Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 81 IV 47



81 IV 47

9. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 11. Januar 1955 i.S. Zaugg
gegen Polizeiinspektorat des Kantons Basel Stadt. Regeste

    1. Art. 26 Abs. 3 MFG.

    a)   Diese Bestimmung verbietet das Überholen auch an Einmündungen.

    b)  Wann ist das Verbot übertreten, wann die Übertretung nur versucht?

    2. Art. 48 Abs. 1 MFV. Wer hat für den nötigen Abstand der Fahrzeuge
einer Kolonne zu sorgen?

    3. Art. 25 Abs. 1 MFG. Wer ohne Not durch heftiges Bremsen unversehens
anhält oder plötzlich die Fahrt verzögert, obschon er weiss oder wissen
muss, dass er dadurch andere gefährdet, übertritt diese Bestimmung.

Sachverhalt

    A.- Hans Zaugg fuhr am 17. April 1954 um 15 Uhr in Basel mit einem
Motorrad durch die Gellertstrasse Richtung St. Albantor. Bei der Einmündung
des St. Albanrings in die Gellertstrasse versuchte er vergeblich,
vor den in gleicher Richtung fahrenden Personenwagen des Dr. Monsch
zu kommen. Später gelang ihm dieses Unternehmen. Vor der Einmündung der
Gellertstrasse in die Zürcherstrasse stoppte er das Motorrad plötzlich ab,
um den hinter ihm fahrenden Dr. Monsch zu ärgern, weil dieser ihn angeblich
am Überholen gehindert hatte. Dr. Monsch konnte einen Zusammenstoss nur
dadurch verhindern, dass auch er blitzschnell anhielt.

    B.- In teilweiser Bestätigung eines Urteils des
Polizeigerichtspräsidenten erklärte das Appellationsgericht des Kantons
Basel-Stadt Zaugg am 22. Juli 1954 des vorschriftswidrigen Motorfahrens
schuldig und verurteilte ihn in Anwendung von Art. 25 Abs. 1, 26 Abs. 3,
27 Abs. 1 MFG zu drei Tagen Haft.

    C.- Zaugg führt Nichtigkeitsbeschwerde mit den Anträgen, das Urteil
sei aufzuheben und er sei freizusprechen.

    D.- Das Polizeiinspektorat von Basel-Stadt und der Statthalter des
Appellationsgerichts beantragen, die Beschwerde sei abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 2

    2.- Auf die Behauptung des Beschwerdeführers, er habe Dr. Monsch nicht
bei der Einmündung des St. Albanrings in die Gellertstrasse, sondern etwa
hundert Meter vor der Einmündung erfolglos zu überholen versucht, ist
nicht einzutreten. Die Feststellung des Appellationsgerichtes, wonach
dieser Versuch auf der Höhe der erwähnten Einmündung gemacht wurde,
ist tatsächlicher Natur und bindet daher den Kassationshof; sie kann mit
der Nichtigkeitsbeschwerde nicht angefochten werden, auch nicht mit der
Behauptung, sie finde im Sitzungsprotokoll keine Stütze (Art. 277 bis
Abs. 1, 273 Abs. 1 lit. b BStP).

    Wird von dieser Feststellung ausgegangen, so ist der Beschwerdeführer
zu Recht der Übertretung des Art. 26 Abs. 3 MFG schuldig erklärt worden:

    a) Unter Strassenkreuzungen, an denen nach dieser Bestimmung
nicht überholt werden darf, sind nach ständiger Rechtsprechung des
Bundesgerichtes auch Stellen zu verstehen, an denen eine Strasse in eine
andere einmündet (BGE 64 II 317, 75 IV 29, 128, 79 IV 70). Das gilt
nicht nur dann, wenn die Seitenstrasse von rechts, sondern auch, wenn
sie von links auf die andere trifft. Das Verbot will einer Anhäufung von
Gefahren an Kreuzungen (Einmündungen) vorbeugen, denen die Aufmerksamkeit
des einen oder anderen Strassenbenützers, sei es des überholten oder
des überholenden, sei es eines von der Seite her eintreffenden, nicht
gewachsen sein könnte. Dieser Grund trifft bei Einmündungen von links
in gleicher Weise zu wie bei Einmündungen von rechts. Dass bei ersteren
das überholende und das überholte Fahrzeug gegenüber einem allenfalls
einmündenden den Vortritt haben, ändert nichts. Umsogrösser ist hier die
Gefahr, wenn das zu überholende abbiegen will, da es in diesem Falle,
im Gegensatze zum Falle der Abzweigung nach rechts, die Fahrbahn des
überholenden zu schneiden hat. Das grundlegende erste und zwei weitere
der erwähnten vier Präjudizien betreffen denn auch verbotenes Überholen an
Einmündungen von links. Auch der Einwand hält nicht stand, dass Art. 1 StGB
dieser Rechtsprechung im Wege stehe. Diese Bestimmung verbietet nicht,
das Strafgesetz ausdehnend auszulegen, d.h. ihm einen auf den ersten
Blick durch den Buchstaben scheinbar nicht gedeckten Sinn zu entnehmen
(BGE 71 IV 148, 72 IV 103); der Grundsatz "keine Strafe ohne Gesetz"
steht lediglich dem Analogieschlusse im Wege. Einen solchen trifft das
Bundesgericht nicht, wenn es unter einer Strassenkreuzung im Sinne des
Art. 26 Abs. 3 MFG auch die bloss rudimentäre Kreuzung versteht, wie sie
in der Form einer sogenannten Einmündung vorliegt.

    b) Dem Schuldspruch steht auch nicht im Wege, dass der Beschwerdeführer
das Überholen an der Einmündung des St. Albanrings nicht beendet
hat. Seine Auffassung, die Tat sei damit nur bis zum Versuch im Sinne
des Strafgesetzbuches (Art. 21 ff.) gediehen und als Versuch einer
blossen Übertretung nicht strafbar (Art. 104 Abs. 1 StGB), hält nicht
stand. Art. 26 Abs. 3 MFG verbietet das Überholen an Strassenkreuzungen
nicht um des Enderfolges willen, d.h. weil die Bestimmung verhindern
möchte, dass das hintere Fahrzeug schliesslich vorne sei, sondern wegen der
im ganzen Unternehmen liegenden abstrakten oder konkreten Gefahren. Der
vollendeten Übertretung macht sich daher auch schuldig, wer an einer
Strassenkreuzung (Einmündung) nur einen Teil des ganzen Manövers ausführt,
d.h. wer an solcher Stelle in der Absicht, einem anderen vorzufahren,
die neben diesem verlaufende Fahrbahn in Anspruch zu nehmen beginnt; denn
schon dadurch schafft er von den mit dem Überholen verbundenen Gefahren,
insbesondere die Möglichkeit eines Zusammenstosses mit einem von links
oder rechts einbiegenden Fahrzeug. Ein strafloser blosser Versuch liegt
nur dann vor, wenn der Täter zwar den entscheidenden Schritt einleitet,
um an einer Strassenkreuzung in der Absicht des Überholens die rechte
Seite der Fahrbahn zu verlassen, diesen Schritt aber nicht vollendet,
z.B. weil ihn ein Fahrgast, ins Steuer greifend, daran verhindert.

Erwägung 3

    3.- a) Art. 48 Abs. 1 MFV bestimmt: "Hintereinander fahrende
Motorfahrzeuge dürfen nur so nahe aufschliessen, dass sich beim plötzlichen
Anhalten des vordern Fahrzeugs kein Zusammenstoss ereignen kann".
Obschon dieser Wortlaut und auch die romanischen Texte ("Les véhicules
automobiles circulant à la file laisseront entre eux ..." "Quando più
autoveicoli circolano in colonna devono mantenere tra loro ...") sich
nicht nur an den Führer des oder der hinteren, sondern an den Führer
beider bezw. aller Fahrzeuge der Kolonne wenden, geht der Sinn der
Bestimmung dahin, dass allein der Führer des hinteren Fahrzeuges für den
nötigen Abstand vom vorderen zu sorgen hat. Das ergibt sich nicht nur aus
der Natur der Sache, da jeder Führer entsprechend der Haltung, die er auf
seinem Sitze normalerweise einnimmt, in erster Linie nach vorn und nach
der Seite zu beobachten hat und oft auch gar nicht ohne Gefährdung des
Verkehrs in der Lage wäre, durch Beschleunigung der Fahrt den Abstand vom
hinteren Fahrzeug genügend zu vergrössern, sondern auch daraus, dass der
deutsche Text von "aufschliessen" spricht. Wenn der Abstand zu gering ist,
übertritt daher nur der Führer des hinteren Fahrzeuges, nicht auch der
des vorderen die erwähnte Bestimmung. Etwas anderes gilt auch dann nicht,
wenn ein anfänglich angemessener Abstand dadurch zu gering wird, dass der
Führer des vorderen Fahrzeuges die Geschwindigkeit herabsetzt. Der Führer
des hinteren hat in diesem Falle seinerseits zu verzögern und für die
Wiederherstellung eines angemessenen Abstandes zu sorgen. Damit er sich
dieser Pflicht rechtzeitig bewusst werde, müssen Motorwagen mit einem
orangefarbigen Stopplicht ausgerüstet sein (Art. 13 Abs. 1 lit. d MFV).

    b) Das bedeutet indessen nicht, der Führer des vorderen Fahrzeuges
dürfe sich über die Gefahr hinwegsetzen, der er die Benützer des hinteren
durch plötzliches Anhalten oder Verzögern der Fahrt aussetzen kann. Das
widerspräche dem Sinne des Art. 25 Abs. 1 MFG. Dass diese Bestimmung
dem Führer im besonderen gebietet, überall da, wo das Fahrzeug Anlass zu
Verkehrsstörung, Belästigung des Publikums oder Unfällen bieten könnte,
"den Lauf zu mässigen oder nötigenfalls anzuhalten", heisst nicht, dass
eine Pflicht zur Schonung der anderen Strassenbenützer nur bestehe,
wenn das geeignete Mittel dazu in der Mässigung des Laufes oder im
Anhalten liegt. Die Bestimmung verlangt allgemein, dass der Führer
das "Fahrzeug ständig beherrsche und die Geschwindigkeit den gegebenen
Strassen- und Verkehrsverhältnissen anpasse", d.h. die Maschine so führe,
dass sie anderen nicht zum Verhängnis werden könne. Wer ohne Not durch
heftiges Bremsen unversehens anhält oder plötzlich die Fahrt verzögert,
obschon er weiss oder wissen muss, dass er dadurch andere gefährdet,
verletzt diese Pflicht. Wenn seine Aufmerksamkeit nicht durch Beobachtung
nach vorn und nach der Seite voll beansprucht wird und er nicht wegen
einer drohenden Gefahr zu raschem Handeln genötigt ist, kann ihm zugemutet
werden, nicht plötzlich stark zu verlangsamen oder anzuhalten, ohne sich
im Rückblickspiegel oder sonstwie überzeugt zu haben, dass er damit keinen
hinter ihm Fahrenden gefährde. Denn es kommt immer wieder vor, dass der
Führer des hinteren Fahrzeuges seiner Verpflichtung aus Art. 48 Abs. 1 MFV
nicht voll gerecht wird. Solchem Versagen - das hiermit in keiner Weise
entschuldigt werden soll - hat der Führer des vorderen Fahrzeuges im Rahmen
des Zumutbaren Rechnung zu tragen, sei es durch Beobachtung nach hinten,
sei es, indem er die Geschwindigkeit nur allmählich herabsetzt, damit
der Führer des hinteren, durch das Stopplicht oder sonstwie gewarnt, die
nötige Zeit habe, seinerseits langsamer zu fahren. Die I. Zivilabteilung
hat freilich am 30. März 1954 i.S. Mayer gegen Paley entschieden, der
ordnungsgemäss rechts fahrende Führer habe sich nicht darum zu kümmern,
was hinter seinem Wagen vor sich gehe, ja er dürfe ohne Warnung der Führer
nachfolgender Fahrzeuge nach Belieben die Geschwindigkeit herabsetzen und
sogar plötzlich anhalten. In einem Meinungsaustausch mit dem Kassationshof
hat sie jedoch am 22. Dezember 1954 erklärt, dass sie an dieser Auffassung
nicht festhalte, sondern ihrerseits Art. 25 Abs. 1 MFG im Sinne obiger
Erwägungen auslege.

    c) Nach der verbindlichen Feststellung der Vorinstanz hat der
Beschwerdeführer vor der Einmündung in die Zürcherstrasse plötzlich
abgestoppt, um den hinter ihm fahrenden Dr. Monsch, der ihn angeblich
vorher am Vorfahren gehindert hatte, zu ärgern. Er hat somit ohne Not
gehandelt. Seine Einwendung, bei der Einfahrt in eine andere Strasse
müsse oft plötzlich angehalten werden, um anderen den Vortritt zu
lassen, ist gegenstandslos, behauptet er ja selber nicht, dass ihm
ein Vortrittsberechtigter Anlass zu plötzlichem Anhalten gegeben
habe. Festgestellt und nicht bestritten ist auch, dass die Tat des
Beschwerdeführers für Dr. Monsch gefährlich geworden ist und dieser einen
Zusammenstoss nur dadurch hat vermeiden können, dass er seinerseits
blitzschnell angehalten hat. Der Beschwerdeführer ist daher zu Recht
wegen Übertretung des Art. 25 Abs. 1 MFG bestraft worden.

    ...

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.