Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 81 IV 67



81 IV 67

14. Entscheid der Anklagekammer vom 11. Januar 1955 i. S. Stutz gegen
Generalprokurator des Kantons Bern. Regeste

    Art. 350 Ziff. 1 StGB. Der Kanton, der nach dieser Bestimmung zuständig
ist, darf die in einem anderen Kanton verübten Handlungen ohne dessen
Ermächtigung mitverfolgen.

Sachverhalt

    Dr. Schulthess erhob gegen Heinrich Stutz beim Untersuchungsrichteramt
Bern Ehrverletzungsklage wegen Äusserungen, die Stutz als Zeuge vor dem
Gerichtspräsidenten III in Bern und in einem von Hombrechtikon (Kanton
Zürich) aus an den Anwalt des Klägers gerichteten Brief getan hatte. Der
Generalprokurator des Kantons Bern anerkannte am 15. Dezember 1954 gestützt
auf Art. 350 Ziff. 1 Abs. 2 StGB den bernischen Gerichtsstand. Stutz
ficht diesen Entscheid bei der Anklagekammer des Bundesgerichts mit
Bezug auf die im Kanton Zürich begangene Handlung an. Er anerkennt, dass
beide Handlungen, die Gegenstand der Klage bilden, mit der gleichen Strafe
bedroht sind, bestreitet jedoch, dass er mit Bezug auf die im Brief getane
Äusserung im Sinne des Art. 350 Ziff. 1 Abs. 2 StGB "verfolgt" werde;
denn nur die Behörden des Kantons Zürich seien zuständig, die Verfolgung
dieser Handlung aufzunehmen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Die Anklagekammer zieht in Erwägung:

    Art. 350 Ziff. 1 StGB ordnet den Gerichtsstand beim Zusammentreffen
strafbarer Handlungen. Indem der zweite Absatz dieser Norm die Behörden
des Ortes, wo die Untersuchung zuerst angehoben wird, für die Verfolgung
aller mit der gleichen Strafe bedrohten Handlungen zuständig erklärt,
bestimmt er, dass diese Behörden auch berechtigt und verpflichtet sind,
den Täter wegen der im anderen Kanton verübten Handlungen zu verfolgen
und zu beurteilen. Ihnen steht daher auch zu, zu befinden, ob deren
Verfolgung überhaupt stattzufinden hat. Dies jedenfalls in dem hier
zutreffenden Falle, dass im anderen Kanton über diese Handlungen
weder ein Urteil noch ein Einstellungsbeschluss ergangen ist, der
Grundsatz "ne bis in idem" durch Aufnahme der Verfolgung in dem nach
Art. 350 Ziff. 1 Abs. 2 StGB zuständigen Kanton also nicht verletzt
werden kann. Den Kläger an die Behörden des Tatortes zu weisen, obschon
feststeht, dass diese nach der genannten klaren Bestimmung zur Verfolgung
nicht zuständig sind, weil ein anderer Kanton wegen einer mit gleicher
Strafe bedrohten und in seinem Gebiete verübten Handlung bereits eine
Untersuchung angehoben hat, wäre unsinnig. Die Behörden des nach Art. 350
Ziff. 1 Abs. 2 unzuständigen Kantons müssten sich darauf beschränken,
ihre Unzuständigkeit festzustellen, zumal wenn die Tat nur auf Antrag zu
verfolgen ist und daher die blosse Übermittlung der Akten an den anderen
Kanton diesen nicht notwendigerweise (von Bundesrechts wegen) verpflichtet,
das Verfahren fortzusetzen (vgl. BGE 73 IV 207). Daran ändert der Umstand
nichts, dass der erste Absatz von Art. 350 Ziff. 1, an den der Wortlaut
des zweiten Absatzes anknüpft, mit den Worten beginnt: "Wird jemand
wegen mehrerer, an verschiedenen Orten verübter strafbarer Handlungen
verfolgt, ....." Das heisst nicht, dass Art. 350 Ziff. 1 erst gelte, wenn
an verschiedenen Orten Strafverfahren hängig sind. Es genügt, dass der
Beschuldigte an verschiedenen Orten strafbare Handlungen begangen hat und
die zuständige Behörde sie verfolgen will. Welche Behörde zuständig ist,
sagt aber gerade Art. 350. Einer Ermächtigung der Behörde des Tatortes,
die Verfolgung aufzunehmen, bedarf sie nicht; weder Art. 350 noch eine
andere Bestimmung sieht das vor.

    Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den in BGE 73 IV 205
ff. und 75 IV 139 ff. veröffentlichten Entscheiden, auf die Stutz sich
beruft. Ersterer betrifft einen Fall, in dem ein Kanton einen anderen
nach Art. 346 StGB zur Übernahme einer Strafverfolgung verhalten wollte,
in der Meinung, dessen Behörden hätten ihre Zuständigkeit bestritten,
während sie die Verfolgung lediglich abgelehnt hatten, weil bei ihnen
nicht nach den Vorschriften ihres Prozessrechts Strafantrag gestellt worden
war. Ein Streit um den Gerichtsstand lag dort überhaupt nicht vor. In BGE
75 IV 139 ff. sodann wurde lediglich in Bezug auf den Fall eines negativen
Gerichtsstandskonfliktes, wie er dort zu beurteilen war, ausgeführt,
dass die Entscheidung darüber, ob ein Strafverfahren stattfinden solle,
den Behörden des Tatortes zustehe. Das heisst nach dem Zusammenhange nur,
dass den Behörden eines Kantons nicht eine Gesamtverfolgung nach Art. 350
Ziff. 1 StGB aufgenötigt werden kann im Hinblick auf eine in diesem Kanton
verübte Tat, die sie nicht verfolgen wollen, sei es, dass sie die Eröffnung
des Verfahrens abgelehnt, sei es, dass sie die Verfolgung - bevor der
andere Kanton die Untersuchung wegen der anderen Handlungen angehoben hat
(BGE 76 IV 206 Erw. 3) - eingestellt haben. Diese Auslegung des Gesetzes
versteht sich. Ein Kanton soll nicht wegen Handlungen, die weder nach
Art. 350 noch nach Art. 346 seiner Gerichtsbarkeit unterstehen und die der
zuständige Kanton nicht verfolgen will, sich der Pflicht zur Verfolgung
anderer, im eigenen Gebiete verübter Handlungen entziehen können. Daraus
darf nicht abgeleitet werden, dass er auch nicht befugt sei, eine im
andern Kanton verübte Handlung ohne dessen Ermächtigung gestützt auf
Art. 350 Ziff. 1 zusammen mit den im eigenen Kanton verübten Handlungen
zu verfolgen. Diesen Schluss haben denn auch die kantonalen Behörden in
ihrer Praxis trotz der allgemeinen Fassung von BGE 75 IV 141 nie gezogen.

Entscheid:

               Demnach erkennt die Anklagekammer:

    Das Gesuch wird abgewiesen, und die Behörden des Kantons Bern werden
zuständig erklärt, den Gesuchsteller auch für die im Kanton Zürich verübte
Tat zu verfolgen und zu beurteilen.