Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 81 IV 302



81 IV 302

65. Urteil des Kassationshofes vom 25. November 1955 i. S. Fürrer gegen
Statthalteramt des Bezirkes Zürich. Regeste

    Art. 48 Abs. 1 MFV.

    1.  Anforderungen an die Angemessenheit des Abstandes beim
Hintereinanderfahren.

    2.  Verhältnis zu Art. 25 Abs. 1 MFG.

Sachverhalt

    A.- Fürrer fuhr am 1. Februar 1955, ca. 0750 Uhr, mit seinem
Chevrolet-Personenwagen am Ende einer aus sechs Autos bestehenden Kolonne
von Küsnacht nach Zürich. Als die Kolonne in Zollikon anhalten musste,
prallte der 5. Wagen, ein Oldsmobile, gegen seinen Vorderwagen, sodass
jedes der in kurzen Abständen aufgeschlossenen Fahrzeuge gegen das vordere
geschoben wurde. Fürrer konnte ebenfalls nicht rechtzeitig anhalten und
stiess in den Oldsmobile. Vor dem Unfall betrug seine Geschwindigkeit
50-60 km /Std und sein Abstand zum Oldsmobile ca. 20 m.

    B.- Der Einzelrichter des Bezirksgerichts Zürich warf Fürrer vor,
er habe einen im Verhältnis zu seiner Geschwindigkeit zu geringen Abstand
eingehalten. Am 12. September 1955 verurteilte er ihn wegen Übertretung
von Art. 25 MFG und Art. 48 MFV zu einer Busse von Fr. 40.-.

    C.- Gegen diesen Entscheid hat Fürrer Nichtigkeitsbeschwerde beim
Bundesgericht erhoben. Er bestreitet, eine Gesetzesverletzung begangen
zu haben.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 48 Abs. 1 MFV dürfen hintereinander fahrende
Motorfahrzeuge nur so nahe aufschliessen, dass sich beim plötzlichen
Anhalten des vordern Fahrzeuges kein Zusammenstoss ereignen kann. Die
Pflicht, dafür z-u sorgen, dass der Abstand zwischen zwei hintereinander
fahrenden Fahrzeugen diesem Gebot entspricht, obliegt dem Führer des
hintern Fahrzeuges (BGE 81 IV 51). Der Beschwerdeführer bestreitet das
nicht; er macht aber geltend, der Führer des hintern Fahrzeuges habe
bei der Bemessung des Abstandes nicht damit zu rechnen, dass sich der
Bremsweg des vordern Fahrzeuges infolge unvorhergesehener Umstände,
insbesonders durch einen Zusammenstoss, erheblich verkürze.

Erwägung 2

    2.- Das Gebot, einen angemessenen Abstand von andern Fahrzeugen
einzuhalten, ist schon in der allgemeinen Verpflichtung enthalten, wonach
die Geschwindigkeit den gegebenen Strassen- und Verkehrsverhältnissen
anzupassen und überall dort der Lauf zu mässigen ist, wo das Fahrzeug
Anlass zu Unfällen bieten könnte (Art. 25 Abs. 1 MFG). Art. 48 Abs. 1 MFV
hebt den Fall des Hintereinanderfahrens hervor und gebietet dem Führer
des hintern Fahrzeuges im besondern, seinen Abstand derart zu bemessen,
dass selbst dann, wenn der vordere Wagen plötzlich angehalten wird, ein
Zusammenstoss vermieden werden kann. Obgleich das Gesetz keinen Unterschied
macht, aus welchem Grunde das plötzliche Anhalten erfolgt, gilt das Gebot
nicht schlechthin. Der Fahrzeugführer hat wegen der entfernten Möglichkeit,
dass das vor ihm fahrende Fahrzeug durch höhere Gewalt, z.B. durch einen
fallenden Baum oder durch einen Felssturz, plötzlich zum Halten gebracht
werden könnte, keine besondern Vorsichtsmassnahmen zu treffen. Er hat bei
der Bemessung des Abstandes bloss die Möglichkeit konkreter Gefahren in
Rechnung zu stellen.

    Das Fahren in der Kolonne erhöht als solches die Gefahr eines
Zusammenstosses, nicht nur, weil es die Sicht nach vorne verdeckt oder
erschwert und dadurch die zu befahrende Strecke unübersichtlich wird,
sondern auch wegen der Ungewissheit, die hinsichtlich der Fahrweise der
übrigen Führer und der Betriebssicherheit ihrer Fahrzeuge besteht. Wenn
auch bei mittleren und grösseren Geschwindigkeiten im allgemeinen davon
ausgegangen werden darf, der vordere Wagen werde nicht auf einen Schlag
stillstehen, sondern vor seinem Anhalten eine gewisse Bremsstrecke
durchlaufen, so muss doch berücksichtigt werden, dass diese nie zum
voraus geschätzt werden kann, denn ihre Länge hängt von verschiedenen
Umständen ab (Geschwindigkeit, Zustand der Pneus und der Strasse, Art
der Betätigung und Wirksamkeit der Bremsen, etc.), die dem nachfolgenden
Fahrzeugführer grösstenteils unbekannt sind. Dieser darf daher nicht mit
einem mittleren Bremsweg rechnen; er muss, um sicher zu gehen, in Betracht
ziehen, dass das vor ihm fahrende Fahrzeug nur eine kurze Bremsstrecke zum
Anhalten benötigt. Wer in einer aus mehreren Autos bestehenden Kolonne
fährt, steht ferner dauernd der Gefahr gegenüber, dass das Fahrzeug,
dem er folgt, durch das diesem voranfahrende unversehens angehalten
wird. Da das Aufleuchten des Stoplichtes über die Art der Bremsung noch
nichts aussagt und das Anhalten des vordern Fahrzeuges regelmässig erst
aus dessen Geschwindigkeitsverzögerung erkennbar wird, verlängert sich
dementsprechend die Reaktionszeit des nachfolgenden Fahrzeugführers; auch
dieser Umstand ist bei der Bemessung des Abstandes in Rechnung zu stellen.

    Der Beschwerdeführer hat diese Grundsätze zu wenig beachtet. Sein
Abstand von 20 m hätte theoretisch zwar gerade genügt, knapp hinter dem
Oldsmobile anzuhalten, sofern er innert der üblichen Reaktionszeit von
einer Sekunde nach dem Aufleuchten des Stoplichtes zu bremsen begann und
sein Bremsweg nicht länger als derjenige des Oldsmobile war. Dies allein
entsprach aber nicht den Anforderungen, die angesichts der konkreten
Gefahren beim Hintereinanderfahren an die Angemessenheit des Abstandes
gestellt werden müssen, damit der Verpflichtung aus Art. 48 Abs. 1 MFV
Genüge geleistet ist. Die Tatsache, dass der Chevrolet mit grösserer
Wucht den Oldsmobile gerammt hat als dieser das vor ihm stehende Fahrzeug,
zeigt übrigens, dass selbst dann, wenn der Bremsweg des Oldsmobile nicht
leicht verkürzt worden wäre, der Beschwerdeführer den Zusammenstoss mit
grosser Wahrscheinlichkeit nicht hätte vermeiden können. Er ist somit zu
Recht bestraft worden.

Erwägung 3

    3.- Weiter beanstandet der Beschwerdeführer, dass er gleichzeitig
wegen Verletzung des Art. 25 MFG bestraft worden sei. Seine Behauptung,
die Geschwindigkeit von 50-60 km /Std sei auf der Seestrasse in
Zollikon nicht übersetzt gewesen, wird vom angefochtenen Entscheid nicht
widerlegt. Aus dessen Erwägungen ist zu schliessen, dass die Vorinstanz die
Geschwindigkeit nur im Hinblick auf den zu geringen Abstand vom vordern
Fahrzeug als übersetzt betrachtet hat. Die Geschwindigkeit wäre also
den Strassenverhältnissen angepasst gewesen, wenn der Abstand grösser
gewesen wäre, während anderseits der Abstand von 20 m bei geringerer
Geschwindigkeit genügt hätte. Daraus folgt, dass der Beschwerdeführer nicht
gleichzeitig Art. 25 MFG und Art. 48 MFV, sondern nur eine der beiden
Bestimmungen verletzt hat, und zwar offenbar die letztere. Der Irrtum der
Vorinstanz hatte indessen auf die Bemessung der Busse keinen Einfluss; sie
bestätigte nur den Entscheid des Statthalteramtes, das die Strafe allein
wegen Zuwiderhandlung gegen Art. 25 MFG ausgefällt hatte. Ein blosser
Irrtum in den Motiven bildet aber keinen Kassationsgrund (BGE 79 IV 89).

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.