Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 82 IV 107



82 IV 107

23. Urteil des Kassationshofes vom 1. Juni 1956 i.S.
Vize-Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau gegen Geier. Regeste

    Art. 25 Abs. 1 MFG, Art. 117 StGB.

    Pflicht des Motorfahrzeugführers zur Anpassung der Geschwindigkeit an
die Sichtweite und den Strassenzustand; Voraussehbarkeit der Eisbildung
bei Nebel und einer den Gefrierpunkt erreichenden Temperatur.

Sachverhalt

    A.- In der Morgenfrühe des 29. Januar 1955 führte Walter Geier seinen
Personenwagen von Ramsen über Stein am Rhein nach Schaffhausen und zurück
über Diessenhofen Richtung Rheinklingen. Nach Diessenhofen beschreibt die
Ausserortsstrecke zwischen dem Karosseriewerk Forster und dem Gasthaus
"Rheinperle" bei einem Gefälle von 1% eine leichte Linkskurve. Geier
durchfuhr diese Strecke um 06.35 Uhr bei Nebel und Dunkelheit mit einer
Geschwindigkeit von 50-60 km/Std. Da die Temperatur die Nullgradgrenze
unterschritten hatte und die Strasse auf eine Länge von ca. 200 m vereist
war, geriet Geier, nachdem er einen aus der Gegenrichtung kommenden
Radfahrer (Kilchenmann) gekreuzt hatte, ins Schleudern. Sein Wagen
rutschte in zunehmender Querstellung auf die linke Strassenseite ab,
machte eine Rechtsumdrehung von ca. 1800 und stiess schliesslich mit dem
entgegenfahrenden Landwirt Xaver Ott zusammen, der dem ersten Radfahrer
auf eine Entfernung von 80-100 m auf seinem Velo gefolgt war. Er wurde
von der rechten Seite des schleudernden Wagens derartig heftig getroffen,
dass er den erlittenen Verletzungen auf der Stelle erlag.

    B.- Am 11. Juli 1955 verurteilte das Bezirksgericht Diessenhofen Walter
Geier wegen fahrlässiger Tötung zu einer bedingt vorzeitig löschbaren
Busse von Fr. 200.--.

    Das Obergericht des Kantons Thurgau hob am 27. Oktober 1955 auf
Berufung Geiers das erstinstanzliche Urteil auf und sprach ihn von der
Anklage der fahrlässigen Tötung frei.

    C.- Die Vize-Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau führt
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichtes sei
aufzuheben und die Sache zur Bestrafung des Walter Geier wegen fahrlässiger
Tötung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Vorliegend kann sich fragen, ob nicht schon der Umstand, dass es
neblig war und nächtliches Dunkel herrschte, den Beschwerdegegner hätte
veranlassen müssen, mit erheblich geringerer Geschwindigkeit zu fahren,
als dies tatsächlich der Fall war. Ermöglicht doch eine Geschwindigkeit
von 50-60 km/Std. nur bei trockener Fahrbahn, nebelfreier Sicht
und vollem Scheinwerferlicht, das die Strasse auf eine Strecke von
wenigstens 100 m genügend beleuchtet, ein rechtzeitiges Anhalten
(SCHWARZ, Der Motorfahrzeugführer, S. 475 Nr. 44; BRÜDERLIN, Die
Mechanik des Verkehrsunfalls, S. 137/8, der sogar eine Reichweite der
Scheinwerfer von 120 m fordert). Geier hatte mit abgeblendetem Licht
(und eventuell mit Nebellampe) zu fahren; es bestand nur beschränkte
Sicht und die Strasse war infolge des Nebels zumindest feucht angelaufen.
Diesen Verhältnissen trägt die Vorinstanz keine Rechnung. Sie spricht zwar
davon, die Sicht habe trotz des Nebels etwa 80-100 m weit gereicht, was
sie mit dem Zeugnis des Ernst Kilchenmann begründet, der bemerkt habe,
dass ihm auf 80-100 m ein Velofahrer, nämlich der verunfallte Xaver
Ott, gefolgt sei; somit sei dessen Licht auf diese Distanz sichtbar
gewesen. Allein damit ist lediglich festgestellt, dass das Licht des
Radfahrers Ott auf die genannte Entfernung zu sehen war, nicht aber, dass
die zu befahrende Strecke von Geier auch zuverlässig (BGE 77 IV 102, 79
IV 66) überblickt werden konnte. Das Sichtbarwerden dieses Lichtes konnte
ihn zudem nicht der Pflicht entbinden, die Geschwindigkeit der Reichweite
seiner Scheinwerfer anzupassen, für die nach Art. 13 Abs. 1 lit. a MFV
gilt, dass sie die Strasse in einer Breite von mindestens 6 m auf einer
Strecke von wenigstens 100 m bei vollem und auf eine solche von 30 m bei
abgeblendetem Licht genügend beleuchten müssen. Dabei fällt weiter in
Betracht, dass selbst bei klarem Wetter die Scheinwerfer wenigstens 100
m vor dem Kreuzen mit einem andern Motorfahrzeug oder auch einem Fahrrad
abgeblendet werden müssen (Art. 39 Abs. 1 lit. b MFV). Angesichts dessen
kann nicht wohl gesagt werden, es habe für eine Geschwindigkeit von 50-60
km/Std. hinreichende Sicht bestanden (vgl. BGE 76 IV 129).

Erwägung 2

    2.- Da Nebel herrschte und die Temperatur die Nullgradgrenze
unterschritten hatte, musste der Beschwerdegegner wie jeder vorsichtige
Fahrer mit der Möglichkeit rechnen, dass sich auf der Strasse zumindest
stellenweise Glatteis gebildet habe oder in Bildung begriffen sei
und deswegen Schleudergefahr bestehe. Eine Vereisung tritt bei solchen
Witterungsverhältnissen nicht selten ein, wobei durchaus nicht immer bloss
exponierte Lagen davon betroffen werden. Das gilt nicht zuletzt auch für
Strassenstrecken, die - wie hier - einem Flusslauf entlang führen. Der
von der Vorinstanz unter Berufung auf BADERTSCHER, Automobilgesetz, S. 49,
vertretenen Ansicht, wonach die Vereisung von kurzen Strassenstrecken in
einer Zeit, da kein Schnee liege, nicht voraussehbar sei, ist in dieser
Allgemeinheit nicht beizupflichten. Ihr widerspricht die Erfahrung des
Lebens, wonach namentlich zur Winterzeit Kälte und Nebel auf verschneiter,
aber auch auf schneefreier und bisher trockener Strasse zu Glatteis führen
können (vgl. nicht veröffentlichtes Urteil der I. Zivilabteilung des
Bundesgerichtes vom 11. November 1952 i.S. Transport AG Ost c. Bolt), was
den Strassenbenützer und namentlich den Motofahrzeuglenker zu erhöhter
Vorsicht und Aufmerksamkeit verpflichtet. Dem Beschwerdegegner kann
angesichts seiner Fahrweise der Vorwurf nicht erspart werden, diese nach
den Umständen gebotene Vorsichtspflicht verletzt zu haben.

    Daran ändert auch nichts, dass er nach der verbindlichen Feststellung
der Vorinstanz "auf seiner Fahrt am Unfallmorgen und insbesondere weder
beim erstmaligen Passieren der Unfallstelle noch auf der Rückfahrt von
Schaffhausen Anzeichen einer Eisbildung feststellte". Auch wenn davon
auszugehen ist, dass er die fragliche Strecke "verhältnismässig kurz
vorher" eisfrei befahren und über 20-25 km nirgends eine Vereisung der
Fahrbahn bemerkt hat, so war dennoch wegen des Nebels, der herrschenden
Dunkelheit und der den Gefrierpunkt erreichenden winterlichen Temperatur
besondere Vorsicht geboten. Jedenfalls durfte sich Geier nicht darauf
verlassen, dass der Strassenzustand - wenn auch nach verhältnismässig
kurzer Zeit - der gleiche sein werde; vielmehr hatte er mit der Möglichkeit
zu rechnen, dass an irgendeiner Stelle der Fahrbahn der durch den Nebel
bedingte feine Feuchtigkeitsniederschlag auf dem Strassenbelag inzwischen
zu Eis geworden sei und sein Wagen daher Gefahr laufe, ins Schleudern zu
geraten. Statt dementsprechend die Geschwindigkeit zu mässigen, um einem
allfälligen Schleudern des Autos zweckmässig und mit Erfolg begegnen zu
können, begünstigte er durch ein den Strassen- und Verkehrsverhältnissen
nicht angepasstes Tempo die bereits bestehende Schleudergefahr, deren
unheilvolle Auswirkungen er dann weder zu verhüten noch auch nur zu mildern
vermochte. Dass in der Folge an der gleichen Stelle andere Autos ebenfalls
ins Schleudern kamen, entlastet ihn nicht. Auch kann die pflichtwidrige
Unvorsichtigkeit des Beschwerdegegners nicht deswegen verneint werden,
weil sein Wagen "mit guten, griffigen Reifen (Schneepneus) versehen war";
es liegt auf der Hand und musste auch Geier bewusst sein, dass ihm diese
auf einer glatten Eisfläche nicht den Halt zu bieten vermochten, den sie
ihm möglicherweise auf einer verschneiten Strasse geboten hätten.

    3. -- Entgegen der vorinstanzlichen Würdigung ist daher die
Fahrlässigkeit des Beschwerdegegners zu bejahen. Sein Verhalten stellt
objektiv und subjektiv eine Verletzung des Art. 25 MFG dar. Dass Ott
durch den heftigen Anprall des schleudernden Autos getötet wurde,
ist unbestritten und wird durch die verbindliche Feststellung des
angefochtenen Urteils bestätigt, wonach der Wagen des Beschwerdegegners
im Schleudern und Abdrehen den Radfahrer mit seiner rechten Seite derart
stark getroffen habe, dass dieser "mit zertrümmerten Gesichtsknochen
und weiteren Verletzungen an den Händen und Beinen in den Strassengraben
geschleudert wurde, wo er vermutlich sofort starb". Mit dem natürlichen
ist auch der rechtserhebliche Kausalzusammenhang zu bejahen; die Fahrweise
des Beschwerdegegners, namentlich die übersetzte Geschwindigkeit, war
nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge geeignet, zu einem Zusammenstoss
und zur Tötung eines andern Strassenbenützers zu führen (wie übrigens
auch zu einer Störung des öffentlichen Verkehrs, worüber indessen keine
Anklage erhoben wurde).

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Obergerichts des Kantons Thurgau vom 27. Oktober 1955 aufgehoben und die
Sache zur Bestrafung des Beschwerdegegners wegen fahrlässiger Tötung an
die Vorinstanz zurückgewiesen.