Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 81 II 98



81 II 98

18. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 5. April 1955
i.S. Bünter-Tresch und Tresch gegen Frei und Kons. Regeste

    Verantwortlichkeit der vormundschaftlichen Organe (Art.  426
ff. ZGB). Anwendungsbereich des Grundsatzes der stufenweisen Haftung nach
Art. 429 Abs. 1 ZGB.

Sachverhalt

                     Aus dem Tatbestand:

    Der am 22. April 1947 ausserehelich geborenen Marie Anna Tresch
ernannte die Vormundschaftsbehörde am 8. Mai 1947 einen Beistand gemäss
Art. 311 ZGB. Dieser blieb untätig, und auch die Vormundschaftsbehörde
schenkte der Angelegenheit keine Aufmerksamkeit mehr. Die Frist für eine
Vaterschaftsklage lief unbenutzt ab.

    Die (nun verheiratete) Mutter und das (durch einen Vormund
vertretene) Kind klagten gegen die Mitglieder der Vormundschaftsbehörde
auf Schadenersatz im Betrage von Fr. 9000.--. Den Beistand belangten sie
nicht, und er gab einer Streitverkündung keine Folge.

    Die kantonalen Gerichte wiesen die Klage "für dermalen" ab, weil zuerst
oder doch gleichzeitig mit den Mitgliedern der Vormundschaftsbehörde der
Beistand belangt werden müsse. Den Klägerinnen bleibe die Anhebung eines
derartigen neuen Prozesses vorbehalten.

    Mit der vorliegenden Berufung halten die Klägerinnen an ihrer Klage
gegen die Behördemitglieder fest.

    Das Bundesgericht zieht, nach Feststellung, dass der Beistand sich
gemäss den festgestellten Tatsachen einer groben Nachlässigkeit schuldig
gemacht habe,

Auszug aus den Erwägungen:

                          in Erwägung:

    ... Gewiss trifft auch die Vormundschaftsbehörde (mindestens deren
Präsidenten und den Waisenvogt) ein Verschulden, indem sie sich mit
der Ernennung des Beistandes begnügte und alsdann der Sache einfach den
Lauf liess, ohne sich über die Tätigkeit des Beistandes Rechenschaft zu
geben und namentlich die Klagefrist im Auge zu behalten. Allein dieses
Verschulden ist entgegen der Ansicht der Klägerschaft nicht geeignet,
abweichend von der Regel des Art. 429 Abs. 1 ZGB eine unmittelbare (wenn
auch nach Art. 428 Abs. 2 ZGB nur anteilsmässige) Haftung der beklagten
Behördemitglieder oder einzelner von ihnen zu rechtfertigen. Im Falle
BGE 59 II 97 ff. war erste Schadensursache eine rechtswidrige Weisung
der Vormundschaftsbehörde, wofür sie unmittelbar zu haften hatte. Und für
die mangelhafte Ausführung dieser Weisung, wodurch ein Teil des Schadens
bedingt war, hatte solidarisch mit dem Beirat der von diesem beauftragte
Notar, zugleich Präsident der Vormundschaftsbehörde, zu haften. Beim andern
Präjudiz (BGE 68 II 342 ff.) hatte die Vormundschaftsbehörde die führende
Rolle bei der Bestimmung des Inhalts eines Erbteilungsvertrages gespielt,
der den von ihr zu wahrenden Interessen der Kinder zuwiderlief. Das
war der Grund für eine unmittelbare, anteilsmässige Haftung der
Behördemitglieder neben dem Beistand. Im vorliegenden Fall ist ein
solcher Grund nicht zu finden. Die Vormundschaftsbehörde ernannte ganz
pflichtgemäss einen Beistand zur Wahrung der Kindesinteressen (gegenüber
dem in Betracht kommenden ausserehelichen Vater) gemäss Art. 311 ZGB. Nun
war es in erster Linie Sache des Beistandes, zum rechten zu sehen. Wenn
er nichts unternahm, um seine Aufgabe zu erfüllen, und gleich ihm auch
die Vormundschaftsbehörde die Frist zur Vaterschaftsklage versäumte
(die nach den Aussagen des angeblichen Schwängerers beim Präliminarverhör
nicht etwa von vornherein aussichtslos gewesen wäre), so sind er und die
Mitglieder der Vormundschaftsbehörde (oder einzelne von ihnen) zugleich
haftbar geworden. Somit muss es bei der Regel des Art. 429 Abs. 1 ZGB
bleiben, wonach die mitschuldigen Behördemitglieder nur subsidiär,
hinter dem Beistand haften. Gewiss ist in der Literatur umstritten,
wann der Fall der soeben erwähnten Bestimmung vorliege, dass Vormund
und Vormundschaftsbehörde "zugleich haftbar sind" ("sont tenus ensemble
du dommage", "sono insieme risponsabili"), was eben die stufenweise
Haftung nach sich zieht. Nach der einen Ansicht genügt es hiefür, dass
der gleiche Schaden als Folge des schuldhaften Verhaltens sowohl des
Vormundes wie auch der Behörde eingetreten ist (so KAUFMANN, 2. Auflage,
N. 4 zu Art. 429 ZGB). Nach anderer Meinung ist ausserdem notwendig, dass
die Haftung "aus dem nämlichen Rechtsgrund" hergeleitet werde (so EGGER,
2. Auflage, N. 7 zum nämlichen Artikel). Weder das eine noch das andere
trifft uneingeschränkt zu. Auch wenn nur ein bestimmter Schaden in Frage
steht, kann die Vormundschaftsbehörde unmittelbar haftbar werden, weil sie
eine wesentliche Schadensursache selbständig gesetzt oder den Schaden in
führender Handlungsweise neben dem Vormund oder Beistand verursacht hat
(wie dies in den beiden erwähnten Präjudizien dargelegt ist). Ist aber
die Vormundschaftsbehörde nicht derart selbständig oder führend an der
Schadensverursachung beteiligt, so ist ein Abgehen von der Regel des Art.
429 Abs. 1 ZGB nicht schon deshalb gerechtfertigt, weil das ihr zum
Verschulden gereichende Handeln anderer Art war als das des Vormundes,
oder weil sie Pflichten anderer Art verletzte als der Vormund. Hat die
Vormundschaftsbehörde lediglich im Rahmen der ihr normalerweise neben
einem Vormund oder Beistand zukommenden Aufgabe gefehlt, so bleibt es,
sofern diesen gleichfalls ein Verschulden trifft, grundsätzlich bei der
stufenweisen Verantwortlichkeit. So, wenn die Vormundschaftsbehörde einem
vom Vormund vorbereiteten und abgeschlossenen (oder vorgeschlagenen)
Rechtsgeschäft die ihr nach Art. 421 ZGB vorbehaltene Zustimmung erteilt
und dabei ihre Prüfungspflicht schuldhaft vernachlässigt hat (BGE 52 II
324). Gleiches gilt nun auch, wenn die Vormundschaftsbehörde, wie hier,
den mit einer bestimmten Aufgabe betrauten Beistand nicht überwacht und
die Angelegenheit aus den Augen verloren hat. Die von den Klägerinnen
geltend gemachte unmittelbare Haftung der Behördemitglieder ist somit,
wenigstens zur Zeit, zu verneinen. Sie kann nur in Frage kommen,
wenn sich in dem neuen Prozess, wie er den Klägerinnen vorbehalten ist,
der Beistand, anders als nach den heute vorliegenden Beweisergebnissen,
als schuldlos erweisen sollte.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichtes Uri
vom 4. November 1954 bestätigt.