Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 81 IV 70



81 IV 70

15. Entscheid der Anklagekammer vom 25. Februar 1955
i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen gegen Justizdirektion des
Kantons Appenzell-A.Rh. Regeste

    Art. 264 BStP, Art. 351 StGB.

    Die Behörden des Kantons, dem auf Grund des in der Anzeige behaupteten
Sachverhaltes die Gerichtsbarkeit zu einer von Amtes wegen anzuhebenden
Strafverfolgung zukäme, haben die für die Bestimmung des Gerichtsstandes
erheblichen Tatsachen abzuklären.

Sachverhalt

    A.- Am 30. Juli 1953 schloss in St. Gallen Hans Brunner als Bauherr mit
Rosa Gyr-Baumann, vertreten durch den Ehemann Josef Gyr, als "Unternehmer
und Bauherr-Vertreter" einen Werkvertrag über die Erstellung eines
Geschäfts- und Wohnhauses in Watt-Niederteufen (Appenzell-A.Rh.) ab.
Danach übernahm Josef Gyr bzw. dessen Ehefrau die Ausführung des Baues für
Fr. 120'000.-- (zuzüglich eine allfällige Kostenüberschreitung von Fr.
5000.--). Auch die Finanzierung des Hauses übernahm Josef Gyr, wobei
die Errichtung von drei Grundpfandverschreibungen über Fr. 85'000.--,
Fr. 20'000.-- und Fr. 15'000.-- vorgesehen war. Durch Zusatzvertrag vom
3. April 1954, abgeschlossen in Watt-Niederteufen, erklärte sich Brunner
unter bestimmten Bedingungen und ohne Anerkennung einer Rechtspflicht
bereit, die Bausumme von Fr. 120'000.-- auf Fr. 148'000.-- zu erhöhen.

    B.- Am 7. Oktober 1954 erhob Brunner beim Untersuchungsrichteramt
St. Gallen Strafklage gegen die Eheleute Gyr wegen Betruges. Er behauptet,
zum Abschluss der Verträge vom 30. Juli 1953 und vom 3. April 1954 durch
betrügerische Machenschaften der Beschuldigten verleitet worden und
dadurch geschädigt zu sein. Die Schädigung sei vor allem eingetreten,
indem Gyr den Erlös aus den in Teufen (Appenzell-A.Rh.) errichteten
Grundpfandtiteln von Fr. 20'000.-- und Fr. 15'000.-- nicht zur Deckung der
Bauhandwerkerforderungen, sondern zur Begleichung eigener Geschäftsschulden
verwendet habe, worauf unbezahlte Bauhandwerker bisher für rund
Fr. 20'000.-- Bauhandwerkerpfandrechte hätten eintragen lassen. Weiter
habe Gyr auf die Verschreibung von Fr. 85'000.-- ohne Einverständnis des
Grundpfandschuldners Brunner einen Einschlag von Fr. 7000.-- gewährt.

    C.- Eine weitere Strafklage gegen Rosa Gyr, und zwar wegen
Pfändungsbetruges, eventuell wegen leichtsinnigen Vermögensverfalls,
wurde beim Untersuchungsrichteramt St. Gallen am 20. November 1954 von
Frau Schönenberger, Malergeschäft St. Gallen, erhoben.

    D.- Das Untersuchungsrichteramt St. Gallen hielt sich für unzuständig,
die Eheleute Gyr zu verfolgen. Es nahm an, der in St. Gallen abgeschlossene
Werkvertrag sei höchstens als Vorbereitungshandlung für die betrügerischen
Machenschaften des Gyr zu betrachten; diese, wie die Schädigung, wären
in Teufen erfolgt, weshalb die appenzellischen Behörden zuständig seien.

    E.- Da das Verhöramt des Kantons Appenzell-A.Rh. die Übernahme der
Strafverfolgung ablehnte, ersuchte die Staatsanwaltschaft des Kantons
St. Gallen mit Eingabe vom 15. Dezember 1954 die Anklagekammer des
Bundesgerichtes, den zur Verfolgung und Beurteilung der Eheleute Gyr
zuständigen Kanton zu bezeichnen. Die Gesuchstellerin hält daran fest,
dass die Beschuldigten durch die Behörden des Kantons Appenzell-A.Rh. zu
verfolgen seien.

    F.- Die Justizdirektion des Kantons Appenzell-A.Rh.  beantragt,
die Behörden des Kantons St. Gallen zuständig zu erklären.

    Der Strafkläger Hans Brunner schliesst sich diesem Antrag an.

Auszug aus den Erwägungen:

              Die Anklagekammer zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die sanktgallischen und appenzellischen Behörden sind sich einig,
dass jener Kanton, dem die Gerichtsbarkeit für die von Brunner erhobenen
Anschuldigungen zukomme, Frau Gyr auch für die ihr von Frau Schönenberger
zur Last gelegten Taten zu verfolgen und zu beurteilen habe.

Erwägung 2

    2.- Streitig ist, ob die Eheleute Gyr die ihnen von Brunner
vorgeworfene strafbare Handlung nur im Kanton Appenzell-A.Rh. oder auch in
andern Kantonen, vor allem in St. Gallen, ausgeführt haben. Vom Entscheid
über diese Frage hängt ab, ob der Gerichtsstand nach der Regel des Abs. 1
des Art. 346 StGB zu bezeichnen, oder ob dafür Abs. 2 dieser Bestimmung
massgebend sei.

    Nach der Darstellung in der Strafklage war Gyr von Anfang an
entschlossen, Brunner hereinzulegen, und hat er diesen bewusst und gewollt
schon beim Abschluss des Vertrages vom 30. Juli 1953 in St. Gallen
durch die Zusicherung getäuscht, dass er den Bau für Fr. 120'000.--
schlüsselfertig zur Ausführung übernehme. Trifft diese Sachdarstellung
zu, so hat Gyr jedenfalls auch in St. Gallen Handlungen vorgenommen,
die nicht als blosse Vorbereitungshandlungen zu würdigen sind, sondern
zur Ausführung des Verbrechens gehören (vgl. BGE 71 IV 211; 74 IV 133; 75
IV 177). Zuständig zur Verfolgung und Beurteilung der Tat sind in diesem
Falle nach der Regel des Art. 346 Abs. 2 StGB die Behörden des Kantons
St. Gallen, da dort die Untersuchung durch die Einreichung der Strafklage
(vgl. BGE 71 IV 59 Erw. 3) zuerst angehoben worden ist.

Erwägung 3

    3.- Aus den Akten ergibt sich nun aber nicht, ob die angeführte
Sachdarstellung des Strafklägers richtig sei. Anderseits steht es nicht der
Anklagekammer zu, die zur Ermittlung der Ausführungsorte erforderlichen
Erhebungen selber vorzunehmen; sie hat lediglich auf Grund der Akten zu
entscheiden (BGE 73 IV 62 Erw. 2).

    Auf diese Erhebungen kann im vorliegenden Falle auch nicht etwa im
Hinblick auf die Befugnis der Anklagekammer verzichtet werden, gestützt
auf Art. 263 BStP aus Zweckmässigkeitsgründen vom Gerichtsstande des
Art. 346 StGB abzuweichen (BGE 69 IV 43; 71 IV 160). Für eine solche
Entscheidung besteht im vorliegenden Falle kein genügender Anlass, da nach
der Strafklage ein bedeutender Teil der betrügerischen Machenschaften in
St. Gallen begangen worden sein kann. Hier wurde der Vertrag vom 30. Juli
1953 abgeschlossen, welcher die - eine Grundlage des Betruges bildende
- Vollmacht zur Finanzierung des Bauvorhabens enthält. Gleichfalls in
St. Gallen soll die Grundpfandverschreibung von Fr. 15'000.-- mit einem
Einschlag von Fr. 3000.-- übergeben worden sein. Dazu kommt, dass die
Beschuldigten nun im Kanton St. Gallen wohnen und dass sich der Strafkläger
auf dort ansässige Zeugen beruft, worunter vor allem auf den bauleitenden
Architekten, mit dem die Beschuldigten wohl oft in St. Gallen verhandelt
haben. Diese Gründe lassen nicht zu, den Gerichtsstand St. Gallen
von vorneherein auszuschliessen und die Behörden von Appenzell-A.Rh.
zuständig zu erklären, nur weil die wichtigeren Ausführungshandlungen des
Verbrechens in diesem Kanton vorgenommen worden sind (vgl. BGE 71 IV 59).

Erwägung 4

    4.- Es ist demnach unerlässlich, dass vorerst die zur Bestimmung des
Gerichtsstandes nötigen Feststellungen getroffen werden, und zwar obliegt
diese Aufgabe, da nicht ein Antragsdelikt in Frage steht, nicht etwa dem
Strafkläger (BGE 73 IV 63). Es ist vielmehr Sache der sanktgallischen
Behörden, an die sich der Strafkläger Brunner zuerst gewendet hat
(vgl. BGE 71 IV 59 Erw. 3), die Umstände der strafbaren Handlung, die
den Beschuldigten Eheleuten Gyr vorgeworfen wird, soweit abzuklären, als
es für die Bestimmung des Gerichtsstandes erforderlich ist. Stellt sich
dabei heraus, dass die Beschuldigten in St. Gallen eine Ausführungshandlung
vorgenommen haben, so sind die Behörden dieses Kantons verpflichtet, die
Eheleute Gyr für alle ihnen zur Last gelegten strafbaren Handlungen zu
verfolgen und zu beurteilen. Der sanktgallische Gerichtsstand ergibt sich
dann aus Art. 346 Abs. 2 StGB. Falls dagegen die Erhebungen ergeben, dass
die von Brunner verzeigte Tat restlos ausserhalb des Kantons St. Gallen
ausgeführt worden ist, so sind die sanktgallischen Behörden nicht
verpflichtet, die weitere Verfolgung und die Beurteilung zu übernehmen.

Entscheid:

               Demnach erkennt die Anklagekammer:

    Die Behörden des Kantons St. Gallen werden im Sinne der Erwägungen
berechtigt und verpflichtet erklärt, Josef und Rosa Gyr-Baumann zu
verfolgen und zu beurteilen.