Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 82 IV 82



82 IV 82

17. Urteil des Kassationshofes vom 29. Juni 1956 i.S. Willi gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau. Regeste

    Art. 43 Ziff. 5 Abs. 2 StGB. Umstände, die es rechtfertigen, die
Strafe (teilweise) zu vollziehen, insbesondere wenn der Verurteilte eine
verhältnismässig lange Zeit in der Arbeitserziehungsanstalt verbrachte.

Sachverhalt

    A.- Das Kriminalgericht des Kantons Aargau verurteilte am 13. Dezember
1950 Traugott Willi wegen gewerbsmässigen Diebstahls (Art. 137 Ziff. 1
und 2 StGB) und wegen Unzucht mit Kindern (Art. 191 Ziff. 1 und 3
StGB) zu sechzehn Monaten Gefängnis, abzüglich 134 Tage erstandener
Untersuchungshaft, schob den Vollzug der Strafe auf und wies den
Verurteilten auf unbestimmte Zeit in eine Arbeitserziehungsanstalt ein
(Art. 43 StGB). Die Massnahme wurde ab 14. Dezember 1950 in der Anstalt
Witzwil vollzogen. Am 18. Mai 1952 wurde Willi bedingt entlassen. Da
er während der Probezeit Diebstähle beging, wurde er am 19. Januar 1954
in die Anstalt zurückversetzt. Die Justizdirektion des Kantons Aargau
entliess ihn am 9. März 1955 neuerdings bedingt, wobei sie ihm eine
Probezeit von zwei Jahren ansetzte, ihn unter Schutzaufsicht stellte
und ihm die Weisung erteilte, während der Probezeit keinen Alkohol zu
geniessen. Auch diese Bewährungsprobe bestand Willi nicht. Er wurde am
21. September 1955 vom Statthalteramt Hochdorf wegen Wirtschaftskandals
und Sachbeschädigung (begangen am 16. August 1955) mit Fr. 40.- gebüsst,
am 22. November 1955 vom Bezirksgericht Kulm wegen wiederholten Diebstahls
(begangen am 11. Oktober 1955) und am 17. Januar 1956 vom gleichen Gericht
wegen einfacher Körperverletzung (begangen am 29. Oktober 1955) zu zwei
Monaten bzw. einer Woche Gefängnis verurteilt.

    Im Hinblick auf diese Verfehlungen beantragte die Staatsanwaltschaft
des Kantons Aargau dem Kriminalgericht, die Hälfte der am 13. Dezember
1950 ausgefällten Gefängnisstrafe vollziehen zu lassen (Art. 43 Ziff. 5
Abs. 2 StGB).

    B.- Am 23. Mai 1956 beschloss das Kriminalgericht, von der am
13. Dezember 1950 ausgefällten Gefängnisstrafe seien noch vier Monate
zu vollziehen.

    C.- Willi führt gegen diesen Entscheid Nichtigkeitsbeschwerde nach
Art. 268 ff. BStP mit dem Antrag, er sei aufzuheben und das Kriminalgericht
anzuweisen, vom Vollzug der am 13. Dezember 1950 verhängten Gefängnisstrafe
abzusehen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

    Der Beschwerdeführer hat während der ihm nach Art. 43 Ziff. 5 Abs. 1
StGB angesetzten Probezeit Verbrechen und Vergehen begangen. Gemäss
Art. 43 Ziff. 5 Abs. 2 StGB hat der Richter daher zu bestimmen, ob
und wieweit die am 13. Dezember 1950 ausgesprochene Gefängnisstrafe,
deren Vollzug wegen der Einweisung in die Arbeitserziehungsanstalt
aufgeschoben wurde, zu vollziehen sei. Im Gesetz wird die Möglichkeit,
in solchen Fällen von der Anordnung des Strafvollzuges abzusehen, in
den Vordergrund gestellt. Dass diese Reihenfolge indessen nur sprachlich
bedingt ist und der Richter dadurch keineswegs angewiesen werden wollte,
in Zweifelsfällen eher von der Anordnung des Strafvollzuges abzusehen,
ergibt sich ohne weiteres aus der Entstehungsgeschichte und dem wahren
Sinn der in Frage stehenden Bestimmung. Nach der bis zum 4. Januar 1951
geltenden Fassung des Art. 43 Ziff. 5 Abs. 2 StGB war die Strafe stets zu
vollziehen, wenn der bedingt aus der Arbeitserziehungsanstalt Entlassene
während der Probezeit ein Verbrechen oder Vergehen beging. Durch die
Revision vom 5. Oktober 1950 wollte zweifellos schon darum nicht der
gegenteiligen Lösung der Vorzug gegeben werden, weil in der Regel kein
vernünftiger Grund dafür vorliegt, den bedingt Entlassenen, der sich nicht
bewährt, gleich zu behandeln wie jenen, der die Bewährungsprobe besteht
(vgl. Art. 43 Ziff. 5 Abs. 4 StGB). Dazu besteht vor allem im vorliegenden
Falle kein zwingender Anlass. Der Beschwerdeführer hat durch sein Verhalten
während der Probezeit nicht nur gezeigt, dass er trotz des Vollzuges der
Massnahme des Art. 43 StGB nach wie vor liederlich und arbeitsscheu ist,
sondern darüber hinaus auch bewiesen, dass er seine Neigung zu strafbaren
Handlungen keineswegs überwunden hat, beging er doch innert der ersten acht
Monate nach seiner bedingten Entlassung je zwei Verbrechen und Vergehen
und eine Übertretung. Dieses wiederholte, schwere Versagen lässt umsomehr
auf Gewissenlosigkeit und verbrecherische Gesinnung schliessen, als der
Beschwerdeführer zum zweiten Mal unter Bewährungsprobe stand; schon nach
der ersten bedingten Entlassung hatte er in die Anstalt zurückversetzt
werden müssen, weil er neuerdings Verbrechen begangen hatte. Unter diesen
Umständen lässt sich die Auffassung, der Beschwerdeführer habe wenigstens
einen Teil der Strafe zu verbüssen, ohne weiteres rechtfertigen.

    Daran ändert der Umstand nichts, dass der Beschwerdeführer bereits
in der Arbeitserziehungsanstalt während verhältnismässig langer Zeit
seiner Freiheit beraubt war. Dass er dort eine der doppelten Strafdauer
entsprechende Zeit verbringen musste, hat er seinem eigenen Versagen
zuzuschreiben. Wenn er zur Arbeit tüchtig und willig gewesen wäre, hätte
er schon nach einem Jahr und nicht erst nach 17 1/2 Monaten bedingt
entlassen werden können (Art. 43 Ziff. 5 Abs. 1 StGB), und wenn er sich
während der ersten Probezeit bewährt hätte, wäre er nicht für weitere
dreizehn Monate in die Anstalt zurückversetzt worden. Wollte man, wie
es der Beschwerdeführer verlangt, im Hinblick auf die lange Dauer der
Anstaltsversorgung vom Vollzug der Strafe absehen, so würde dies also
auf eine Prämiierung des Beschwerdeführers dafür hinauslaufen, dass
er sich in der Arbeitserziehungsanstalt und nach der ersten bedingten
Entlassung aus derselben schlecht verhalten hat. Wenn die Vorinstanz
trotzdem die aufgeschobene Strafe (sechzehn Monate Gefängnis, abzüglich
134 Tage erstandener Untersuchungshaft) nicht ganz, sondern nur zum
kleineren Teil vollziehen liess, so ist sie dem Beschwerdeführer sehr
weit entgegengekommen.

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.