Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 82 II 181



82 II 181

27. Urteil der II. Zivilabteilung vom 8. Mai 1956 i.S. Eheleute Schneider
gegen Vormundschaftsbehörde O. Regeste

    Entzug der elterlichen Gewalt. Art. 285 ZGB.

    Auch wenn die Gründe zu dieser Massnahme vornehmlich in der Person
des einen Ehegatten liegen, ist sie gegen beide auszusprechen, wenn sie
sonst wegen des Verhaltens des andern Ehegatten unwirksam bleiben müsste.

Sachverhalt

                     Aus dem Tatbestand:

    A.- Am 10. April 1953 heiratete Walter Schneider, geboren 1913, die
im Jahr 1925 geborene Gertrud Sigg. Daher wurden die aus dem vorehelichen
Verhältnis stammenden Kinder Paul, geboren am 21. Juni 1951, und Ursula,
geboren am 8. Oktober 1952, ehelich. Im Jahre 1949 war eine gegen
die Ehefrau angehobene Strafuntersuchung wegen Unzurechnungsfähigkeit
eingestellt worden. Ein Gutachten der Anstalt Friedmatt, Basel, vom
5. April 1949 bezeichnete sie als eine triebhafte, impulsive Debile. In der
Ehe kam es zu Streitigkeiten. Im Jahre 1955 klagte die Ehefrau auf Trennung
der Ehe. Die Vormundschaftsbehörde des Wohnortes beantragte am 2. Juli
1955 im Einverständnis mit der heimatlichen Vormundschaftsbehörde beim
Bezirksstatthalteramt, die beiden Kinder seien unter Amtsvormundschaft
zu stellen. Zur Begründung wurde angeführt, die Erziehung könne weder
dem Vater noch der Mutter anvertraut werden; man müsse die Kinder im
"... Kinderhus" oder an einem privaten Pflegeplatz unterbringen.

    B.- Nach einem ärztlichen Bericht ist die Ehefrau "eine wenig
intelligente, debile und erregbare Persönlichkeit", der Ehemann
"psychisch ebenfalls abnorm, zu mindest psychopathisch, wenn nicht
psychotisch". Ferner ergab sich ungeordnete Haushaltführung und
Streitsucht der Ehefrau; sie schreit die Kinder an, ohne sich damit
Gehorsam verschaffen zu können. Für genügende Ernährung der Kinder ist sie
besorgt. Gegen den Ehemann wird, was die Kindererziehung betrifft, nichts
eingewendet. Indessen muss er die Kinder während der meisten Zeit der
Ehefrau überlassen. Er ist arbeit- und sparsam, wechselt aber häufig die
Stelle; gegen Behörden benimmt er sich eigensinnig, und, wie es in einem
Leumundsbericht heisst: "sein aufbrausendes Wesen und seine Redensarten,
die oft als gemein anzusprechen sind, stempeln ihn zu einem Menschen mit
einem geistigen Defekt, weshalb er von der Nachbarschaft gemieden wird".

    C.- Auf Grund dieser Untersuchungsergebnisse hat der Regierungsrat
beiden Ehegatten die elterliche Gewalt über die zwei Kinder entzogen.

    D.- Gegen diesen Entscheid haben die Eheleute Schneider-Sigg
Berufung an das Bundesgericht eingelegt mit den Anträgen, er sei
gänzlich aufzuheben, eventuell sei die elterliche Gewalt nur der Mutter
zu entziehen.

    Es wird bestritten, dass die Eltern nicht imstande seien, die
elterliche Gewalt auszuüben. Möglicherweise sei Frau Schneider eine
psychopathische Person, sicher aber nicht der Ehemann, wenigstens nicht
in einem Masse, dass er die Kinder nicht richtig erziehen könnte. Durch
die Leumundsberichte werde der Ehemann viel weniger belastet als die
Ehefrau. Jedenfalls ihm sei die elterliche Gewalt zu belassen.

    E.- Der Regierungsrat legt in einem die Aktensendung begleitenden
Schreiben die Untersuchungsergebnisse näher dar. Er hebt die Passivität
des Vaters in der Kindererziehung hervor. "Er ist auch nicht fähig,
seine Ehefrau zur Ordnung anzuhalten."

    Die Vormundschaftsbehörde trägt auf Abweisung der Berufung an. Sie
führt aus, immer wieder müsse die Gemeindebehörde oder die Polizei
wegen "handgreiflicher Streitigkeiten der Ehegatten unter sich oder mit
Hausnachbarn" zum Rechten sehen. "Schriftliche Verwarnungen wandern
ungelesen ins Feuer. Auf behördliche Vorladungen folgt Schneider
Walter höchstens mit Polizeigewalt..." Die Unfähigkeit der Ehefrau zur
Kindererziehung gehe aus den Akten mit Sicherheit hervor. "Würde nur der
Ehefrau die elterliche Gewalt entzogen, bliebe alles beim alten, denn
Schneider Walter würde mit allen Mitteln versuchen, einer behördlichen
Wegnahme und Versorgung der Kinder entgegen zu wirken."

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

    "Sind die Eltern nicht imstande", die elterliche Gewalt auszuüben,
so ist ihnen diese Gewalt nach Art. 285 ZGB zu entziehen. So verhält es
sich namentlich bei Unfähigkeit, die Kinder richtig zu erziehen. Dabei ist
unerheblich, worin die Unfähigkeit begründet liegt, und ob die Eltern ein
Verschulden trifft oder nicht. Im vorliegenden Falle hat sich nun nach den
dem angefochtenen Entscheide zugrunde liegenden Untersuchungsergebnissen
die Mutter als zur Kindererziehung in solchem Grade ungeeignet erwiesen,
dass die ihr gegenüber verfügte Entziehung der elterlichen Gewalt
gerechtfertigt ist, wiewohl es ihr nicht an Mutterliebe und gutem Willen
fehlt. Ihre ausgeprägte psychopathische Veranlagung und die sich daraus
ergebenden Charaktereigenschaften wirken sich so ungünstig aus, dass ihr
die Erziehung nicht länger überlassen bleiben darf.

    Ist insofern der angefochtene Entscheid ohne weiteres zu bestätigen,
so bleibt zu prüfen, ob der Gewaltentzug mit Recht auch dem Vater gegenüber
erfolgt sei, oder ob ihm, wie es das Eventualbegehren der Berufung will,
die elterliche Gewalt belassen werden dürfe und solle. Dass die auch bei
ihm vorhandenen geistigen Mängel die Entwicklung der Kinder in hohem
Masse schlecht beeinflusst hätten, ist nicht erwiesen. Diese negative
Feststellung bedeutet jedoch nicht, dass er das unter den gegebenen
Umständen Notwendige vorzukehren vermöge, um für eine gehörige Erziehung
der Kinder Gewähr zu bieten. Es ist hier nicht zu entscheiden, ob ihm bei
einer Trennung oder Scheidung der Ehe die Kinder vorderhand, allenfalls
mit Vorbehalt einer Aufsicht der Vormundschaftsbehörde (vgl. BGE 60
II 16), zugewiesen werden könnten. Wie dem auch sei, ist jedenfalls
bei der nun in der Absicht der Eheleute liegenden Fortsetzung der
ehelichen Gemeinschaft der Entzug der elterlichen Gewalt auch dem Vater
gegenüber unvermeidlich. Angesichts seiner Widersetzlichkeit wäre sonst
zu befürchten, er möchte allen behördlichen Anordnungen entgegentreten
und den gegenüber der Mutter verfügten Gewaltentzug praktisch unwirksam
machen. Gewiss fehlt es ihm nicht an einer kritischen Einstellung
hinsichtlich der Erziehereigenschaften der Ehefrau. Er verhält sich jedoch,
nach den bisherigen Erfahrungen zu schliessen, viel zu passiv, um sie
zur Ordnung anhalten und das sonst Fehlende durch eigene Erziehungsarbeit
auszugleichen. Ausserdem hat er selbst erhebliche Charaktermängel, die,
wenn sie auch für sich allein nicht wohl geeignet wären, das geistige
Wohl der Kinder in erheblichem Masse zu gefährden, nun eben zu den in der
Person der Mutter liegenden Gefährdungsmomenten hinzutreten und deren
Auswirkungen verstärken. Der Entzug der elterlichen Gewalt muss daher,
um seinen Zweck erfüllen zu können, gegenüber beiden Eltern verfügt werden.

    Das ZGB fasst übrigens in Art. 285 zunächst die beiden Eltern
miteinander ins Auge, ohne freilich den Entzug der Gewalt beiden gegenüber
als Regel vorzuschreiben, wie sich aus Abs. 2 daselbst ergibt. In Lehre
und Rechtsprechung ist anerkannt, dass der einem Elternteil gegenüber
notwendige Gewaltentzug, um nicht wirkungslos zu bleiben, auch dem
andern gegenüber auszusprechen ist, wenn dieser die Sachlage nicht zu
meistern vermag (vgl. EGGER, N. 7 und SILBERNAGEL, N. 60 zu Art. 285 ZGB;
Zeitschrift für Vormundschaftswesen 6 S. 142 ff.). In der (dem Art. 313
Abs. 2 des Vorentwurfs entsprechenden) Bestimmung von Art. 296 Abs. 2
des bundesrätlichen Entwurfs, lautend:

    "Kann nach dem Ermessen der Behörde die Gewalt, wenn sie dem Vater
entzogen wird, auch der Mutter nicht überlassen bleiben, so erhält das
Kind einen Vormund,"

    kam nebenbei zum Ausdruck, dass unter Umständen die Gewalt beiden
Eltern zu entziehen ist, auch wenn die Veranlassung zum Einschreiten
der Behörde nur im Verhalten des Vaters lag. Daran wollte die geltende
Fassung von Art. 285 Abs. 2 ZGB, die von der gleichen Stellung beider
Eltern ausgeht, nichts ändern. Auch wenn man den gegenüber dem Vater
oder der Mutter nötigen Gewaltentzug nicht geradezu "regelmässig" gegen
beide Eltern verfügt, wie es in einigen Kantonen Praxis ist (vgl. SJZ 21
S. 336 Nr. 281), muss doch in jedem Falle geprüft werden, ob sich, wenn
ein Ehegatte Grund zu solchem Einschreiten bietet, die Massnahme füglich
auf ihn beschränken lasse oder aber auf den andern Gatten ausgedehnt
werden müsse, wie dies hier nach dem Gesagten zutrifft.

    Nach der soeben erwähnten Vorschrift wird den Kindern ein Vormund zu
bestellen sein. Die Vormundschaftsbehörde wird zu bestimmen haben, ob und
für wielange die Kinder den Eltern wegzunehmen sind und wann sie allenfalls
auf Zusehen hin wieder in den elterlichen Haushalt zurückkehren können.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird abgewiesen und der angefochtene Entscheid bestätigt.