Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 81 IV 170



81 IV 170

38. Urteil des Kassationshofes vom 30. März 1955 i. S. Heiber gegen
Justizdirektion des Kantons Appenzell-A.Rh. Regeste

    Art. 25 Abs. 1, 26 Abs. 1 MFG. Der Führer eines Motorfahrzeuges
darf die rechte Hälfte der Fahrbahn nicht unter allen Umständen ganz für
sich beanspruchen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 26 Abs. 1 MFG hat der Motorfahrzeugführer rechts zu
fahren. InBGE 76 IV 61 hat der Kassationshof ausgeführt, diese Bestimmung
schreibe vor, dass, wo die Breite der Strasse es gestatte, auf der rechten
Hälfte gefahren werde, andernfalls soweit rechts als möglich, in beiden
Fällen unter Einhaltung eines den örtlichen Verhältnissen angemessenen
Abstandes vom rechten Strassenrande. Soweit damit die Benützung der rechten
Hälfte der Strasse verlangt wurde - ob unter Umständen auch auf breiten
Strassen in der Mitte gefahren werden dürfe, blieb dahingestellt und ist
auch heute nicht zu entscheiden -, hiess das nur, dass die linke Hälfte
frei zu bleiben habe, nicht auch, dass der Führer stets berechtigt sei,
die rechte Hälfte ganz für sich zu beanspruchen.

    Dass ihm ein solches Recht nicht unter allen Umständen zusteht,
ergibt sich schon aus Art. 25 Abs. 1 Satz 3 MFG, wonach beim Kreuzen ein
angemessener Abstand einzuhalten ist. Das wäre nicht möglich, wenn jeder
hart der Mittellinie der Strasse entlang fahren würde. Der Führer hat
sein Fahrzeug von ihr angemessen fern zu halten, wo die Verhältnisse es
gestatten. Insbesondere an unübersichtlichen Stellen, wo mit kreuzenden
Fahrzeugen zu rechnen ist, die nicht von ferne wahrgenommen werden können,
muss zum vornherein der zum Kreuzen notwendige Zwischenraum in der Mitte
der Strasse frei gelassen werden.

    Aus dem Gebot der Rücksichtnahme auf andere Strassenbenützer und
der Vermeidung von Verkehrsunfällen (Art. 25 Abs. 1 Satz 2 MFG) ergibt
sich sodann, dass auch anderen Verhältnissen Rechnung zu tragen ist;
die Vorschrift des Rechtsfahrens kann nicht einen Sinn haben, der sich
mit diesem Gebote nicht vertrüge. Wenn der Verkehr auf der linken Hälfte
der Strasse aus besonderen Gründen unmöglich oder ungebührlich erschwert
ist, hat auch der auf der rechten Hälfte Verkehrende das Seine dazu
beizutragen, um dem in entgegengesetzter Richtung Fahrenden den Verkehr
zu erleichtern. Er hat so weit rechts zu fahren, als ihm angesichts
der Verhältnisse auf der rechten Strassenhälfte (Übersichtlichkeit,
Möglichkeit des Erscheinens von Fussgängern usw.) zugemutet werden
kann. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass er gewisse Gefahren, die
starkes Rechtsfahren mit sich bringen könnten, durch Herabsetzen der
Geschwindigkeit vermindern oder vermeiden kann. Er hat nicht unter allen
Umständen Anspruch darauf, so schnell zu fahren, wie es möglich wäre,
wenn die rechte Strassenhälfte nur von ihm, nicht teilweise auch von
entgegenkommenden Fahrzeugen benützt werden dürfte.

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer ist zu wenig rechts gefahren. Schon das
Gebot, beim Kreuzen einen angemessenen Abstand einzuhalten, erlaubte
ihm nicht, sich der Mittellinie der Strasse in der unübersichtlichen
Biegung bis auf 10 cm zu nähern, zu seiner Rechten dagegen 1,25 bis
1,6 m freizulassen. Zudem hätte er sich sagen sollen, dass die Führer
entgegenkommender Fahrzeuge wegen der Möglichkeit des Erscheinens eines
Zuges dazu neigen würden, das Geleise der Strassenbahn in dieser Biegung
nicht zu befahren. Auch der schlechte Zustand der Strasse zwischen den
Schienen und im angrenzenden Raume musste ihm nahe legen, mehr als die
linke Hälfte der Strasse für den Gegenverkehr freizulassen. Wie das
Obergericht verbindlich feststellt, war der Belag auf dem Bahnkörper
so schlecht beschaffen, dass der Motorradfahrer gefährdet gewesen wäre,
wenn er diesen Teil der Strasse befahren hätte. Damit ist freilich nicht
gesagt, dass die Benützung des Bahnkörpers auch für Motorwagen Gefahren
mit sich gebracht hätte. Dennoch musste der Beschwerdeführer damit rechnen,
dass auch solche ihn meiden würden. Es konnte ihm zugemutet werden, ihnen
den Raum zur Durchfahrt neben dem Geleise freizulassen. Um Fussgänger,
die sich allenfalls am rechten Strassenrand befinden konnten, nicht zu
gefährden, hatte er die Geschwindigkeit herabzusetzen. Hätte er das getan,
so wäre die Einhaltung eines Abstandes von weniger als 1 m vom rechten
Strassenrande durchaus angängig gewesen.

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.