Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 82 III 19



82 III 19

8. Entscheid vom 19. April 1956 i.S. Nussbaumer. Regeste

    Zur Anwendung von Art. 92 Ziff. 1 SchK G:

    1.  Wann ist im Hinblick auf das zu erwartende Verwertungsergebnis
von der Pfändung abzusehen?

    2.  Unter welchen Voraussetzungen ist ein mündiges Kind des Schuldners
zu seiner Familie zu zählen?

Sachverhalt

    A.- Das Betreibungsamt Waldstatt pfändete in den Betreibungen Nr. 1701
und 1716 gegen Frau Rosa Nussbaumer (Pfändungsgruppe 47) eine Anzahl
Gegenstände, bezeichnete jedoch die unter Nr. 10 bis 13 aufgeführten Sachen
als Kompetenzstücke, mit der Bemerkung: "In häuslicher Gemeinschaft lebende
Personen sind 4 Erwachsene". Es handelt sich um folgende Gegenstände:

    "10.  2 complette Betten      Fr. 250.--

    11.   1 dreitüriger Schrank   "   70.-

    12.   1 älteres Schlafzimmer, bestehend aus:
          1 compl. Bett, 1 Tischli, 1 Lehnstuhl   "  120.--

    13.   1 älteres Schlafzimmer, bestehend aus:
          1 compl. Bett, 1 Waschkomode, mit Spiegel, 1 Nachttischli,
          1 rundes Tischli        " 150.--"

    B.- Auf Beschwerde des Gläubigers Ruggle (Betreibung Nr.  1716)
entschied die kantonale Aufsichtsbehörde am 26. März 1956:

    "1. Es wird festgestellt, dass die in der Pfändungsurkunde
Nr. 1716 (1701 Gruppe 47) des BA Waldstatt als unpfändbar bezeichneten
Gegenstände, mit Ausnahme der in Ziff. 11 und 13 aufgeführten Möbel, keine
Kompetenzstücke sind und deshalb der Pfändung und Verwertung unterliegen.

    "2. Das BA Waldstatt wird angewiesen, die Pfändung durch Pfändung
der Praxisgegenstände der Schuldnerin, soweit dieselben nicht zur
Berufsausübung unentbehrlich sind, sowie weiterer in ihrer Wohnung
befindlicher Gegenstände zu ergänzen."

    Die Begründung geht im wesentlichen dahin:

    Die Unpfändbarkeit besteht nach Art. 92 Ziff. 1 SchKG zugunsten
des Schuldners und seiner Familie. Zur Familie gehören die mit dem
Schuldner in Hausgemeinschaft lebenden, durch eheliche Verwandtschaft
mit ihm verbundenen Personen, zu deren Unterstützung er gesetzlich
verpflichtet ist. Dazu sind auch volljährige Kinder zu rechnen, solange
sie im elterlichen Haushalt leben. Voraussetzung dafür ist jedoch,
dass gegenüber der betreffenden Person eine rechtliche oder wenigstens
moralische Unterhalts- oder Unterstützungspflicht des Schuldners
bestehe. Das trifft beim volljährigen Sohn der Schuldnerin nicht zu; denn
er betreibt ein selbständiges Unternehmen. Obwohl er bei der Schuldnerin
wohnt, kann daher nicht von einer Unterhalts- oder Unterstützungspflicht
derselben ihm gegenüber gesprochen werden. Die übrigen Hausgenossen
können ebenfalls nicht als Familienangehörige gelten: weder der frühere,
von der Schuldnerin geschiedene Ehemann, noch der Taubstumme Karl Wernli,
der früher dort als Gärtner beschäftigt war. Somit kann die Schuldnerin
nur die für sie persönlich unentbehrlichen Hausgeräte und Möbel als
Kompetenzstücke beanspruchen.

    C.- Mit vorliegendem Rekurs beantragt die Schuldnerin, es seien auch
die in Pos. 12 der Pfändungsurkunde angeführten Möbel als unpfändbar
zu erklären. Zur Begründung macht sie zunächst geltend, es handle sich
um alten Hausrat, dessen Verwertung sich vermutlich gar nicht lohne,
weshalb nach Art. 92 Ziff. 1 SchKG von der Pfändung abzusehen sei. Sodann
dienten diese Möbel ihrem ehelichen Sohne, Albert Schmid, zum persönlichen
Gebrauch und seien ihm unentbehrlich. Er betreibe ein im Anfang stehendes
elektrotechnisches Unternehmen. "Er entwickelt auf eigene Rechnung und
gelegentlich für Dritte Neuheiten, die dann patentiert werden oder werden
sollen. Gelegentlich lässt er solche Neuigkeiten auch fabrizieren. Er
erzielt mit dieser Arbeit kein regelmässiges Einkommen." Die Rekurrentin
fügt bei: "Unter solchen Umständen ist es durchaus verständlich, dass ihm
die Mutter ein Heim bietet. Er hat ihr dafür, wenn sie wieder krank und
ohne Verdienst war, er aber zufällig einen solchen hatte, immer wieder
geholfen." Der Sohn sei daher zur Familie der Schuldnerin zu rechnen und
der Kompetenzanspruch zu schützen.

Auszug aus den Erwägungen:

    Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer zieht in Erwägung:

    Beide Gründe, auf die sich der Rekurs stützt, sind rechtserheblich.

Erwägung 1

    1.- Gegenstände im Sinne von Art. 92 Ziff. 1 SchKG sind nicht zu
pfänden, wenn "von vorneherein anzunehmen ist, dass der Überschuss des
Verwertungserlöses über die Kosten so gering wäre, dass sich eine Wegnahme
nicht rechtfertigt". Wie es sich bei der in Frage stehenden Pos. 12
der Pfändungsurkunde in dieser Hinsicht verhält, hat der angefochtene
Entscheid nicht geprüft. Das wird nachzuholen sein, sofern die Pfändung
nicht schon aus dem Gesichtspunkte der Kompetenzqualität der betreffenden
Möbel abgelehnt werden muss.

Erwägung 2

    2.- Inbezug auf die Frage, ob der eheliche Sohn der Schuldnerin,
der in ihrem Haushalt lebt, zu ihrer Familie zu rechnen sei, enthält der
Rekurs neue Anbringen. Diese sind zu berücksichtigen, da die Schuldnerin
im kantonalen Verfahren keine Gelegenheit erhalten hatte, sich zur
Beschwerde des Gläubigers vernehmen zu lassen (Art. 79 OG). Sollte es
sich so verhalten, wie die Schuldnerin vorbringt, so wäre der Sohn in
der Tat als zu ihrer Familie gehörig zu betrachten. Denn in diesem Falle
wäre der Sohn in weitem Masse auf das ihm von der Mutter gebotene Heim
angewiesen, und es müsste ihm mindestens ein moralischer Anspruch auf
solche Unterhaltsbeihilfe zugebilligt werden. Das entspricht alter,
feststehender Praxis (BGE 35 I 795, 39 I 300 = Separatausgabe 12 S. 253,
16 S. 115). Davon will BGE 77 III 157/8 Erw. 5, b nicht abgehen. Dieser
Entscheid bezieht sich auf des Schuldners geschiedene Ehefrau, der nach
dem Scheidungsurteil keine Unterhaltsbeiträge zustehen. Wenn für diesen
Fall ausgesprochen wurde, eine Unterhalts- oder Unterstützungspflicht des
Schuldners wäre nur ausnahmsweise gegeben, so lässt sich daraus nichts
herleiten für das Verhältnis zwischen Eltern und volljährigen Kindern. Denn
diese haben einander zu unterstützen, "sobald sie ohne diesen Beistand
in Not geraten würden" (Art. 328 ZGB). Aber auch abgesehen von diesen an
besondere Voraussetzungen geknüpften Rechtspflichten ist die moralische
Verbundenheit von Eltern und volljährigen Kindern zu beachten, wie sie
namentlich zur Geltung kommt, solange die Kinder bei den Eltern wohnen.
Unter solchen Umständen rechtfertigt es sich je nach Art und Mass der
beidseitigen wirtschaftlichen Bedürfnisse und Möglichkeiten, die Kinder,
auch wenn sie eigenem Verdienste nachgehen, zur Familie des Schuldners
zu rechnen.

    Zur nähern Abklärung des Sachverhaltes und zu neuer Beurteilung ist
die Angelegenheit an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Entscheid:

        Demnach erkennt die Schuldbetr. u. Konkurskammer:

    Der Rekurs wird dahin gutgeheissen, dass der angefochtene Entscheid
hinsichtlich der Pfändbarkeit der in Pos. 12 der Pfändungsurkunde
aufgeführten Möbel aufgehoben und die Sache zu neuer Beurteilung dieses
Punktes an die kantonale Aufsichtsbehörde zurückgewiesen wird.