Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 82 IV 153



82 IV 153

32. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 14. September 1956
i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich gegen Rellstab. Regeste

    Art. 190 StGB. Begriff des Schwachsinns und der wesentlichen
Beeinträchtigung der geistigen Gesundheit.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

    Art. 190 StGB schützt die schwachsinnige oder in ihrer geistigen
Gesundheit wesentlich beeinträchtigte Frau vor geschlechtlichen Angriffen.
Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft führt jeder Schwachsinn und jede
wesentliche Beeinträchtigung der geistigen Gesundheit des Opfers zur
Anwendung des Art. 190 StGB, während sich das Obergericht von der Erwägung
leiten lässt, die Geistesschwäche müsse die psychische Widerstandskraft
der Frau so herabsetzen, dass ihr allfälliges Einverständnis zu sexuellen
Handlungen regelmässig nicht mehr als Ausfluss eines freien, sittlich
verantwortlichen Willens betrachtet werden kann.

    Die Auslegung des Art 190 StGB durch die Staatsanwaltschaft hat
wohl dessen Wortlaut für sich, geht aber weiter, als es dem Sinn der
Bestimmung entspricht. Diese will die geschlechtliche Freiheit schützen
und die Ehre und Unversehrtheit einer Frau gewährleisten, die nicht
in der Lage ist, zwischen einer dem Sittengesetz entsprechenden und
einer verpönten Befriedigung des Geschlechtstriebes zu unterscheiden,
oder sich gegen geschlechtliche Zumutungen zu wehren (vgl. LOGOZ, N. 1a
der Vorbemerkungen zu Art. 187 bis 192 sowie N. 1 zu Art. 190 StGB). Das
Opfer muss sich in einem Zustand befinden, der beim Täter im Sinn einer
verminderten Zurechnungsfähigkeit gewürdigt würde (THORMANN/VON OVERBECK,
Nr. 1 zu Art. 190 StGB): es muss in der Fähigkeit beeinträchtigt sein,
das Unrecht der Tat, die an ihm begangen wird, einzusehen, und gemäss
dieser Einsicht zu handeln. Dies trifft bei den leichteren Formen des
Schwachsinns, die unter dem Begriff der Debilität zusammengefasst werden,
nicht notwendigerweise zu. Die Auswirkungen einer mangelhaften geistigen
Veranlagung oder Entwicklung brauchen nicht auf allen Gebieten gleich
stark in Erscheinung zu treten (GARTMANN, ZStR 1952, S. 107/8). Lässt auch
der Schwachsinn die Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung in der Regel
nicht unberührt, so werden doch manche Debile durch ihre Beschränktheit
nicht daran gehindert, vernünftig zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem zu
unterscheiden, die Bedeutung des Geschlechtsverkehrs und dessen mögliche
Folgen zu erkennen, ihre Triebe zu beherrschen und ungehörigen Zumutungen
entgegenzutreten. Verfügt eine geistesschwache oder in ihrer geistigen
Gesundheit beeinträchtigte Frau über diese Fähigkeiten, so bedarf sie
keines besonderen strafrechtlichen Schutzes. Art. 190 StGB gelangt in
solche Fällen nicht zur Anwendung.