Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 81 I 274



81 I 274

44. Urteil der staatsrechtlichen Abteilung vom 6. Juli 1955 i.S. Büchel
gegen Kanton St. Gallen. Regeste

    Art. 42 Abs. 2 OG.

    Unter "Expropriationsstreitigkeiten" im Sinne von Art. 42 Abs. 2 OG
fallen nicht nur Enteignungsansprüche aus formellen Enteignungsverfahren,
sondern. auch Entschädigungsansprüche aus materieller Enteignung (Anderung
der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Der Kläger Heinrich Büchel ist Eigentümer der Parzelle Nr. 1774
des Grundbuches Buchs mit Wohn- und Geschäftshaus. Im Zusammenhang mit der
Planung einer Bahn- Unter- oder Überführung anstelle eines Niveauüberganges
und der Überbauung des Mühleäuli-Quartiers in Buchs brachte der Gemeinderat
gestützt auf die Art. 1 ff. des Baureglementes für die Politische Gemeinde
Buchs vom 10. Februar 1913 im März 1933 einen Überbauungsplan für dieses
Quartier zur öffentlichen Auflage.

    Danach fiel die Liegenschaft des Klägers zum grösseren Teil
in das Gebiet einer projektierten Strasse und wurde demgemäss mit
Baulinien belastet, was die in Art. 40 des Baureglementes umschriebene
Baubeschränkung zur Folge hatte. Der Kläger erhob Einsprache gegen diesen
Überbauungsplan, wurde damit aber durch Rekursentscheid des Regierungsrates
des Kantons St. Gallen vom 30. Juni 1933 abgewiesen. Der Regierungsrat
stellte sich auf den Standpunkt, es handle sich beim angefochtenen
Überbauungsplan um die zeichnerische Festlegung öffentlich-rechtlicher
Baubeschränkungen, die in Anwendung von Art. 702 ZGB und Art. 148
st. gallisches EG z. ZGB von den Gemeinden aufgestellt werden dürfen;
Heinrich Büchel werde in der Verfügung über sein Eigentum dadurch nicht
erheblich eingeschränkt.

    Am 20. August 1935 reichte der Gemeinderat von Buchs dem Regierungsrat
den bereinigten Überbauungsplan für das Gebiet "Mühle-Äule" zur Genehmigung
ein. Der Regierungsrat erteilte die Genehmigung am 21. September 1935. Es
ist nicht bestritten, dass dieser Überbauungsplan eine über den bestehenden
Zustand hinausgehende bauliche Verwertung der Parzelle des Klägers nicht
mehr ermöglichte. Eine vom Gemeinderat beschlossene kleine Abänderung, die
den Kläger indessen nicht berührte, wurde vom Regierungsrat am 18. April
1944 genehmigt.

    Da die Ausführung der Bahnunterführung und der geplanten Strasse,
welche die Liegenschaft des Klägers beansprucht hätte, auf sich
warten liess, wurden Heinrich Büchel bzw. seine Anwälte wiederholt
beim Gemeinderat Buchs und beim kantonalen Baudepartement vorstellig
und drängten auf eine endgültige Lösung. Mit Brief vom 23. Dezember
1937 antwortete das Baudepartement, das Projekt einer Bahnunterführung
bedürfe wegen der Kostenfrage noch weiterer Abklärung, so dass auf
den Überbauungsplan, der die Ausführbarkeit der Unterführung sichere,
vorläufig nicht verzichtet werden könne.

    Am 25. August 1947 hob der Regierungsrat auf Antrag des Gemeinderates
Buchs den Überbauungsplan Mühleäuli auf und genehmigte den neuen
Überbauungsplan für das "Kappeli- (und Mühleäuli-)quartier". Es ist
unbestritten, dass dieser neue Überbauungsplan auf den Strassenzug, der
nach dem früheren Plan die Parzelle des Klägers erfasst hätte, verzichtet
und keine Baubeschränkung mehr zu Lasten dieser Parzelle vorsieht.

    Nachdem sich der Kläger wiederum über die Baubeschränkung wegen
der geplanten Bahnunterführung beschwert hatte, antwortete ihm das
Baudepartement am 22. Februar 1949, es seien nun vier verschiedene Projekte
vorhanden, von denen nur eines seine Liegenschaft erfasse, so dass es
möglich sei, dass diese Liegenschaft bald "aus jeder Baubeschränkung"
entlassen werden könne, zur Zeit könne indessen unmöglich eine verbindliche
Zusicherung hierüber gegeben werden. Auf eine weitere Intervention des
Klägers antwortete das Baudepartement am 1. Oktober 1949, es tue sein
Möglichstes, um die Sache zu fördern, es sei aber schwer, die verschiedenen
Interessen unter einen Hut zu bringen, das Departement könne daher im
jetzigen Stadium noch nicht abschliessend Stellung nehmen. Mit Schreiben
vom 24. Oktober 1950 berichtete es dem Kläger, es sei bis jetzt leider noch
nicht gelungen, einen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen zu
erzielen; einerseits wolle man den Kläger nicht weiterhin entschädigungslos
in der Verwertung seiner Liegenschaft einschränken, anderseits werde aber
seine Liegenschaft voraussichtlich für die Verwirklichung der Unter-
oder Überführung doch benötigt, der Kanton sei daher nicht abgeneigt,
durch den Kauf der Liegenschaft zu einem angemessenen Preis eine Lösung
herbeizuführen.

    Mit Eingabe vom 12. Mai 1951 stellte der Kläger beim Baudepartement das
Begehren, entweder die Bausperre aufzuheben und ihm für den entstandenen
Schaden angemessenen Ersatz zu leisten, oder dann solle der Staat die
Liegenschaft kaufen oder gegen volle Entschädigung expropriieren.

    Am 3. Dezember 1951 teilte das Baudepartement dem Anwalt des Klägers
mit, dass es dessen Liegenschaft für den Umbau freigebe und auf deren
Erwerb verzichte.

    Mit Schreiben vom 26. April 1952 meldete der Kläger beim Baudepartement
Schadenersatzansprüche wegen der während 18 Jahren bestandenen Bausperre
an.

    Am 16. Juli 1952 teilte das Baudepartement dem Kläger mit, dass
der Überbauungsplan "Mühleäuli" der Gemeinde Buchs, der eine bauliche
Veränderung der Liegenschaft des Klägers über den bestehenden Zustand
hinaus fast völlig ausgeschlossen habe, am 25. August 1947 aufgehoben
worden sei. "Vom Gesichtspunkte der Staatsstrasse" komme noch hinzu, "dass
die Schweizerischen Bundesbahnen nun vorgesehen haben, den internationalen
Güterbahnhof talabwärts zu verlegen, so dass der bestehende Niveauübergang
wesentlich entlastet wird. Wir haben daher keine Veranlassung, ein Projekt
über eine Über- oder Unterführung in Aussicht zu nehmen". Auf Grund
dieser rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse sei das Baudepartement
der Auffassung, dass Heinrich Büchel keinen Rechtsgrund habe, vom Kanton
irgend eine Entschädigung zu verlangen.

    B.- Am 27. August 1954 reichte Heinrich Büchel gestützt auf Art. 42
OG eine direkte Klage beim Bundesgericht gegen den Kanton St. Gallen ein,
mit der er Schadenersatz im Betrage von Fr. 50'000.-- nebst 5% Zinsen seit
3. Dezember 1952 geltend macht. Diese Klage begründet er im wesentlichen
damit, dass ihn schon vor der Aufhebung des ersten Überbauungsplanes
vom Jahre 1935 der Kanton St. Gallen selbständig auf die Baubeschränkung
verpflichtet und auch nachher bis zum 3. Dezember 1951 daran festgehalten
habe. Diese Bausperre, die sich schliesslich als überflüssig und nutzlos
erwiesen habe, habe ihm während 18 Jahren verunmöglicht, seine Liegenschaft
baulich auszuwerten, und stelle eine materielle Enteignung dar. Für den
ihm hieraus entstandenen Schaden hafte der Kanton. In rechtlicher Beziehung
wird auf ein Privatgutachten von Prof. Ruck vom 27. Juni 1953 verwiesen.

    C.- Der Kanton St. Gallen beantragt in erster Linie, auf die Klage
wegen Unzuständigkeit des Bundesgerichts nicht einzutreten, eventuell
sie abzuweisen. Zur Unzuständigkeitseinrede wird ausgeführt, aus dem
Gutachten Ruck sei zu schliessen, dass der Kläger seine Klage offenbar
auf eine analoge Anwendung von Art. 8 Ziff. 3 und Art. 12 des kantonalen
Expropriationsgesetzes stützen wolle, dass er also eine Entschädigung
für den sogenannten Expropriationsbann geltend machen wolle. Es handle
sich somit um eine Expropriationsstreitigkeit. Nach dem Recht des Kantons
St. Gallen stehe sowohl im formellen Expropriationsverfahren wie auch im
Falle einer materiellen Enteignung der kantonale Rechtsweg ohne weiteres
offen (Art. 55 Ziff. 7 lit. a Zivilrechtspflegegesetz in der Fassung von
Art. 221 des kantonalen Organisationsgesetzes vom 29. Dezember 1947). Auf
Grund von Art. 42 Abs. 2 OG sei daher auf die Klage nicht einzutreten.

    D.- In der Replik und Duplik halten die Parteien an ihren Anträgen und
Standpunkten fest. Der Kläger bestreitet die Unzuständigkeitseinrede und
macht hiezu geltend, es liege keine "eigentliche Expropriationsstreitigkeit
vor, obwohl die Bestimmungen über den Enteignungsbann analog
anzuwenden sind". Unwesentlich sei, dass nicht nur im formellen
Expropriationsverfahren, sondern auch im Falle einer materiellen Enteignung
der kantonale Rechtsweg offen stehe. Art. 42 Abs. 2 OG habe nur dann
die direkte Klage beim Bundesgericht ausschliessen wollen, wenn es sich
um eine formelle Expropriation handle, für die das kantonale Recht ein
besonderes Enteignungsverfahren vorsehe.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 42 Abs. 1 OG beurteilt das Bundesgericht als einzige
Instanz zivilrechtliche Streitigkeiten zwischen einem Kanton einerseits
und Privaten oder Korporationen anderseits, wenn eine Partei es
rechtzeitig verlangt und der Streitwert wenigstens Fr. 4000.-- beträgt,
ohne Unterschied, ob die Streitigkeiten nach der kantonalen Gesetzgebung
im ordentlichen Prozessverfahren oder in einem besonderen Verfahren vor
besonderen Behörden auszutragen wären.

    Der Beklagte bestreitet mit Recht nicht, dass die vorliegende Klage
eine Zivilstreitigkeit im Sinne dieser Gesetzesbestimmung zum Gegenstand
hat. Die streitige Forderung wird, wie sich aus dem Gutachten Ruck,
auf das der Kläger zur rechtlichen Begründung verweist, und aus der
Replik unzweideutig ergibt, zwar darauf gestützt, dass die dem Kläger
auferlegte Baubeschränkung eine materielle Enteignung darstelle,
für die er Anspruch auf Entschädigung habe, und stellt daher nach
heutiger Rechtsauffassung zweifellos einen öffentlich-rechtlichen
Entschädigungsanspruch dar. Art. 42 OG geht aber bei der Abgrenzung
zwischen zivilrechtlichen und öffentlichrechtlichen Ansprüchen nicht von
der innern Natur des Rechtsverhältnisses und der Rechtsnorm aus, von denen
es beherrscht wird, sondern von einer historischen Auslegung des Begriffes
der Zivilrechtsstreitigkeit. Zivilrechtlich im Sinne dieser Vorschrift
ist, was nach der Grenzziehung zwischen privatem und öffentlichem Recht,
wie sie bei Erlass von Art. 110 BV, den Art. 42 OG ausführt, galt, als
zivilrechtlich betrachtet wurde (BGE 71 II 173, 78 I 380, 78 II 26, 79 II
432, 80 I 245; BIRCHMEIER, Organisation der Bundesrechtspflege, S. 66,
68 ff.). Als zivilrechtlich galt zwar damals nicht der Streit über die
Abtretungspflicht, wohl aber der Anspruch auf Enteignungsentschädigung,
sowohl bei der formellen wie bei der materiellen Enteignung (BGE 31
II 552). Die streitige Forderung hat daher als zivilrechtlich im Sinne
von Art. 42 OG zu gelten.

Erwägung 2

    2.- Art. 42 Abs. 1 OG gilt nach Abs. 2 jedoch nicht für
"Expropriationsstreitigkeiten". Nach der Entstehungsgeschichte wurde diese
Ausnahmebestimmung in den damaligen Art. 48 Ziff. 4 Abs. 2 OG von 1893
aufgenommen im Hinblick auf die bisherige Praxis des Bundesgerichtes,
wonach unter zivilrechtlichen Streitigkeiten, die direkt vor das
Bundesgericht gebracht werden können, nur solche Rechtssachen verstanden
wurden, die nach Massgabe der einschlägigen kantonalen Gesetzgebung
im ordentlichen Prozessweg auszutragen sind, nicht aber auch solche,
für die das kantonale Recht ein besonderes Verfahren vorsieht. Diese als
zu eng empfundene Auslegung wurde zwar in Art. 48 Ziff. 4 Abs. 1 OG von
1893 durch den Zusatz "ohne Unterschied, ob die Streitigkeiten nach der
kantonalen Gesetzgebung im ordentlichen Prozessverfahren auszutragen
sind oder ob dafür ein besonderes Verfahren vor besonderen Behörden
vorgeschrieben ist" ausgeschlossen. Anderseits beschloss jedoch die
vorberatende Expertenkommission entgegen dem Vorschlage des Verfassers
des Revisionsentwurfes, des Bundesrichters Hafner, und des Bundesrates,
Expropriationsstreitigkeiten von der direkten Klage an das Bundesgericht
auszunehmen, "weil sie in den Kantonen nach einem besonderen Verfahren
erledigt werden". Dieser Ausschluss von Expropriationsstreitigkeiten wurde
Gesetzesinhalt (Botschaft des Bundesrates zum OG von 1893, BBl 1892 II
S. 300 Ziff. 2 und S. 303; SCHURTER und FRITZSCHE, Das Zivilprozessrecht
des Bundes I S. 275, BIRCHMEIER, aaO, S. 582/3). Man hielt also
offenbar die direkte Klage angesichts der besonderen Ausgestaltung des
Expropriationsverfahrens durch die Kantone für entbehrlich und wollte wohl
auch noch drohender Überlastung des Bundesgerichtes vorbeugen (HAUSER,
Das Expropriationsverfahren nach zürcherischem und eidgenössischem Recht,
S. 102 f.). Nach der von jener Expertenkommission geäusserten Meinung
würde somit eine Expropriationsstreitigkeit im Sinne von Art. 48 Ziff. 4
Abs. 2 OG von 1893 nur dann vorliegen, wenn das kantonale Recht dafür ein
besonderes, formelles Expropriationsverfahren kennt. Diese Bestimmung ging
inhaltlich unverändert in Art. 42 Abs. 2 des geltenden OG von 1943 über
(Botschaft des Bundesrates, BBl 1943 II S. 117 oben).

    Im Hinblick auf diese Entstehungsgeschichte erklärte das
Bundesgericht, Art. 48 Ziff. 4 OG von 1893 schliesse "eigentliche"
Expropriationsstreitigkeiten ausdrücklich aus, "nicht etwa, weil Zweifel
über deren zivilrechtlichen Charakter bestanden hätten, sondern weil
und soweit in den Kantonen hiefür ein besonderes Verfahren besteht,
neben welchem eine konkurrierende Kompetenz des Bundesgerichts als
unzweckmässig und entbehrlich erschien"; das Bundesgericht wäre daher nur
dann unzuständig, "wenn es sich nicht bloss um eine ihrer rechtlichen
Natur nach dem Entschädigungsanspruch des Expropriaten verwandte,
sondern um eine eigentliche Expropriationsstreitigkeit, d.h. um eine
nach positivem kantonalem Recht im besonderen Expropriationsverfahren
zu erledigende Streitigkeit handeln würde" (BGE 31 II 553). Fehlt ein
solches besonderes Verfahren oder umfasst es nur einen ganz bestimmten,
eng begrenzten Kreis von Eingriffen in das Privateigentum, z.B. nicht auch
enteignungsähnliche Tatbestände (sog. materielle Enteignung), so sind nach
der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichts die Voraussetzungen für
die Einschränkung der direkten Klage an das Bundesgericht nicht erfüllt
(BIRCHMEIER, aaO, S. 584; Urteile vom 13. November 1935 i.S. Felder
E. 1, S. 10, vom 10. Oktober 1946 i.S. von Schulthess E. 5, und vom
20. März 1947 i.S. Reformierte Teilkirchgemeinde Möriken E. 6, S. 14;
BOSSHARDT, Die Eigentumsgarantie, S. 89; HAUSER, aaO, S. 102 f.). Wie
bereits ausgeführt, gründet sich die vorliegende Schadenersatzklage
ausschliesslich auf eine angebliche materielle Enteignung. Ein anderer
Haftungsgrund, etwa aus Verantwortlichkeit für widerrechtliches Handeln
der Behörden, wird nicht geltend gemacht. Nach der Klageantwort des
Regierungsrates stellt der Kanton St. Gallen das besondere (formelle)
Enteignungsverfahren vor der Schätzungskommission nur für klassische
Expropriationen zur Verfügung (Art. 1 und 13 Expropriationsgesetz vom
24. Mai 1898), während Ansprüche aus materieller Enteignung im ordentlichen
Prozessverfahren geltend zu machen sind (Art. 55 Ziff. 7 lit. a des
Gesetzes über die Zivilrechtspflege in der Fassung von Art. 221 des
kantonalen Organisationsgesetzes vom 29. Dezember 1947). Bei Festhalten
an der bisherigen Auslegung der die direkte Klage beim Bundesgericht
ausschliessenden Expropriationsstreitigkeiten im Sinne von Art. 42 Abs. 2
OG wäre daher die vorliegende Klage zulässig. Indessen ist zu prüfen,
ob an dieser Rechtsprechung weiterhin festgehalten werden könne.

Erwägung 3

    3.- Für die Auslegung des in Art. 42 Abs. 2 OG verwendeten Ausdruckes
"Expropriationsstreitigkeiten" kommt den Gesetzesmaterialien keine
verbindliche Kraft zu. Wie das Bundesgericht wiederholt erklärt hat,
ist nicht massgebend, was in den Gesetzesmaterialien steht oder was bei
der Gesetzesberatung in der gesetzgebenden Behörde gesagt wurde, sondern
was dem Gesetz im Lichte allgemeiner Rechtsanschauung zu entnehmen ist,
wobei die gegenwärtigen Verhältnisse zu berücksichtigen sind (BGE 63 II
155, 78 I 30, 79 I 20).

    Unter den Wortlaut des Art. 42 Abs. 2 OG lassen sich zwanglos alle
Streitigkeiten subsumieren, welche die Entschädigung für die Entziehung
oder Minderung von Eigentumsrechten zu Gunsten öffentlicher Unternehmungen
durch das Gemeinwesen zum Gegenstand haben, also sowohl Ansprüche aus
der formellen wie aus materieller Enteignung und ohne Rücksicht darauf,
ob der betreffende Kanton dafür ein besonderes formelles Verfahren
(vor einer Schätzungskommission mit der Weiterzugsmöglichkeit an
das Gericht) oder nur den ordentlichen Prozessweg zur Verfügung
stellt. Der Wortlaut des Gesetzes zwingt umso weniger zur bisherigen
einschränkenden Auslegung des Begriffes "Expropriationsstreitigkeiten"
in dem Sinne, dass darunter nur die in einem besonderen kantonalen
Expropriationsverfahren zu erledigenden Streitigkeiten zu verstehen seien,
als Abs. 1 des Art. 42 eine derartige Unterscheidung mit Bezug auf die
Art des kantonalen Verfahrens ausdrücklich ausschliesst und Abs. 2 in
dieser Beziehung nichts Gegenteiliges bestimmt. Abgesehen davon vermag
die historische Begründung, dass nur insoweit, als die Kantone ein
besonderes Expropriationsverfahren aufgestellt haben, eine konkurrierende
Kompetenz des Bundesgerichts als unzweckmässig und entbehrlich erscheine,
deswegen sachlich nicht zu befriedigen, weil sie für die Bestimmung
des Begriffs der Expropriationsstreitigkeit entscheidend auf ein rein
äusserliches, mit der Rechtsnatur des streitigen Anspruches nicht in
notwendigem Zusammenhang stehendes, formelles Element abstellt, nämlich
auf die Ausgestaltung des zur Austragung des Streites zur Verfügung
stehenden kantonalen Verfahrens. Von der Art dieses Verfahrens, das
die Kantone frei regeln können (Art. 64 Abs. 3 BV) und das daher von
Kanton zu Kanton verschieden sein kann (vgl. HAUSER, aaO, S. 88 unten;
IMBODEN, Der Schutz der Eigentumsgarantie, in Festschrift für Fritzsche,
S. 57 N. 34), hängt es nach der bisherigen Rechtsprechung ab, ob die
direkte Klage an das Bundesgericht möglich sei oder nicht. Konsequent
durchgedacht führt diese Auslegung dazu, dass nicht einmal streitige
Entschädigungsansprüche aus einer formellen Enteignung unter die
Expropriationsstreitigkeiten des Art. 42 Abs. 2 OG fallen, wenn der
betreffende Kanton dafür kein besonderes Verfahren, sondern nur den
ordentlichen Prozessweg zur Verfügung stellt. Anderseits können in
Kantonen, die nicht nur Ansprüche aus formeller, sondern auch solche
aus materieller Enteignung in ein besonderes Verfahren verweisen, bei
konsequenter Durchführung der bisherigen Rechtsprechung auch diese nicht
direkt vor das Bundesgericht gebracht werden, während dies in Kantonen,
die solche Streitigkeiten vor den ordentlichen Richter verweisen,
möglich ist. Es besteht also zweierlei Recht für die Angehörigen von
Kantonen mit und solcher ohne besonderes Verfahren für die Beurteilung
der Enteignungsentschädigung (vgl. HAUSER, a.a. O., S. 103 N. 19). Diese
sachlich nicht gerechtfertigten Ungleichheiten in der Möglichkeit der
direkten Anrufung des Bundesgerichts, die sich aus der bisherigen Auslegung
des Art. 42 Abs. 2 OG ergeben, sind umso stossender, als sie ausserdem
eine unterschiedliche Überprüfungsbefugnis des Bundesgerichts je nach der
Ausgestaltung des kantonalen Verfahrens nach sich ziehen. Wenn nämlich
der Kanton kein besonderes formelles Verfahren aufstellt und die direkte
Klage an das Bundesgericht möglich ist, dann steht diesem eine freie
Überprüfungsbefugnis zu. Ist aber ein besonderes Verfahren vorgesehen,
dann ist die direkte Anrufung des Bundesgerichts ausgeschlossen;
vielmehr muss das kantonale Verfahren durchgeführt werden, wobei gegen
die letztinstanzliche kantonale Entscheidung nur die staatsrechtliche
Beschwerde wegen Verletzung der Eigentumsgarantie und willkürlicher
Anwendung der kantonalen Gesetze an das Bundesgericht offen steht. Dabei
fällt praktisch die erste dieser beiden Rügen meistens mit der zweiten
zusammen, so dass dem Bundesgericht insoweit keine freie, sondern nur
eine Überprüfung unter dem beschränkten Winkel der Willkür zusteht.

    Angesichts dieser Konsequenzen der bisherigen Gesetzesauslegung
drängt es sich auf, sie aufzugeben, zumal sie im Gesetzestext keine
Stütze findet. Die genannten stossenden Rechtsungleichheiten lassen
sich vermeiden, wenn der Begriff "Expropriationsstreitigkeiten" nicht im
Hinblick auf das gerade in Frage stehende kantonale Verfahren, sondern
nach der innern Natur dieser Streitigkeiten ausgelegt wird. Dabei wäre es
aber auch unbefriedigend, wenn nur Entschädigungsansprüche aus formeller
Enteignung darunter verstanden würden. Solche aus materieller Enteignung
könnten dann auf dem Wege der direkten Klage gemäss Art. 42 OG vor das
Bundesgericht gebracht und von ihm in jedem Falle frei überprüft werden,
während Ansprüche aus normalen formellen Enteignungsfällen lediglich auf
dem Wege der staatsrechtlichen Beschwerde mit der in der Regel beschränkten
Kognitionsbefugnis des Bundesgerichts an dieses weiterziehbar wären,
so dass also für jene ein besserer Rechtsschutz bestünde als für
den Normalfall der formellen Enteignung. Dieses Ergebnis wäre umso
unbefriedigender, als die Grenze zwischen formeller und materieller
Enteignung oft schwer zu ziehen und fliessend ist (HAAB, Privateigentum
und materielle Enteignung, S. 17 ff., insbesondere S. 19/20). Das alles
lässt sich vermeiden, wenn der Ausdruck "Expropriationsstreitigkeiten"
in Art. 42 Abs. 2 OG nicht auf Enteignungsansprüche aus formellen
Enteignungsverfahren beschränkt, sondern, wie es der Wortlaut ohne weiteres
zulässt, weiter ausgelegt wird und darunter auch Streitigkeiten über
Entschädigungsansprüche aus materieller Enteignung verstanden werden. Auf
dem Boden dieser weiteren Auslegung steht offensichtlich auch IMBODEN, aaO,
S. 57, wo er ausführt: "Auszuschliessen ist aber auch die Geltendmachung
des Entschädigungsanspruches (gemeint ist derjenige aus materieller
Enteignung) durch direkte zivilrechtliche Klage beim Bundesgericht." Zur
Begründung führt er ebenda in N. 36 aus, die Zulassung der direkten Klage
beim Bundesgericht würde eine vom Gesetzgeber in diesem Fall gewiss nicht
gewollte Konkurrenz mit der staatsrechtlichen Beschwerde schaffen.

    Darin, dass bei Abs. 2 des Art. 42 OG die bisherige historische
Auslegung aufgegeben, sie aber mit Bezug auf den Begriff der
zivilrechtlichen Streitigkeiten in Abs. 1 angewendet wird, liegt
keine Inkonsequenz. Abs. 1 ist - im Unterschied zu Abs. 2 - einfach
die Ausführung von Art. 110 Ziff. 4 BV, und im Zeitpunkt des Erlasses
der Verfassung galt der Anspruch auf Entschädigung aus der formellen
und materiellen Enteignung allgemein als zivilrechtlich. Die bisherige
einschränkende Auslegung von Abs. 2 des Art. 42 OG dagegen stützt sich
nicht darauf, was im Zeitpunkt des Erlasses des Gesetzes allgemein
als Expropriationsstreitigkeit betrachtet wurde, sondern auf ein
Unterscheidungsmerkmal, das weder in der Verfassung noch im Gesetzestext
eine Stütze findet.

    Auf Grund dieser Erwägungen ist auf die vorliegende Klage nicht
einzutreten.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Auf die Klage wird nicht eingetreten.