Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 81 IV 42



81 IV 42

8. Urteil des Kassationshofes vom 10. Januar 1955 i.S. W. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich. Regeste

    Art. 11, 345, 365, 397 StGB.

    a)   Ob die Revisionsinstanz die Erheblichkeit neuer Tatsachen für die
Strafzumessung selber prüfen kann oder diesen Entscheid dem Sachrichter im
wiederaufzunehmenden Verfahren vorzubehalten hat, bestimmt das kantonale
Recht.

    b)  Eine durch Revisionsgesuch aufgedeckte Verminderung der
Zurechnungsfähigkeit führt nicht notwendigerweise zur Herabsetzung der
ausgefällten Strafe.

Sachverhalt

    A.- W., der am 13. Februar 1951 vom Bezirksgericht Horgen wegen
widernatürlicher Unzucht, Versuchs wider natürlicher Unzucht und Unzucht
mit Kindern zu einer bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafe von sieben
Monaten verurteilt worden war, verführte im Jahre 1953 während der ihm
auferlegten Probezeit unter zwei Malen erneut einen Minderjährigen,
mit dem er Autofahrten unternahm, zu widernatürlicher Unzucht und wurde
daher erstinstanzlich vom Bezirksgericht Affoltern am 13. Februar 1954
und oberinstanzlich von der II. Strafkammer des Obergerichtes des Kantons
Zürich am 30. März 1954 in Anwendung von Art. 194 Abs. 1 StGB zu fünf
Monaten Gefängnis verurteilt.

    B.- W. liess sich am 23. Juni 1954 vom Psychiater Dr.  med. Knoepfel
ein Gutachten erstatten, in dem dieser zum Schlusse kam, W. habe sowohl
die vom Bezirksgericht Horgen als auch die vom Bezirksgericht Affoltern und
der II. Strafkammer des Obergerichts beurteilten Handlungen im Zustande
leichter Verminderung der Zurechnungsfähigkeit begangen. Unter Berufung
auf dieses Gutachten ersuchte er am 25. Juni 1954 das Gesamtobergericht des
Kantons Zürich, die Wiederaufnahme der beiden Strafverfahren zu bewilligen.

    Das Gesamtobergericht wies ihn an, die Wiederaufnahme des ersten
Verfahrens bei der II. Strafkammer des Obergerichts in einer besonderen
Eingabe nachzusuchen. Soweit er die Wiederaufnahme des zweiten Verfahrens
verlangte, trat es dagegen auf das Gesuch ein und wies es am 3. November
1954 ab. Zur Begründung führte es aus: Der Entscheid darüber, ob
die neu geltend gemachten Tatsachen oder Beweismittel eine mildere
Bestrafung rechtfertigten, sei einzig Sache der Revisionsinstanz. Das
Bezirksgericht Affoltern und die II. Strafkammer des Obergerichtes
hätten keine Verminderung der Zurechnungsfähigkeit des Gesuchstellers
angenommen. Selbst wenn man aber dem Gutachten Dr. Knoepfels folge und
dem Gesuchsteller eine leichte Verminderung der Zurechnungsfähigkeit
zubillige, erscheine die ausgesprochene Strafe von fünf Monaten Gefängnis
mit Rücksicht auf den Rückfall, den der Gesuchsteller dadurch leicht
hätte vermeiden können, dass er den Geschädigten nicht auf Autofahrten
mitgenommen hätte, immer noch als angemessen.

    C.- W. führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, der Beschluss
vom 3. November 1954 sei aufzuheben, die Wiederaufnahme des Verfahrens
gegenüber dem Urteil der II. Strafkammer des Obergerichtes vom 30. März
1954 zu beschliessen und die Sache zur Ausfällung eines neuen Urteils an
die II. Strafkammer, eventuell zur Gutheissung des Wiederaufnahmegesuches
an das Gesamtobergericht zurückzuweisen. Er macht geltend, der
angefochtene Beschluss verletze Art. 397 und 11 StGB. Da das Obergericht
die Erheblichkeit und Beweiskraft des Gutachtens Knoepfel vorausgesetzt
habe, hätte es das Revisionsgesuch gutheissen sollen. Zur Festsetzung des
Strafmasses sei es nicht befugt gewesen; diese bleibe unter allen Umständen
dem erkennenden Richter vorbehalten. Eine Milderung müsse im vorliegenden
Falle eintreten. Im Sachurteil sei sie noch nicht erfolgt, Art. 11 StGB
aber schreibe sie zwingend vor, lege nur ihr Ausmass in das Ermessen
des Richters. Eventuell sei, wie schon im Revisionsgesuch beantragt,
zum Nachweis der verminderten Zurechnungsfähigkeit des Beschwerdeführers
eine gerichtliche Expertise anzuordnen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Art. 397 StGB gebietet die Wiederaufnahme des Strafverfahrens
zugunsten eines in Anwendung eidgenössischen Rechts Verurteilten, wenn
erhebliche Tatsachen, die dem Gerichte zur Zeit des früheren Verfahrens
nicht bekannt waren, glaubhaft gemacht werden (BGE 73 IV 44, 77 IV 214,
78 IV 55), oder wenn zum Nachweis erheblicher Tatsachen, die bereits
im früheren Verfahren geltend gemacht worden sind, erhebliche neue
Beweismittel beigebracht werden.

Erwägung 2

    2.- Das vom Beschwerdeführer eingelegte Gutachten ist nicht neues
Beweismittel zu Tatsachen, die bereits im Verfahren vor dem Bezirksgericht
Affoltern und der II. Strafkammer des Obergerichtes behauptet worden
wären; denn abgesehen davon, dass das Bundesgericht in Gutachten
überhaupt nicht neue Beweismittel zu früher angerufenen Tatsachen sieht
(BGE 76 IV 37, 78 IV 56), hatte der Beschwerdeführer vor den erwähnten
Gerichten nicht geltend gemacht, er habe die Tat im Zustande verminderter
Zurechnungsfähigkeit begangen.

Erwägung 3

    3.- Ob das Gutachten neue Tatsachen aufdecke oder zum mindestens
glaubhaft mache, die auf Verminderung der Zurechnungsfähigkeit
hinweisen würden, kann dahingestellt bleiben. Auch wenn das zutreffen
sollte, verstösst die Abweisung des Wiederaufnahmegesuches nicht
gegen eidgenössisches Recht. Denn "erheblich" im Sinne des Art. 397
StGB wären die angeblichen Tatsachen nur, wenn sie zu einer bedeutend
milderen Bestrafung des Beschwerdeführers führen könnten (BGE 69 IV 139
Erw. 6). Das verneint das Obergericht mit einer Begründung, die nicht
gegen Bundesrecht verstösst.

    Indem es ausführt, die von der II. Strafkammer ausgefällten fünf
Monate Gefängnis wären mit Rücksicht auf den Rückfall auch bei leichter
Verminderung der Zurechnungsfähigkeit des Beschwerdeführers immer noch
angemessen, will es sagen, dass die Wiederaufnahme des Verfahrens nicht
zu einer Herabsetzung der Strafe führen würde. Ob es diese Würdigung
des Verschuldens und der Angemessenheit der Strafe vorausnehmen
durfte oder der II. Strafkammer zu überlassen hatte, die im Falle der
Wiederaufnahme des Verfahrens das neue Sachurteil zu fällen hätte,
ist eine Frage des kantonalen Rechts. Art. 397 StGB verbietet nicht,
dass der über das Wiederaufnahmegesuch entscheidende Richter eine
Frage vorweg beurteile, die normalerweise in das Erkenntnisgebiet des
Sachrichters im wiederaufgenommenen Verfahren fallen würde. Denn diese
Bestimmung greift in den Grundsatz, dass die Organisation der Gerichte
und des gerichtlichen Verfahrens, also auch die Ordnung der sachlichen
Zuständigkeit den Kantonen zukommt (Art. 64 bis Abs. 2 BV, Art. 345,
365 StGB), nicht ein. Ob das Obergericht sich an die vom kantonalen
Recht gewollte Zuständigkeitsordnung gehalten oder durch Beurteilung
der erwähnten Vorfrage, wie der Beschwerdeführer behauptet, gegen eine
entgegenstehende Praxis des Zürcher Kassationsgerichts verstossen habe,
hat das Bundesgericht auf Nichtigkeitsbeschwerde hin nicht zu beurteilen,
da mit diesem Rechtsmittel nur die Verletzung eidgenössischen Rechts
gerügt werden kann (Art. 269 Abs. 1, 273 Abs. 1 lit. b BStP).

    Bundesrecht ist auch nicht deshalb verletzt, weil Art. 11 StGB die
Milderung der Strafe vorschreibt, wenn der Täter die Tat im Zustande
verminderter Zurechnungsfähigkeit begangen hat. Das heisst nur, dass
Verminderung der Zurechnungsfähigkeit überhaupt das Verschulden mindere
und im Strafmass - innerhalb des angedrohten ordentlichen Strafrahmens
oder durch Übergang zu einer milderen Strafart (BGE 71 IV 69) - zugunsten
des Angeklagten berücksichtigt werden müsse'nicht auch, dass der Richter,
der dieses Verschulden wägt und sich über die Angemessenheit der Strafe
ausspricht, die von einem anderen Richter in der gleichen Sache geäusserte
Auffassung als verbindlichen Ausgangspunkt für die Milderung zu nehmen
habe. So verlangt Art. 11 StGB z.B. nicht, dass ein Appellationsgericht
die vom erstinstanzlichen Richter ausgefällte Strafe herabsetze, wenn
die Verminderung der Zurechnungsfähigkeit erst im Appellationsverfahren
aufgedeckt wird (vgl. BGE 80 IV 158). Etwas anderes gilt auch nicht im
Falle der Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen
Verfahrens. Der Sachrichter im wiederaufgenommenen Verfahren ist von
Bundesrechts wegen frei, trotz Annahme verminderter Zurechnungsfähigkeit
den Täter gleich streng zu bestrafen, wie es im ersten Urteil geschehen
ist, und daher braucht auch der über das Wiederaufnahmegesuch entscheidende
Richter nicht notwendigerweise von Bundesrechts wegen vorauszusetzen, dass
der Sachrichter wegen der neu aufgedeckten Verminderung der Zurechnungs
fähigkeit die früher ausgefällte Strafe herabsetzen würde.

    Hält er diese nach wie vor für gerecht, so verletzt er eidgenössisches
Recht nur dann, wenn sie, unter Mit berücksichtigung der Verminderung
der Zurechnungsfähigkeit, aus dem Rahmen des Ermessens fällt, in das
der Kassationshof nach ständiger Rechtsprechung (vgl. BGE 68 IV 21,
78 IV 72) nicht einzugreifen hat. Davon kann hier keine Rede sein. Der
Beschwerdeführer macht das auch gar nicht geltend.

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen, soweit auf sie einzutreten
ist.