Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 82 II 397



82 II 397

55. Urteil der II. Zivilabteilung vom 24. Mai 1956 i.S. Immobilien
A.-G. gegen Ulrich. Regeste

    Verletzung kantonaler Bauvorschriften (Grenzabstand von Gebäuden).
Schadenersatz. Art. 674, 679, 685 ZGB, 42 OR.

    Tat- und Rechtsfrage. Grundsätzlich sind dem Nachbarn die Nachteile
zu ersetzen, die sich für ihn aus der Einräumung einer dem Sachverhalt
entsprechenden Näherbauservitut ergeben würden. Der Verkehrswert des
Landstreifens, der für ihn infolge der Missachtung des Grenzabstandes
unüberbaubar geworden ist, umfasst auch den Wert des zugehörigen Baukubus,
sodass ihm dafür kein zusätzlicher Ersatz gebührt.

Sachverhalt

    A.- An die Westgrenze der dem Kläger Ulrich gehörenden Liegenschaft
"Riedappel" (Grundbuchnummer 552) im Bezirk Küssnacht a.R. stossen auf
eine Länge von 44 Metern die Liegenschaften Nr. 2926 und 2927 der
Beklagten, Immobilien A.-G., Zug. Diese liess darauf im Frühjahr 1953
vier Achtfamilienhäuser errichten, wovon zwei (die Häuser Nr. 3 und 4)
dem Grundstück des Klägers zugekehrt und zwar aneinander gebaut sind,
aber keine gerade fortlaufende Fassadenflucht haben; vielmehr steht das
Haus Nr. 3 etwas mehr von der Grenze zurück. Der Grenzabstand beträgt:
          beim Haus       beim Haus Nr. 3   Nr. 4

    von der Fassadenmauer aus gemessen    3,07 m  1,99 m

    von der Kante der Dachrinne aus ge-

    messen        2,23 m  1,15 m

    vom Vorsprung der Freitreppe aus ge-

    messen        1,47 m  0,74 m

    B.- Wegen Nichteinhaltung des in § 143 des schwyzerischen EG zum
ZGB vorgeschriebenen Grenzabstandes von 1,50 m verlangt der Kläger
Schadenersatz. Er erhielt in erster Instanz Fr. 1050.--, in zweiter
Instanz Fr. 10'050.-- nebst Zins zugesprochen.

    C.- Gegen das obergerichtliche Urteil vom 22. November 1955 hat
die Beklagte Berufung an das Bundesgericht eingelegt mit dem Antrag auf
vollumfängliche Abweisung der Klage.

    D.- Der Kläger beantragt, die Berufung sei, soweit auf sie eingetreten
werden könne, abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Soweit die Klage in erster Instanz geschützt worden war, also im
Teilbetrag von Fr. 1050.--, muss es dabei sein Bewenden haben, da sich
die Appellation der Beklagten an das Obergericht mangels rechtzeitiger
Leistung des Kostenvorschusses als unwirksam erwies. Der insofern
vom Obergericht gefällte Nichteintretensentscheid beruht auf der vom
Bundesgericht im Berufungsverfahren nicht nachzuprüfenden Anwendung
kantonalen Prozessrechtes (Art. 43 OG). Freilich rügt die Beklagte in
der Berufungsschrift in diesem Punkte Willkür und damit eine Verletzung
von Art. 4 BV. Das kann jedoch, was Art. 43 Abs. 1 Satz 2 OG noch
ausdrücklich bestimmt, nicht mit Berufung geltend gemacht werden, und
eine staatsrechtliche Beschwerde hätte in getrennter Eingabe erhoben
werden müssen (BGE 63 II 38; dementsprechend auch BGE 68 IV 9).

    Auf diesen Teil der Berufung ist somit nicht einzutreten.

Erwägung 2

    2.- § 143 des schwyzerischen EG zum ZGB bestimmt unter dem Randtitel
"B. Nachbarrecht: I. Bauten: 1. Abstände: a) neue Baustellen":

    "Gebäude dürfen ohne Zustimmung des Nachbars auf neuen Baustellen
nur in einer Entfernung von wenigstens 1,50 Meter von der nachbarlichen
Grenze aufgeführt werden. Diese Bestimmung gilt für jeden einzelnen Teil
des Gebäudes.

    Vorbehalten bleiben Bauten an öffentlichen Strassen mit
zusammenhängenden Häuserreihen."

    Der gesetzliche Grenzabstand gilt nach der Praxis der schwyzerischen
Behörden nicht nur für die Umfassungsmauern, sondern auch für
Dachvorsprünge (SJZ 26 S. 217 Nr. 160) und nach dem angefochtenen Entscheid
auch für Freitreppen. Diese Anwendung des in Art. 686 ZGB vorbehaltenen
kantonalen Rechtes ist für das Bundesgericht verbindlich. Somit hat die
Beklagte den vorgeschriebenen Grenzabstand in der Tat nicht eingehalten,
indem bei beiden Neubauten die Freitreppe und beim Haus Nr. 4 ausserdem
der Dachvorsprung in die Sperrzone hineinragt.

Erwägung 3

    3.- Die Folgen einer Verletzung der kantonalen Bauvorschriften
bestimmen sich nach Bundesrecht, wobei sowohl die für überragende
Bauten geltenden Regeln (Art. 674 in Verbindung mit Art. 685 Abs. 2
ZGB) wie auch die allgemeine Verantwortlichkeit des Grundeigentümers
für die Folgen einer Ueberschreitung seines Eigentums (Art. 679 ZGB) in
Betracht fallen (vgl. BGE 41 II 215, 53 II 221). Für den vom Kläger als
fortdauernd geduldeten, einer dinglichen Belastung seines Grundstückes
gleichkommenden "Näherbau" gebührt ihm somit "angemessene Entschädigung"
bzw. "Schadenersatz" (Art. 674 Abs. 3, 679 ZGB).

Erwägung 4

    4.- Ob und welcher Schaden entstanden sei, ist grundsätzlich Tatfrage
(BGE 47 II 192, 56 II 126). Dagegen hat das Bundesgericht zu prüfen,
ob der behauptete Schaden rechtlich genügend substanziert und bei der
Schadensberechnung von richtigen Grundsätzen ausgegangen worden sei.
Dementsprechend ist es auch eine Frage der Rechtsanwendung, ob der Richter
bei ziffermässig nicht nachweisbarem Schaden richtigen Gebrauch von dem
ihm durch Art. 42 OR eingeräumten Ermessen gemacht habe. Dass Art. 42 OR
auch in Verbindung mit Art. 679 ZGB anwendbar ist, wird von Lehre und
Rechtsprechung mit guten Gründen bejaht (vgl. HAAB, N. 18 zu Art. 679
ZGB, SJZ 14 S. 77 N. 24 und ZbJV 66 S. 20). Das gilt ebenso für die
"angemessene Entschädigung" nach Art. 674 Abs. 3 ZGB.

Erwägung 5

    5.- Die kantonalen Gerichte gehen davon aus, infolge des "Näherbaues"
der Beklagten werde ein dessen Ausmass entsprechender Landstreifen ausser
der gesetzlichen Sperrzone für den Kläger unüberbaubar. Nach der Expertise
handelt es sich um einen Streifen von 39,5 m Länge und, je nachdem ob
die Rinnenkante oder die Freitreppe des Hauses 4 als massgebender Punkt
für die Abstandsberechnung betrachtet wird, 35 oder 76 cm Breite. Das
erstinstanzliche Gericht legt seinem Urteil das grössere dieser zwei
Ausmasse zugrunde, fasst also einen für den Kläger unüberbaubar werdenden
Landstreifen von 0,76 x 39,5 = 30 m2 ins Auge, mit einem Wert von Fr. 35.-
pro m2 gemäss Expertenbefund, also ingesamt Fr. 1050.--. In diesem Betrag
ist die Klage, wie erwähnt, aus prozessualen Gründen endgültig geschützt.

Erwägung 6

    6.- Zu überprüfen bleibt, ob das Obergericht dem Kläger mit Recht eine
weitere Forderung von Fr. 9000.-- für entgehenden Baukubus zugesprochen
habe (der auf Grund eines bloss 35 cm breiten Landstreifens berechnet wird,
entsprechend der Herabsetzung des Klagebegehrens in zweiter Instanz).

    Das angefochtene Urteil begründet diese Mehrforderung wie folgt:

    "... Wohl sind die Kosten für eine Baute, die nicht ausgeführt werden
kann, kein Schaden im Rechtssinne, sondern eine Einsparung an künftigem
Aufwand. Dieser Aufwand ist nun aber kein unproduktiver, d.h. es entspricht
ihm kein Gegenwert, der sich nicht vermögensvermehrend auswirkt. Vielmehr
ist ein solcher Aufwand als Anlageaufwand und zwar als produktiver
zu betrachten. Produktiv deshalb, weil der Kläger aus Miethäusern,
die er auf seinen Parzellen baut, eine Rendite herausschlagen kann, die
unzweifelhaft viel grösser ist, als z.B. bei einer landwirtschaftlichen
Verpachtung. Anderseits ist dieser Aufwand das Mittel dazu, um Vermögen
wertbeständig anzulegen. Diese Verstärkung der Sicherheit wird durch den
Näherbau der Beklagten verunmöglicht. Zweifellos liegt ein Schaden nicht
nur dann vor, wenn ein Vermögen rechtswidrig vermindert wird, sondern auch
dann, wenn durch ein rechtswidriges Verhalten eines Dritten unmöglich
gemacht wird, ein Vermögen von einer weniger sichern in eine sicherere
Anlage überzuführen. Der Schaden stellt sich somit sowohl im Hinblick
auf die Rendite als auch bezüglich der Sicherheit der Vermögensanlage
als lucrum cessans dar ... Schaden infolge Verlust an Vermögensrendite
und grösserer Anlagesicherheit ... unmittelbare Folge des Verlustes an
Baukubus ... Das Obergericht findet es angemessen, dem Geschädigten als
Schadenersatz auch jenen Betrag zuzusprechen, den er hätte aufwenden
müssen, um eine rentablere und sicherere Vermögensanlage zu erzielen."

    Dem kann nicht beigepflichtet werden. Die Vorinstanz übersieht, dass
der Ersatz des Wertes eines Landstreifens, wie ihn das erstinstanzliche
Urteil dem Kläger bei Annahme einer Breite von sogar 76 cm zugesprochen
hatte, auch den Wert des über dem Streifen liegenden, d.h. des zugehörigen
Baukubus deckt. Der Preis für Bauland bestimmt sich ja im Hinblick auf die
mögliche Überbauung, und der Experte ist ausdrücklich vom Baulandpreis
"wie bei einer Expropriation" ausgegangen und hat den Preis pro m2 noch
etwas über dem Durchschnittspreis auf Fr. 35.- festgesetzt (S. 10 des
Gutachtens). Es kann daher nicht in Frage kommen, dem Kläger ausser
dem, wie angenommen wird, wegen des Näherbaues der Beklagten unüberbaut
bleibenden Landstreifen noch einen Baukubus zu ersetzen, und es ist
vollends abwegig, dem (leeren) Baukubus einen Wert beizumessen, der dem
Betrag der auf ihn entfallenden Baukosten entsprechen würde.

    Der vom Obergericht ferner herangezogene Gesichtspunkt eines Entganges
von Kapitalanlagemöglichkeit ist gleichfalls zu verwerfen. Ersatz für
lucrum cessans, d.h. für Gewinnentgang, ist nach allgemeiner Lehre nur
geschuldet, soweit es sich um einen üblichen oder sonstwie sicher in
Aussicht stehenden Gewinn handelt (vgl. v. TUHR, OR I § 13 Ziff. 10,
BECKER, N. 9 zu Art. 41 und N. 31 und 34 ff. zu Art. 97 OR). Es kann
dahingestellt bleiben, ob eine so indirekte Auswirkung eines Näherbaues
wie der Verlust einer Möglichkeit der Geldanlage überhaupt nach Art. 674
Abs. 3 und Art. 679 ZGB in Betracht falle. Hier jedenfalls fehlt jeder
Grund zur Annahme einer solchen Schadensfolge. Das angefochtene Urteil
stützt sich nur auf unbestimmte Hypothesen, die keinen Ersatzanspruch zu
begründen vermögen. Es liegt nichts dafür vor, dass der Kläger über soviel
Geldmittel verfügt, dass die Überbauung seines grossen Restgrundstücks
keine hinreichende Möglichkeit der Anlage zu bieten vermöchte. Übrigens
dürfte nicht ohne weiteres angenommen werden, es fehle dem Kläger
an andern, ebenso günstigen Anlagemöglichkeiten. Die Ausnützung des
Bauvolumens, wie es dem Kläger nach Ansicht der Vorinstanz nun wegen des
Näherbaues der Beklagten entgeht, wäre ohnehin nicht vorteilhaft, denn ein
Grenzabstand von 1,50 m und ein ihm entsprechender Gebäudeabstand von 3 m
ist für mehrstöckige Wohnhäuser - der Experte rechnet auch für den Kläger
mit solchen von 13 m Höhe, wie sie die Beklagte errichtet hat - viel
zu gering. Ob eine solche Ausnützung des Baulandes sich als sichere und
ertragreiche Anlage und nicht vielmehr als Fehlinvestition erwiesen hätte,
ist somit fraglich. Jedenfalls darf nicht das Gegenteil als feststehend
betrachtet und auf solcher Grundlage ein Schadenersatzanspruch bejaht
und berechnet werden.

    Grundsätzlich wäre dagegen ein Ersatz für Entwertung des
Restgrundstückes in Frage gekommen. Eine solche Entwertung ist aber
nicht erwiesen und angesichts der Ausdehnung des Grundstückes des Klägers
nicht anzunehmen.

Erwägung 7

    7.- Wenn der Kläger gemäss dem insofern endgültig gewordenen
erstinstanzlichen Urteil den Preis eines Landstreifens von 76 cm
Breite mit Fr. 1050.-- ersetzt erhält, wird er für die Folgen des
unerlaubten Näherbaues der Beklagten reichlich entschädigt. Rückt er
mit einem künftigen Miethausbau wirklich um soviel über den gesetzlichen
Grenzabstand von 1,50 m hinaus von der Westgrenze weg, so gibt dazu gewiss
nicht die um 76 cm zu weit vorspringende Freitreppe des Hauses Nr. 4 der
Beklagten Veranlassung. Denn diese Freitreppe entzieht einem künftigen
Neubau des Klägers so gut wie nichts an Luft und Licht, wie denn der nur
in den Freitreppen (mit Stufen von 35 cm Breite laut S. 4 des Gutachtens)
und im Dachvorsprung liegende Näherbau bei weitem nicht die Bedeutung
eines Näherbaues der Häuserwände hat. Zur Einhaltung eines grössern
als des durch die nachbarrechtlichen Gesetzesvorschriften bedingten
Gebäudeabstandes wird sich der Kläger vielmehr deshalb veranlasst sehen,
weil mehrstöckige Häuser, um ein angenehmes Wohnen zu ermöglichen, einen
grössern Abstand haben müssen. Daraus erwächst ihm aber kein Anspruch
auf Schadenersatz gegenüber der Beklagten. Dieser gegenüber fällt
nur der Nachteil in Betracht, der dem Kläger aus der Einräumung einer
Näherbauservitut entstünde, wobei diese auf Freitreppen und Dachvorsprünge
wie sie nun vorliegen, beschränkt wäre (vgl. BGE 22 S. 1042 ff.). Selbst
wenn zuträfe, dass der Kläger infolge jener unerlaubten Bauvorsprünge in
Zukunft einen Landstreifen von 76 bzw. 35 cm unüberbaut lassen müsste,
wäre zu berücksichtigen, dass er diesen freien Streifen nicht schlechtweg
verliert, sondern zusammen mit der gesetzlichen Bausperrzone als Vorplatz,
Gartenland und dergleichen verwenden kann, ganz abgesehen vom Vorteil,
den er aus dem grösseren Zwischenraum der Häuser ziehen wird. Nach alldem
besteht kein Grund zur Erhöhung der in erster Instanz auf Fr. 1050.--
bemessenen Entschädigung.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird in dem Sinne gutgeheissen, dass das angefochtene
Urteil aufgehoben und die Forderung des Klägers und Berufungsbeklagten
abgewiesen wird, soweit sie den Betrag von Fr. 1050.-- nebst Zins zu 5%
seit dem 17. Mai 1954 übersteigt.