Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 81 IV 54



81 IV 54

10. Urteil des Kassationshofes vom 25. März 1955 i.S. Polizeirichteramt
der Stadt Zürich gegen Wüger und Lanker. Regeste

    Art. 65 Abs. 4 MFG bestimmt nicht, dass die mildere Strafbestimmung
des MFG nicht angewendet werden dürfe, wenn der objektive Tatbestand
der strengeren Norm erfüllt ist, diese aber mangels der subjektiven
Voraussetzungen nicht angewendet werden kann.

Sachverhalt

    A.- Am Nachmittag des 18. Juli 1953 fuhr Hans Wüger mit einem
Personenwagen durch die Hohlstrasse in Zürich stadtauswärts. Als er sich
der von rechts einmündenden Zufahrtstrasse zum Güterbahnhof Altstetten
näherte, tauchte von dort her ein von Hans Lanker geführter Lastwagen
auf. Da Lanker etwas weit in die Hohlstrasse hineinfuhr, ehe er anhielt,
um dem Personenwagen den Vortritt zu lassen, bremste Wüger heftig. Der
Personenwagen glitt deshalb auf der nassen Fahrbahn nach links, verletzte
die auf einem Fahrrad stadteinwärts fahrende Frieda Steiner und prallte
an einen Baum.

    B.- Am 10. November 1953 stellte die Bezirksanwaltschaft Zürich
die gegen Wüger und Lanker geführte Strafuntersuchung ein, weil,
soweit fahrlässige Körperverletzung in Frage komme, Frieda Steiner
auf einen Strafantrag verzichtet habe, und weil die wegen Störung des
öffentlichen Verkehrs von Amtes wegen angehobene Untersuchung keinen
zuverlässigen Beweis für ein strafrechtlich erhebliches Verschulden
der beiden Angeschuldigten ergeben habe. In den Erwägungen führte die
Bezirksanwaltschaft aus, die Akten seien dem Polizeirichteramt Zürich
zu überweisen zur Prüfung, ob das Bundesgesetz über den Motorfahrzeug-
und Fahrradverkehr übertreten worden sei.

    Am 21. November 1953 genehmigte die Staatsanwaltschaft des Kantons
Zürich die Verfügung.

    C.- Am 18. Januar 1954 büsste der Polizeirichter der Stadt Zürich Wüger
und Lanker wegen Übertretung des Art. 25 MFG mit je Fr. 20.-. Er warf
ersterem vor, er sei zu schnell gefahren und habe deshalb sein Fahrzeug
nicht beherrscht, letzterem dagegen, er habe es an der nötigen Vorsicht
fehlen lassen.

    Wüger und Lanker verlangten gerichtliche Beurteilung. D.  - Der
Einzelrichter des Bezirksgerichtes Zürich sprach am 23. September
1954 beide frei. Er liess offen, ob der Grundsatz "ne bis in idem" es
ausschliesse, dass ein bestimmter Tatbestand, der unter dem Gesichtspunkt
des Vergehens beurteilt wurde, in einem zweiten Verfahren noch als
Übertretung beurteilt werden dürfe. Er begründete die Freisprechung damit,
dass die Bestätigung der Bussenverfügungen des Polizeirichters gegen
materielles Recht verstossen würde. Durch die rechtskräftig gewordene
Einstellungsverfügung der Bezirksanwaltschaft und der Staatsanwaltschaft
sei verbindlich festgestellt, dass die objektiven Voraussetzungen gegeben
gewesen seien, um auf die Fahrweise der beiden Angeschuldigten Art. 237
StGB anzuwenden. Seien diese der Strafe entgangen, weil ein strafrechtlich
erhebliches Verschulden verneint worden sei, so ändere das nichts daran,
dass damit die heute den Angeschuldigten vorgeworfenen Übertretungen
gemäss Art. 65 Abs. 4 MFG absorbiert blieben und das MFG gesondert nicht
mehr angewendet werden könne.

    E.- Das Polizeirichteramt der Stadt Zürich führt Nichtigkeitsbeschwerde
mit dem Antrag, der Entscheid des Einzelrichters sei aufzuheben und die
Sache zur Neubeurteilung und zur Bestrafung der Angeschuldigten im Sinne
der Bussenverfügung zurückzuweisen.

    F.- Wüger und Lanker beantragen, die Nichtigkeitsbeschwerde sei
abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

    Art. 65 Abs. 4 MFG bestimmt: "Erfüllt eine der in diesem Titel
genannten Handlungen einen Tatbestand, für den die eidgenössische oder
kantonale Gesetzgebung eine schwerere Strafe vorsieht, so wird dieses
angewendet".

    Darnach darf, wenn ein und dieselbe Tat sowohl eine Bestimmung des
Motorfahrzeuggesetzes als auch eine schwerere andere Strafbestimmung
erfüllt, nur die letztere angewendet werden (BGE 71 IV 98, 76 IV 175). Die
beiden Bestimmungen konkurrieren unecht: die Bestrafung nach der schwereren
schliesst die Anwendung der leichteren aus. Mehr sagt Art. 65 Abs. 4
MFG nicht. Insbesondere bestimmt er nicht, dass in Fällen, in denen der
objektive Tatbestand der die schwerere Strafe androhenden Norm erfüllt ist,
diese aber mangels der subjektiven Voraussetzungen nicht angewendet werden
kann, auch die zutreffende Strafbestimmung des Motorfahrzeuggesetzes
nicht angewendet werden dürfe. Dabei macht es keinen Unterschied aus,
ob der Richter, der nach kantonalem Prozessrecht zur Anwendung des
Motorfahrzeuggesetzes zuständig ist, selber zu beurteilen hat, ob die
Voraussetzungen der schwereren Strafbestimmung erfüllt seien, oder ob
hierüber ein anderer Richter entschieden hat. Das Motorfahrzeuggesetz
verlangt, dass seine Strafbestimmungen immer dann, wenn sie zutreffen,
angewendet werden, ausgenommen, wenn der Beschuldigte nach einer schwereren
anderen Bestimmung zu Strafe verurteilt wird. Das hat der Einzelrichter
verkannt. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben und die Sache
zurückzuweisen, damit er beurteile, ob die Beschwerdegegner Art. 25 MFG,
wie ihnen das Polizeirichteramt vorwirft, objektiv und subjektiv übertreten
haben, und sie gegebenenfalls bestrafe.

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Einzelrichters in Strafsachen des Bezirksgerichtes Zürich vom 23. September
1954 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz
zurückgewiesen.