Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 81 IV 139



81 IV 139

29. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 6. April 1955 i.S. Walker
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern. Regeste

    Art. 61 Abs. 3 und Art. 46 MFV. Die Vorschriften von Art.  46 MFV sind
auch auf das Überholen der Strassenbahn auf der rechten Seite anwendbar.

Sachverhalt

    A.- Walker fuhr mit seinem Personenwagen am 10. Juni 1954, 19.50
Uhr, mit einer Geschwindigkeit von ca. 50 Std/km von Emmenbrücke gegen
Luzern. Bei der Kirche Reussbühl, wo die Strasse eine langgestreckte
Rechtskurve beschreibt, schickte er sich an, einen aus zwei Wagen
bestehenden Strassenbahnzug zu überholen, der in gleicher Richtung auf der
linken Strassenseite fuhr. Die Strasse wird an der betreffenden Stelle auf
der rechten Seite durch eine ca. 3 m hohe Stützmauer abgeschlossen, so dass
die Übersicht über die Kurve beeinträchtigt ist. Der Abstand zwischen dem
Strassenbahngeleise und der Stützmauer beträgt ca. 4 m. Am Ende der Kurve,
unmittelbar nach der für diese geltenden Parkierungsverbotstafel, war am
rechten Strassenrand ein Personenwagen parkiert. Als Walker sich auf halber
Höhe neben dem Strassenbahnzug befand, bremste er scharf ab. Dabei geriet
sein Wagen ins Schleudern und kam kurz vor dem parkierten Personenwagen
schräg gegen die Stützmauer zu gewendet zum Stehen. Zu diesem plötzlichen
Bremsen sah sich Walker nach seiner Darstellung deshalb veranlasst,
weil ein in gleicher Richtung fahrender Radfahrer das parkierte Auto
überholte, so dass zwischen ihm und dem Tram für den Wagen Walkers nicht
mehr genügend Raum zum Durchfahren geblieben sei. Auf das Bremsgeräusch
vom Wagen Walkers hin leitete der Tramführer eine Schnellbremsung ein
und brachte das Tram auf der Höhe des parkierten Wagens zum Anhalten. Ein
Zusammenstoss erfolgte nicht.

    B.- Das Amtsgericht Luzern-Land erklärte mit Urteil vom 22. Dezember
1954 Walker der Widerhandlung gegen Art. 46 Abs. 2 MFV (Überholen der
Strassenbahn in einer unübersichtlichen Strassenbiegung) schuldig und
bestrafte ihn mit Fr. 40.- Geldbusse.

    C.- Mit der vorliegenden Nichtigkeitsbeschwerde beantragt Walker
Aufhebung des angefochtenen Urteils und Rückweisung der Sache zu seiner
Freisprechung. Er macht geltend, eine Verletzung von Art. 46 Abs. 2 MFV
falle schon deswegen ausser Betracht, weil die genannte Vorschrift sich
nur auf das normale Überholen nach links beziehe. Auf der rechten Seite
dürfe dagegen eine Strassenbahn auch in einer Kurve überholt werden,
wenn die Strassenbreite es zulasse.

    D.- Die Staatsanwaltschaft Luzern beantragt Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Das Überholen von Strassenbahnen ist in Art. 61 Abs. 3 MFV
geregelt. Die Vorschrift unterscheidet zwischen der fahrenden und der
haltenden Strassenbahn. Sie bestimmt, dass die fahrende Strassenbahn
rechts zu überholen ist, wenn deren Abstand vom rechten Strassenrand dies
erlaubt; nur wo dies nicht der Fall ist, darf links überholt werden. Im
übrigen wird Art. 46 MFV, d.h. die allgemeine Ausführungsvorschrift zu
Art. 26 Abs. 3 MFG über das Überholen, als anwendbar erklärt.

    Nach Art. 46 Abs. 1 MFV ist das Überholen nur gestattet, wenn die dazu
erforderliche Strassenstrecke frei und übersichtlich ist, namentlich wenn
kein anderes Fahrzeug entgegenkommt. Nach dem Überholen darf erst dann
wieder rechts eingebogen werden, wenn für das überholte Fahrzeug jede
Gefährdung ausgeschlossen ist.

    Abs. 2 sodann wiederholt wörtlich die Vorschrift von Art. 26 Abs. 3
MFG, dass an Strassenkreuzungen, Bahnübergängen und unübersichtlichen
Stellen, besonders an Strassenbiegungen, nicht überholt werden dürfe.

    Abs. 3 endlich verpflichtet den Überholenden, besonders vorsichtig
zu fahren und auf die übrigen Strassenbenützer Rücksicht zu nehmen.

Erwägung 2

    2.- Dass Art. 46 MFV auf das Überholen der Strassenbahn nur anwendbar
sei, wenn dies auf der linken Seite geschieht, kann dem Wortlaut von
Art. 61 Abs. 3 MFV nicht entnommen werden. Dieser verweist ganz allgemein
und ohne Einschränkung auf Art. 46 MFV. Richtig ist allerdings, dass dieser
Hinweis sinngemäss aufgefasst werden muss. So lässt sich Art 46 Abs. 1, der
auf das normale linksseitige Überholen anderer nicht schienengebundener
Fahrzeuge zugeschnitten ist, nicht uneingeschränkt anwenden auf das
rechtsseitige Überholen der Strassenbahn, das nach Art. 61 Abs. 3 MFV den
Regelfall bildet. Dagegen hat das Überholungsverbot des Art. 46 Abs. 2
MFV auch beim Überholen der Strassenbahn auf der rechten Seite seinen
guten Sinn. Denn erfolgt solches Überholen an einer unübersichtlichen
Stelle, insbesondere an einer Strassenbiegung, so kann dadurch eine
gefährliche Situation geschaffen werden. Zwar verlässt der Überholende
seine rechte Strassenseite nicht, so dass er nicht damit rechnen muss,
er könnte einem aus der Gegenrichtung herannahenden Fahrzeug in die
Quere kommen. Hingegen kann während des Überholungsmanövers plötzlich
ein Hindernis in seiner Fahrbahn auftauchen, wie z.B. ein in gleicher
Richtung fahrendes langsameres Fahrzeug, eine Gruppe von Fussgängern oder
dergl. Erblickt er ein solches Hindernis wegen der Unübersichtlichkeit des
Ortes so spät, dass er nicht mehr rechtzeitig anhalten kann, so besteht
unmittelbare Unfallgefahr; denn das Hindernis durch Ausbiegen nach links
zu umfahren, ist ihm durch die Strassenbahn verwehrt. Dem Auftreten
solcher Gefahrsituationen wird durch das Überholungsverbot des Art. 46
Abs. 2 MFV vorgebeugt.

Erwägung 3

    3.- Die Reussbühlkurve ist nach den verbindlichen Feststellungen der
Vorinstanz unübersichtlich; sie kann wegen der auf ihrer rechten Seite
verlaufenden Stützmauer nicht voll überblickt werden. Nach Art. 46 Abs. 2
MFV darf deshalb dort der Strassenbahn nicht vorgefahren werden. Der
Beschwerdeführer hat somit dadurch, dass er das Überholungsmanöver
gleichwohl einleitete und zur Hälfte durchführte, gegen die genannte
Bestimmung verstossen und ist daher zu Recht bestraft worden...

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.