Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 81 IV 81



81 IV 81

18. Urteil des Kassationshofes vom 6. Mai 1955 i. S. Staatsanwaltschaft
des Kantons Zürich gegen Schärer. Regeste

    Art. 31 Abs. 1 StGB. Nach der Verkündung eines zürcherischen
Versäumnisurteils erster Instanz kann der Strafantrag auch dann nicht
mehr zurückgezogen werden, wenn es auf Begehren des Verurteilten hin
aufgehoben worden ist.

Sachverhalt

    A.- Auf Strafantrag des Juan Jolis verurteilte das Bezirksgericht
Zürich Ernst Schärer am 14. Januar 1954 in Abwesenheit des Angeklagten
wegen Zechprellerei (Art. 150 StGB) zu vier Wochen Gefängnis.

    Schärer wurde zwecks Verbüssung der Strafe zur Verhaftung
ausgeschrieben, festgenommen und dem Polizeikommando des Kantons Zürich
zugeführt. Dort wurde ihm am 24. Juni 1954 das Urteil eröffnet. Am gleichen
Tage verlangte Schärer die Durchführung des ordentlichen Verfahrens und
überreichte eine schriftliche Erklärung des Jolis, wonach dieser den
Strafantrag zurückziehe. Am 26. August 1954 hob daher das Bezirksgericht
das Urteil vom 14. Januar 1954 auf und schrieb den Prozess als durch
Rückzug des Strafantrages erledigt ab.

    Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich rekurrierte an das
Obergericht mit dem Antrag, der Beschluss sei aufzuheben und das
Bezirksgericht anzuweisen, die Sache durch Urteil zu erledigen. Das
Obergericht wies den Rekurs am 31. Januar 1955 ab. Zur Begründung führte
es aus, ein Versäumnisurteil stehe nicht einem Strafbefehl gleich,
nach dessen Verkündung gemäss BGE 78 IV 151 der Strafantrag nicht
mehr zurückgezogen werden könne. Der Strafbefehl schaffe nach Ablauf
einer kurzen Einsprachefrist einen klaren Rechtszustand, während das
Versäumnisurteil einen Schwebezustand von unbestimmter Dauer bewirken
könne. Auch bringe das Begehren um Durchführung des ordentlichen
Verfahrens das Versäumnisurteil nicht vor eine höhere oder eine andere
Instanz als jene, die es gefällt habe. Zudem spiele das ordentliche
Verfahren sich nach den gleichen Vorschriften ab wie das Verfahren gegen
den Abwesenden. Es müsse also als erstinstanzliches Verfahren im Sinne
von Art. 31 Abs. 1 StGB betrachtet werden. Das habe zur Folge, dass der
Strafantrag noch im Verlaufe des ordentlichen Verfahrens zurückgezogen
werden könne.

    B.- Die Staatsanwaltschaft führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem
Antrag, der Beschluss des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache zur
materiellen Beurteilung zurückzuweisen. Sie macht geltend, der Beschluss
verletze Art. 31 Abs. 1 StGB.

    C.- Schärer, dem die Beschwerdeschrift eingeschrieben zur
Vernehmlassung zugestellt worden ist, hat die Sendung auf der Post nicht
abgeholt und keine Gegenbemerkungen eingereicht.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Berechtigte kann einen Strafantrag nur zurückziehen, solange
das Urteil erster Instanz noch nicht verkündet ist (Art. 31 Abs. 1 StGB).

    Urteil im Sinne dieser Bestimmung ist jeder Entscheid der zuständigen
Behörde, der verbindlich darüber erkennt, ob der Beschuldigte sich einer
strafbaren Handlung schuldig gemacht hat, und der gegebenenfalls die
Rechtsfolgen bestimmt, die diese Handlung nach sich zieht (BGE 78 IV 151
und 81 IV 14).

    Verbindlich erkannt hat die Behörde nicht nur dann, wenn ihr Entscheid
von keiner Partei mehr angefochten werden kann, sondern schon dann,
wenn die Behörde nicht mehr von sich aus auf ihn zurückkommen kann,
wie das bei Verfügungen prozessleitender Natur, z.B. einer vorläufigen
Meinungsäusserung des Richters zur Einrede der Verjährung (vgl. BGE 72 IV
89 f.), zutrifft; denn indem Art. 31 Abs. 1 StGB von einem Urteil erster
Instanz spricht, ist die Bestimmung insbesondere gerade für jene Fälle
aufgestellt worden, in denen der Entscheid von einer Partei angefochten
und daher das Verfahren fortgesetzt wird. Ein Urteil liegt selbst dann vor,
wenn die Behörde, die es gefällt hat, auf Begehren einer Partei die Akten
nicht einer anderen, insbesondere einer oberen Behörde übermitteln, sondern
das weitere Verfahren selber durchführen muss. Art. 31 Abs. 1 verlangt
nicht, dass das Urteil in der betreffenden (ersten) Instanz der letzte,
endgültige Entscheid sei. Indem die Bestimmung von einem Urteil erster
Instanz spricht, will sie lediglich sagen, dass der Strafantrag nicht
etwa noch bis zur Verkündung des Endurteils, das diesfalls gewöhnlich
erst von einer oberen Instanz gefällt wird, zurückgezogen werden könne,
sondern schon die Verkündung eines erstinstanzlichen Urteils genüge, um
dem Antragsteller den Rückzug abzuschneiden. Der Grund, weshalb Art. 31
Abs. 1 diesen von einem gewissen Zeitpunkt an nicht mehr zulässt, liegt
nicht etwa darin, dass Abschreibungsbeschlüsse zwar noch der unteren,
nicht aber mehr der oberen Instanz zugemutet werden können, sondern
darin, dass der Verletzte sich nicht erst durch die in einem verbindlichen
Entscheide zum Ausdruck gekommene Auffassung der zuständigen Behörde, sei
es auch bloss einer ersten Instanz, zum Rückzug entschliessen soll. Die
Bestimmung will das ominöse Markten zwischen Täter und Verletztem um den
Rückzug des Strafantrages ausschliessen, nachdem der Staat durch eine
Behörde über die Rechtsfolgen der strafbaren Handlung entschieden und das
Urteil verkündet hat (Prot. 2. ExpK 1 178 f., Votum Geel). Deshalb stellt
Art. 31 Abs. 1 denn auch weder auf den Ablauf einer Rechtsmittelfrist,
noch auf die Fällung des Urteils, sondern auf dessen Verkündung ab,
durch die die Parteien erfahren, wie es um die Sache steht.

Erwägung 2

    2.- Das zürcherische Gesetz betreffend den Strafprozess bestimmt:

    "Bleibt ein Angeklagter ohne genügende Entschuldigung aus, oder lässt
er sich, wenn das persönliche Erscheinen nicht nötig ist oder erlassen
wurde, nicht vertreten, so wird das Urteil auf Grund der Akten gefällt"
(§ 195 Abs. 1).

    "Das Gericht kann in diesem Falle den Angeklagten verurteilen oder
freisprechen oder auch die Beurteilung der Sache so lange verschieben,
bis der Angeklagte sich stellt oder ergriffen wird" (§ 196 Satz 1).

    "Wird ein Angeklagter, der in seiner Abwesenheit verurteilt wurde,
ergriffen oder stellt er sich freiwillig, so fällt auf sein Verlangen das
Urteil dahin und es wird das ordentliche Verfahren durchgeführt, wenn er
das Begehren binnen fünf Tagen von der Übergabe des Urteilsdispositivs
an stellt.

    War dem Angeklagten das Erscheinen vor Gericht erlassen (§ 172),
so kann er die Wiederaufnahme nicht verlangen" (§ 197).

    Aus diesen Bestimmungen ergibt sich, dass die Verurteilung
eines Abwesenden nicht lediglich prozessleitende Verfügung ist,
auf die das Gericht nach Belieben zurückkommen könnte. Nur das
Wiedereinsetzungsbegehren des Angeklagten (oder die Ergreifung eines
ordentlichen Rechtsmittels durch eine Partei gemäss §§ 395 ff. StPO) kann
es zu Fall bringen. Es liegt daher ein verbindlicher, wenn auch nicht
notwendigerweise endgültiger Entscheid über die Schuld des Angeklagten
und deren Rechtsfolgen, also ein Urteil im Sinne des Art. 31 Abs. 1
StGB vor. Dass bis zu seiner Verkündung ein unbestimmte Zeit dauernder
"Schwebezustand" besteht, weil erst sie die fünftägige Frist zur Stellung
des Wiedereinsetzungsbegehrens in Gang bringt, ändert nichts; denn
die Behörde bleibt während dieses Zustandes nichtsdestoweniger an ihren
Entscheid gebunden. Übrigens bleiben auch andere Urteile "in der Schwebe",
wenn Ausfällung und Verkündung nicht zeitlich zusammenfallen. Dass dieser
Zustand bei der Verurteilung eines Abwesenden unbestimmte Zeit dauern
kann, wenn der Aufenthaltsort des Verurteilten nicht bekannt ist, ist
keine Besonderheit, die dem Entscheid die Natur eines Urteils zu nehmen
vermöchte. Ebensowenig geht ihm diese Eigenschaft deshalb ab, weil nach
der Stellung des Wiedereinsetzungsbegehrens die gleiche Behörde und nach
gleichen Verfahrensvorschriften urteilen muss wie bei Verurteilung des
Abwesenden.

    Der Rückzug des Strafantrages war daher nicht mehr zulässig, nachdem
das Urteil vom 14. Januar 1954 dem Beschwerdegegner am 24. Juni 1954
verkündet war. Ob nicht schon die Verkündung an die Staatsanwaltschaft
den Rückzug ausgeschlossen hätte, kann dahingestellt bleiben.

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Obergerichts des Kantons Zürich vom 31. Januar 1955 aufgehoben und die
Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.