Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 81 IV 174



81 IV 174

39. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 20. Mai 1955 i.S. Kubli
gegen Polizeirichteramt der Stadt Zürich. Regeste

    Art. 61 Abs. 3, 46 Abs. 3 MFV, Art. 25 Abs. 1 MFG.  Vorsichtspflicht
des Führers, der die haltende Strassenbahn an einer sie nur teilweise
deckenden Schutzinsel rechts überholt.

Sachverhalt

    A.- Dr. Felix Kubli fuhr am 11. April 1954 um 21.50 Uhr am Steuer eines
Personenwagens mit etwa 50 km/Std. auf der Schaffhauserstrasse in Zürich
stadtauswärts gegen die Strassenbahnhaltstelle "Seebacherstrasse". Obschon
links der dort liegenden 19,1 m langen Schutzinsel ein in gleicher
Richtung fahrender 37,1 m langer Tramzug anhielt, von dem nur die beiden
vorderen, nicht auch der dritte Wagen neben die Insel zu stehen kamen,
verzögerte Kubli beim Anblick der aussteigenden Fahrgäste nur auf etwa
30 km/Std. und beschleunigte die Fahrt wieder, noch ehe alle aus dem
hintersten Tramwagen aussteigenden Personen die rechts des Tramzuges
liegende 3 m breite Fahrbahn vor dem sich nähernden Automobil hindurch
überschritten hatten. Mindestens einer der Aussteigenden musste die
Strasse wegen des Automobils schneller als normal überqueren, und ein
anderer suchte Schutz, indem er gegen den Tramzug zurückwich.

    B.- Der Einzelrichter des Bezirksgerichtes Zürich verurteilte Dr. Kubli
am 27. September 1954 wegen Übertretung der Art. 25 Abs. 1 MFG und 61
Abs. 3 MFV zu Fr. 20.- Busse.

    C.- Dr. Kubli führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil
sei aufzuheben und die Sache zur Freisprechung zurückzuweisen. Er macht
geltend, der angefochtene Entscheid verstosse gegen das in Art. 61 Abs. 3
MFV verankerte Recht des Motorfahrzeugführers, die an einer Schutzinsel
haltende Strassenbahn rechts zu überholen. Art. 25 MFG schränke dieses
Recht nicht ein. Zudem habe der Beschwerdeführer nicht damit rechnen
müssen, dass ein Nachzügler aus dem Tram aussteigen und die Fahrbahn des
Beschwerdeführers kreuzen werde, ohne nach links oder rechts zu blicken.

    D.- Der Polizeirichter der Stadt Zürich beantragt, die Beschwerde
sei abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Art. 61 Abs. 3 MFV bestimmt in Satz 2 und 3: "Die haltende
Strassenbahn ist rechts zu überholen, wenn eine Schutzinsel vorhanden
ist; fehlt eine solche, so darf sie nur links und nur in langsamer Fahrt
(Schrittempo) überholt werden. Im übrigen findet Art. 46 Anwendung."

    Damit wird der Führer eines Motorfahrzeuges nicht ermächtigt,
die an einer Schutzinsel haltende Strassenbahn unbekümmert um andere
Strassenbenützer, insbesondere ohne jede Rücksichtnahme auf die aus- und
einsteigenden Fahrgäste (rechts) zu überholen. Dass auch in diesem Falle,
wie immer beim Überholen, besonders vorsichtig zu fahren und auf die
anderen Strassenbenützer Rücksicht zu nehmen ist, ergibt sich schon aus
Art. 46 Abs. 3 MFV, den Art. 61 Abs. 3 vorbehält. Sodann gilt auch hier
Art. 25 Abs. 1 MFG, wonach der Führer sein Fahrzeug ständig zu beherrschen
und die Geschwindigkeit den gegebenen Strassen- und Verkehrsverhältnissen
anzupassen und überall da, wo das Fahrzeug Anlass zu Verkehrsstörung,
Belästigung des Publikums oder Unfällen bieten könnte, den Lauf zu
mässigen oder nötigenfalls anzuhalten hat. Wer gemäss Art. 61 Abs. 3 MFV
die Strassenbahn rechts überholt, hat sich daher wie immer vorzusehen,
dass er niemanden belästigt oder gefährdet. Das gilt namentlich, wenn
die Schutzinsel nur einem Teil der aus- oder einsteigenden Gäste Deckung
verschafft, sei es, weil sie nicht für alle Platz bietet, sei es, weil sie
so kurz ist, dass die Benützer eines oder mehrerer Wagen genötigt sind,
unmittelbar auf die Fahrbahn der Strasse auszusteigen oder von dort her
einzusteigen. Der Einwand des Beschwerdeführers, im letzteren Falle
habe der Fussgänger nicht unmittelbar die Fahrbahn zu überschreiten,
sondern nach dem Aussteigen (oder vor dem Einsteigen) dem haltenden Zug
entlang zu der Schutzinsel (bzw. von ihr weg) zu gehen, hilft nicht, weil
diese Vorsichtsmassnahme sich nicht so eingebürgert hat, dass der Führer
des Motorfahrzeuges blind darauf vertrauen dürfte, sie werde von allen
beachtet. Es gibt Leute, die in Verkennung der Gefahr oder im Vertrauen,
dass die Fahrzeugführer die gebotene Rücksicht walten lassen, den Umweg
über die zu kurze Schutzinsel nicht einschlagen, zumal dann nicht, wenn
er erheblich ist. Der Motorfahrzeugführer hat damit zu rechnen, dass
die ausserhalb einer Schutzinsel ausgestiegenen Personen die Strasse
unmittelbar überschreiten oder dass sie sich vom Fussgängersteig oder
Strassenrande unmittelbar zu den ausserhalb der Insel haltenden Tramwagen
begeben, um einzusteigen.

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer hat Art. 25 Abs. 1 MFG übertreten. Die
haltende Strassenbahn auf einem nur drei Meter breiten Fahrstreifen, der
von den aus dem hintersten Wagen aussteigenden Fahrgästen unmittelbar
betreten werden musste, mit 30 km/Std. überholen zu wollen und vor
Beendigung des Unternehmens die Fahrt sogar noch zu beschleunigen, war
rücksichtslos und gefährlich. Das ergibt sich schon daraus, dass wegen des
Automobils einer der Aussteigenden sich mit ungewöhnlich schnellem Schritt
auf den Fussgängersteig begeben und der andere gegen die Strassenbahn
hin zurückweichen musste. Bei der gebotenen Aufmerksamkeit hat der
Beschwerdeführer diese Personen rechtzeitig sehen können. Zudem hatte er
damit zu rechnen, dass weitere Fahrgäste die Strasse betreten könnten,
solange die Strassenbahn hielt. Da vom Zug zum Fussgängersteig nur 3 m
zurückzulegen waren, drängte sich die Annahme, die Aussteigenden würden
sofort die Strasse überschreiten, statt auf schmalem Raum der Strassenbahn
entlang den Weg auf die Schutzinsel einzuschlagen, besonders auf. Der
Beschwerdeführer hatte daher, wenn nicht zum vornherein anzuhalten, die
Geschwindigkeit zum mindesten so stark herabzusetzen, dass die Fussgänger
die Strasse ungefährdet hätten überschreiten können. Ob nicht sogar blosses
Schrittempo, wie es für das Linksüberholen vorgeschrieben ist, analog auch
hier geboten gewesen wäre, kann dahingestellt bleiben, denn jedenfalls war
die vom Beschwerdeführer eingehaltene Geschwindigkeit erheblich übersetzt.

    ...

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.