schutze dauernd des Beistandes und der
Fürsorge bedarf oder die Sicherheit anderer gefährdet, und von diesen
Voraussetzungen ist im vorliegenden Falle keine erfüllt.

    a) Von einer Gefährdung der Sicherheit anderer könnte, wie sich aus
BGE 46 II 210 Erw. 3 ergibt, nur gesprochen werden, wenn die Beklagte
bei der Ausübung ihres Gewerbes Delikte begangen hätte, wofür keine
Anhaltspunkte vorliegen.

    b) Dass die Beklagte wegen ihres Lebenswandels zu ihrem Schutze
in anderer als ökonomischer Beziehung des Beistandes und der Fürsorge
bedürfe, die ihr ein Vormund gewähren könnte, hat die Vorinstanz mit
Recht nicht angenommen. Die Frage aber, ob sie aus dem genannten Grunde in
ökonomischer Beziehung schutzbedürftig sei, fällt mit der Frage zusammen,
ob sie sich durch ihren Lebenswandel der Gefahr eines Notstandes oder
der Verarmung aussetze.

    c) Diese Gefahr ist bei einer Person, die einen lasterhaften
Lebenswandel führt, nicht schon deswegen als vorhanden anzusehen, weil
bei einem solchen Verhalten ganz allgemein die Möglichkeit des Versinkens
in Not und Armut besteht. Vielmehr ist erforderlich, dass die besondern
Umstände des konkreten Falles eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür
begründen, dass diese Möglichkeit sich verwirklichen werde. Die Tatsachen,
die diesen Schluss rechtfertigen, sind wie diejenigen, die den lasterhaften
Lebenswandel als solchen dartun, vom Antragsteller nachzuweisen (vgl. BGE
44 II 231, letzter Satz der Erwägungen).

    Was hienach für den Fall des lasterhaften Lebenswandels im allgemeinen
gilt, ist auch im Falle der Prostitution massgebend. Man kann (zumal
seitdem die Gefahr der venerischen Erkrankung sich stark vermindert
hat) nicht mit Grund behaupten, es spreche eine Vermutung dafür, dass
weibliche Prostituierte nach verhältnismässig kurzer Zeit verarmen oder
in Not geraten, und diese Vermutung sei so stark, dass die Gefahr eines
Notstandes oder der Verarmung ohne weiteres zu bejahen sei, wenn keine
Tatsachen nachgewiesen werden, die diese Gefahr ausschliessen. BGE 46 II
210 Erw. 2 hat nicht diesen Sinn. Wenn in BGE 46 II 343 Erw. 4 bemerkt
wurde, es bestehe "keine Gewähr" dafür, dass die Interdizendin nicht,
"wie die Prostituierten im allgemeinen", in Not gerate, so war dies nicht
der einzige Grund dafür, dass dort die in Frage stehende Voraussetzung der
Entmündigung als gegeben erachtet wurde. Vielmehr wies das Bundesgericht
ausserdem darauf hin, dass die Interdizendin an einer Lungenkrankheit litt.
Man hatte es also damals mit einer gesundheitlich besonders gefährdeten
Prostituierten zu tun.

    Im vorliegenden Falle liegt nichts vor, was erlauben würde, eine
konkrete Gefahr als vorhanden anzunehmen. Zwar sagt die Vorinstanz, die
Beklagte verstehe es nicht, "dem Geld Sorge zu tragen". Allein einerseits
hat dies mit der Prostitution nichts zu tun, und anderseits liegt dieser
Würdigung keinerlei Feststellung über bestimmte Tatsachen zugrunde, die
sie rechtfertigen könnten. Dem Urteil und den Akten ist nur zu entnehmen,
dass die Beklagte Bedürfnisse hatte, die sie aus dem Haushaltungsgeld
nicht bestreiten konnte. Davon aber, dass sie Schulden gemacht oder die
Armenbehörden in Anspruch genommen habe, verlautet nichts.

    Ihre Entmündigung ist daher nicht gerechtfertigt.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des
Kantons Zürich, II. Zivilkammer, vom 4. Dezember 1956 aufgehoben und die
Klage abgewiesen.