Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 83 III 92



83 III 92

25. Entscheid vom 5. Dezember 1957 i.S. BIMAG. Regeste

    Rekurs an das Bundesgericht. Beginn der Rekursfrist (Art.  19 SchKG,
Art. 77 Abs. 2 OG) bei Zustellung des angefochtenen Entscheides an einen
Postfachinhaber, der aus wichtigen Gründen verhindert ist, der Einladung
zur Abholung der Sendung am Postschalter sogleich Folge zu leisten.

    Grundpfandversteigerung. Der Titular einer ins Lastenverzeichnis
aufgenommenen, von einem andern Gläubiger durch noch hängige Klage
bestrittenen fälligen Pfandforderung kann (wenigstens für sich allein)
nicht wirksam auf die Barzahlung verzichten (Art. 47 VZG).

Sachverhalt

    A.- In einer Betreibung auf Grundpfandverwertung, die Corrodi
als Pfandgläubiger im Rang I a gegen Bruno Lüthy führt, stellte
das Betreibungsamt Olten-Gösgen den Beteiligten am 22. Juni 1957 das
Lastenverzeichnis zu. Darin ist angegeben, dass Corrodi als Titular der
Grundpfandverschreibung im Rang I a Fr. 268'304.70 und als Gläubiger
mit Faustpfandrecht an dem im Rang I b stehenden Inhaberschuldbrief
über Fr. 110'000.-- weitere Fr. 71'326.10 fordere (Gesamtforderung also
Fr.339'630.80). Als Inhaber eines Nachpfandrechts für Fr. 102'218.20 an
diesem Schuldbrief ist Rudolf Lüthy aufgeführt.

    Mit Schreiben vom 1. Juli 1957 teilte Rudolf Lüthy dem Betreibungsamte
mit, er anerkenne die Forderungen Corrodis nur bis zum Betrag von Fr.
307'290.05; für den Mehrbetrag von Fr. 32'340.75 bestreite er sie. Hierauf
setzte ihm das Betreibungsamt Frist zur Klage gegen Corrodi auf Aberkennung
des bestrittenen Forderungsbetrages. Am 9. Juli 1957 wurde diese Klage beim
Richteramt Olten-Gösgen eingeleitet. Der Prozess ist heute noch hängig.

    B.- Am 18. Juli 1957 wurde die Pfandliegenschaft versteigert. Die
Steigerungsbedingungen schrieben gemäss Art. 156 und 135 SchKG sowie
Art. 102 und 46 VZG die Barzahlung der fälligen Pfandforderungen vor,
zu denen die Forderungen Corrodis gemäss Lastenverzeichnis gehörten, und
wiesen auf den von Rudolf Lüthy gegen Corrodi angehobenen Prozess hin. Den
Zuschlag erhielt zu Fr. 515'000.-- die BIMAG Bau- und Immobilien-AG

    C.- Corrodi verzichtete auf die Barzahlung seiner Forderungen und
stimmte der Schuldübernahme durch die Erwerberin der Pfandliegenschaft
zu. Rudolf Lüthy verlangte dagegen, dass die Erwerberin aufgefordert
werde, den streitigen Betrag von Fr. 32'340.75 beim Betreibungsamt zu
hinterlegen. Als die Erwerberin das telephonische Ersuchen des Amtes,
diesen Betrag bei ihm einzuzahlen, unter Berufung auf die Zustimmung
Corrodis zur Überbindung der ganzen Schuld ablehnte, teilte das Amt der
Erwerberin mit Schreiben vom 23. August 1957 mit, vor der Erledigung des
hängigen Prozesses dürfe der streitige Betrag bei Gefahr der Doppelzahlung
nur an das Amt ausbezahlt werden. Da Rudolf Lüthy sich damit nicht
zufrieden gab, setzte es ihm am 10. September 1957 eine Frist von 10 Tagen
zur Beschwerde. Innert dieser Frist führte Rudolf Lüthy Beschwerde mit
dem Begehren, das Betreibungsamt sei anzuweisen, die Erwerberin unter
Androhung der Aufhebung des Zuschlags aufzufordern, den bestrittenen
Betrag von Fr. 32'340.75 beim Betreibungsamt zu hinterlegen.

    D.- Unter Hinweis auf diese Beschwerde forderte das Betreibungsamt
die Erwerberin mit Schreiben vom 25. September 1957 "nochmals auf, den
Betrag von Fr. 32'340.75 beim Betreibungsamt Olten innert 10 Tagen zu
zahlen, um damit eine eventuelle Aufhebung des Steigerungszuschlags zu
verhindern". Hierauf führte die Erwerberin ihrerseits Beschwerde mit dem
Begehren, diese Aufforderung sei aufzuheben.

    E.- Am 11. Oktober 1957 hiess die kantonale Aufsichtsbehörde die
Beschwerde Rudolf Lüthys gut. Auf die Beschwerde der Erwerberin trat
sie nicht ein, weil das Schreiben des Amtes vom 25. September 1957 keine
Verfügung enthalte, bemerkte aber in den Erwägungen, dass diese zweite
Beschwerde abgewiesen werden müsste, wenn darauf einzutreten wäre.

    F.- Mit ihrem am 11. November 1957 zur Post gegebenen Rekurs an das
Bundesgericht beantragt die Erwerberin:

    1. Es sei der Entscheid der Aufsichtsbehörde ... aufzuheben wegen
Rechtsverweigerung gemass Art. 4 BV.

    2. Es sei die Aufsichtsbehörde ... bezw. das Betreibungsamt
Olten-Gösgen anzuweisen, die verlangte Deponierung der Fr. 32'340.75
aufzuheben.

    Nach einem Berichte des Postamtes Zürich-Hauptbahnhof ist der gemäss
Poststempel am 29. Oktober 1957 abgesandte eingeschriebene Brief, der den
angefochtenen Entscheid enthielt, am 30. Oktober um 8 Uhr beim erwähnten
Postamt eingetroffen. Der Rekurrentin wurde unverzüglich eine Einladung
zur Abholung dieser Sendung ins Postfach gelegt. Dieser Einladung kam
die Rekurrentin erst am 1. November 1957 um 9 Uhr nach. Als Grund hiefür
gibt sie an, Geisser, ihr einziger Geschäftsführer, sei an Grippe erkrankt
gewesen. Sie legt ein ärztliches Zeugnis vor, wonach Geisser wegen Grippe
vom 29. bis 31. Oktober 1957 "streng bettlägerig" war.

Auszug aus den Erwägungen:

    Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 19 SchKG kann ein gesetzwidriger Entscheid einer
kantonalen Aufsichtsbehörde binnen zehn Tagen seit dessen Mitteilung
an das Bundesgericht weitergezogen werden. Art. 77 Abs. 2 OG bestimmt,
das Datum der Zustellung sei festzustellen und für den Beginn der
Rekursfrist massgebend. Unter Mitteilung bezw. Zustellung ist nach dem
gewöhnlichen Sprachgebrauch grundsätzlich die tatsächliche Aushändigung
der den Entscheid enthaltenden Sendung an den Adressaten oder eine
andere zu ihrer Entgegennahme berechtigte Person zu verstehen. Im
Falle, dass eine eingeschriebene Postsendung in der Wohnung oder im
Geschäft des Adressaten nicht abgegeben werden kann, weil bei den beiden
vorgeschriebenen Zustellungsversuchen keine empfangsberechtigte Person
angetroffen wird, und der Postbote deshalb eine Einladung zur Abholung der
Sendung bei der Poststelle hinterlässt (vgl. hiezu heute Art. 104 Abs. 2
der Vollziehungsverordnung I vom 23. Dezember 1955 zum Postverkehrsgesetz),
stellt die Rechtsprechung denn auch nicht auf den Zeitpunkt ab, da die
Einladung zur Abholung in den Briefkasten gelegt wird, sondern auf das
Datum, an dem die Sendung tatsächlich abgeholt wird (BGE 74 I 88, 80 IV
204). In BGE 74 I 88 wurde ein Vorbehalt nur für den Fall gemacht, dass
der Adressat es versäumt, die Sendung innert kurzer Frist abzuholen, und
in BGE 80 IV 204 wurde erklärt, die Rechtsmittelfrist werde jedenfalls
dann erst durch die tatsächliche Abholung in Gang geset-zt, wenn der
Empfänger der Sendung der Einladung hiezu rechtzeitig (d.h. innert der
gemäss Postordnung geltenden, in der Einladung anzugebenden Frist von vier
Tagen) Folge leiste. Ebenso betrachtet das Bundesgericht grundsätzlich die
tatsächliche Aushändigung der Sendung als massgebend, wenn die Zustellung
am Domizil wegen vorübergehender Abwesenheit des Adressaten erst beim
zweiten Versuch gelingt (BGE 78 I 129).

    In Fällen der Zustellung einer eingeschriebenen Sendung an einen
Postfachinhaber hat das Bundesgericht demgegenüber entschieden, die
Sendung habe als an dem Tage zugestellt zu gelten, an welchem die
Anzeige von ihrem Eingang ins Fach gelegt wird, vorausgesetzt, dass
dies vor Schalterschluss geschieht und der Adressat so die Möglichkeit
erhält, die Sendung noch am betreffenden Tage abzuholen (BGE 46 I 63,
55 III 170, 61 II 134, 74 I 15 und 88, 78 I 325). In BGE 78 I 325 wurde
aber immerhin einschränkend bemerkt, bei Beurteilung der Frage, ob diese
letzte Voraussetzung zutreffe, sei auf die ordentlichen Öffnungszeiten,
die zur Bedienung geschäftlicher Unternehmungen vorgesehen sind,
abzustellen; ausserordentliche Öffnungszeiten, mit denen etwa nachts
oder an Feiertagen die Abholung dringlicher Sendungen ermöglicht wird,
seien nicht in Betracht zu ziehen (vgl. auch schon BGE 74 I 16, wo
geprüft wurde, ob die Anzeige als noch während der üblichen Geschäftszeit
erfolgt angesehen werden könne). Darüber hinaus ist festzustellen, dass
die Zustellung auch dann nicht als schon mit der Einlegung der Anzeige
ins Postfach vollzogen gelten kann, wenn dessen Inhaber aus wichtigen
Gründen verhindert war, die Sendung noch am gleichen Tage vor Ende der
ordentlichen Öffnungszeit des Schalters abzuholen. In diesem Falle, mit
dem sich die Rechtsprechung bisher noch nicht zu befassen hatte, entsteht
die Möglichkeit zur Abholung der Sendung, auf die es nach der Praxis bei
der Zustellung eingeschriebener Sendungen an Postfachinhaber ankommt, erst
mit dem Wegfall des Hindernisses. Frühestens in diesem Zeitpunkte kann
also die Zustellung als erfolgt angesehen werden. Ohne Rücksicht auf die
für den Fachinhaber bestehende Abhaltung den Zeitpunkt der Einlegung der
Anzeige ins Fach als massgebend zu betrachten, ist umso weniger angängig,
als in den Fällen, wo der Adressat einer an die Wohn- oder Geschäftsadresse
gerichteten Sendung bei beiden vorgeschriebenen Zustellungsversuchen oder
beim ersten derselben nicht angetroffen wird, die Rechtsmittelfrist nach
den im ersten Absatz dieser Erwägung angeführten Entscheiden in der Regel
überhaupt erst mit der tatsächlichen Aushändigung der Sendung beginnt.

    Im vorliegenden Falle ist hinlänglich dargetan, dass die Rekurrentin
die Sendung, die den angefochtenen Entscheid enthielt, nicht vor dem
1. November 1957 am Schalter abholen konnte. Der am 11. November 1957
zur Post gegebene Rekurs ist daher als rechtzeitig zu betrachten.

Erwägung 2

    2.- Der Rekurrentin ist darin Recht zu geben, dass das Schreiben des
Betreibungsamtes vom 25. September 1957, das sie zur Einzahlung des Betrags
von Fr. 32'340.75 aufforderte, eine Verfügung im Sinne von Art. 17 Abs. 1
SchKG darstellte, die durch Beschwerde angefochten werden konnte. Der
Nichteintretensentscheid der Vorinstanz bedeutete eine Rechtsverweigerung
im Sinne der - in Ausführung des von der Rekurrentin angerufenen Art. 4
BV erlassenen - Bestimmung von Art. 19 Abs. 2 SchKG (BGE 80 III 96, 82 III
151). Die Sache zur materiellen Beurteilung der Beschwerde der Rekurrentin
an die Vorinstanz zurückzuweisen, erübrigt sich jedoch, weil die Vorinstanz
die durch diese Beschwerde aufgeworfene Frage bei Behandlung der Beschwerde
Rudolf Lüthys materiell geprüft und unter Hinweis auf die betreffenden
Erwägungen erklärt hat, die Beschwerde der Rekurrentin müsste im Falle
des Eintretens als unbegründet abgewiesen werden, so dass in Wirklichkeit
bereits ein materieller Entscheid über diese Beschwerde vorliegt.

Erwägung 3

    3.- Nach dem Lastenverzeichnis und den Steigerungsbedingungen
waren die von Corrodi angemeldeten Pfandforderungen der Ränge I a
und I b innert 20 Tagen seit der Steigerung bar zu bezahlen. Will der
Ersteigerer eine bar zu bezahlende Pfandforderung auf andere Weise tilgen
(z.B. durch Schuldübernahme oder Novation), so darf das Betreibungsamt
dies nach Art. 47 VZG nur berücksichtigen, wenn ihm innerhalb der in
den Steigerungsbedingungen für die Zahlung festgesetzten oder durch
Zustimmung sämtlicher Beteiligter verlängerten Frist eine Erklärung des
Gläubigers über dessen anderweitige Befriedigung vorgelegt wird. Unter
dem Gläubiger kann dabei nur die Person verstanden werden, deren
Eigenschaft als Gläubiger der in Frage stehenden Pfandforderung für
das im Gang befindliche Betreibungsverfahren endgültig feststeht. Wird
eine ins Lastenverzeichnis aufgenommene Pfandforderung von einem andern
Gläubiger bestritten, so kann derjenige, der sie angemeldet hat, die
in Art. 47 VZG vorgesehene Erklärung nicht wirksam abgeben, bevor das
Lastenbereinigungsverfahren zu seinen Gunsten erledigt ist. Auf jeden Fall
kann er dies nicht ohne Zustimmung des Bestreitenden tun. Im vorliegenden
Falle hat der Nachpfandgläubiger Rudolf Lüthy die Forderungen Corrodis
für den Betrag von Fr. 32'340.75 bestritten und schwebt über diese
Teilforderung heute noch ein Prozess. In den Steigerungsbedingungen,
die vor der Steigerung verlesen wurden, waren diese Bestreitung und der
hängige Prozess ausdrücklich erwähnt. Corrodi konnte daher die Rekurrentin
von der Pflicht zur Barzahlung des erwähnten Betrages innert der in den
Steigerungsbedingungen festgesetzten Frist nicht wirksam befreien, wovon
sich die Rekurrentin bei gehöriger Aufmerksamkeit Rechenschaft geben
konnte. Eine Erklärung des bestreitenden Nachpfandgläubigers Rudolf
Lüthy, mit der dieser auch seinerseits auf die Barzahlung verzichtet
hätte, liegt nicht vor. Die Vorinstanz hat daher mit Recht angenommen,
dass die Rekurrentin den streitigen Betrag bei Gefahr der Aufhebung des
Zuschlages einzuzahlen habe.

Entscheid:

       Demnach erkennt die Schuldbetr.- u. Konkurskammer:

    Der Rekurs wird abgewiesen.