Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 81 II 512



81 II 512

79. Urteil der I. Zivilabteilung vom 13. Dezember 1955 i. S. Blaser
gegen Aekermann. Regeste

    1.  Art. 42 Abs. 2, 46 Abs. 1 OR. Bestandteile des Schadens, den ein
von einem Hund ins Gesicht gebissenes Mädchen erleidet: Kosten einer
kosmetischen Operation, Erschwerung des wirtschaftlichen Fortkommens
durch Beeinträchtigung der Berufswahl und der Heiratsmöglichkeit (Erw. 2).

    2.  Art. 43 Abs. 1 OR. Das Fehlen des Verschuldens des Tierhalters
mindert dessen Ersatzpflicht nicht. Andere Umstände, die sie mindern
könnten? (Erw. 3). Bedeutung des Umstandes, dass der Schaden erst
später in vollem Umfange entstehen wird (Erw. 4). Verzinsung der
Schadenersatzforderung (Erw. 6).

    3.  Art. 47 OR. Voraussetzungen und Höhe der Genugtuung für
Körperverletzung (Erw. 5). Verzinsung (Erw. 6).

Sachverhalt

    A.- Am 14. Februar 1953 gegen Mittag spazierte Dora Ackermann mit ihrem
damals zweieinhalb Jahre alten Töchterchen Isabelle und einer an der Leine
geführten Schäferhündin auf der Dammstrasse in Oftringen am Hause des Hans
Blaser vorbei. In diesem Zeitpunkt kam Blasers sechsjähriger Chow-Chow-Hund
bellend aus dem Garten, in dem er sich meistens frei aufhielt. Durch den
Lärm aufmerksam geworden, trat Frau Blaser vor die Haustüre und befahl
dem Hunde, ruhig zu sein. Nachher unterhielt sie sich mit Frau Ackermann
und achtete nicht mehr auf den Chow-Chow, der am Boden herumschnüffelte
und scheinbar beruhigt war. Isabelle Ackermann kauerte einige Schritte
vom Hund Blasers entfernt am Boden und machte Schneehäufchen. Plötzlich
drehte sich dieser Hund gegen sie und biss sie in die rechte Wange,
ohne dass er irgendwie gereizt oder sonst dazu veranlasst worden wäre.
Isabelle erlitt eine schwere Wunde, die zwischen rechtem Augenwinkel und
Ohr begann, geradlinig in die Nähe des Mundes verlief und dort rechtwinklig
gegen die Nasenwurzel abbog. Die Wunde musste zwölffach geheftet werden. In
der Folge entwickelte sich eine hypertrophische, keloidartige, verhärtete
Narbe, die sich rosafarben und hässlich über die Haut erhebt. Sie wird
sich von 4 cm entsprechend dem Wachstum des Kindes auf 5-6 cm verlängern
und das Gesicht dauernd entstellen, obwohl die rote Farbe der Biss-Stelle
möglicherweise verblassen wird. Eine kosmetische Operation kann die Narbe
höchstens schmäler und blasser machen. Ihr Erfolg ist aber nicht sicher.

    B.- Isabelle Ackermann klagte am 12. Januar 1954 gegen Hans Blaser auf
Fr. 20'000.-- Schadenersatz und Genugtuung nebst 5% Zins seit 14. Februar
1953.

    Das Bezirksgericht Zofingen hiess die Klage im Betrage von Fr. 9000.--
nebst 5% Zins seit 14. Februar 1953 gut.

    Hiegegen appellierte der Beklagte mit dem Antrag, die Klage sei
insoweit abzuweisen, als sie auf Zahlung von mehr als Fr. 3000.-- gehe.

    Das Obergericht des Kantons Aargau wies die Appellation am 17. Juni
1955 ab. Es ging davon aus, die Klägerin habe für Schmerzen und psychische
Belastung Anspruch auf eine Genugtuung von wenigstens Fr. 2000.--, und
der Rest von Fr. 7000.-- des erstinstanzlich zugesprochenen Gesamtbetrages
rechtfertige sich als Ersatz für den Schaden, den die Klägerin namentlich
in der Form der Beeinträchtigung ihres wirtschaftlichen Fortkommens
erleiden werde. Dass dieser Schaden sich erst nach etwa 15 Jahren auswirken
und die zuerkannte Summe inzwischen bei einem Zinssatz von 2 1/2% mit
Zinseszinsen auf rund Fr. 10'100.-- ansteigen werde, gebe nicht Anlass
zu einer Herabsetzung.

    C.- Der Beklagte führt Berufung mit den Anträgen: 1. Das Urteil
des Obergerichts sei aufzuheben und die Klage abzuweisen, soweit an
Genugtuung und Schadenersatz mehr als Fr. 3000.-- verlangt würden; 2.
Eventuell sei die Klage höchstens im Betrage von Fr. 5000.-- zu schützen;
3. Der Verzugszins sei erst ab 12. Januar 1954 zuzusprechen.

    D.- Die Klägerin beantragt, die Berufung sei abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Klägerin hat durch den Hund des Beklagten eine Körperverletzung
erlitten, für deren Folgen der Beklagte, wie er nicht mehr bestreitet,
gemäss Art. 56 Abs. 1 OR aufzukommen hat. Streitig ist nur noch die
Höhe des Schadenersatzes und der Genugtuung, wobei der Beklagte einen
Gesamtbetrag von Fr. 3000.--, eventuell Fr. 5000.--, für genügend
hält, während die Klägerin sich mit dem ihr im kantonalen Verfahren
zugesprochenen Betrag von Fr. 9000.-- abfinden will.

Erwägung 2

    2.- Gemäss Art. 46 OR gibt Körperverletzung dem Verletzten Anspruch
auf Ersatz der Kosten sowie auf Entschädigung für die Nachteile gänzlicher
oder teilweiser Arbeitsunfähigkeit, unter Berücksichtigung der Erschwerung
des wirtschaftlichen Fortkommens.

    a) Als Kosten fallen die Auslagen für ärztliche Behandlung in
Betracht. Die Klägerin hat sie nicht belegt, doch gibt der Beklagte zu,
dass sie sich auf etwa Fr. 100.-- belaufen. Sie werden sich noch um
Fr. 300.-- bis 500.-- vermehren, wenn die Klägerin, wie der Beklagte ihr
zumutet, sich zur Verbesserung des Aussehens der Narbe einer Operation
unterziehen wird, die der Spezialarzt Dr. Buff frühestens nach Ablauf von
drei Jahren für angezeigt hält. Diese Operation wird nicht schmerzhaft
sein, nach Erklärung des Facharztes den Zustand nicht verschlimmern,
wahrscheinlich aber das Aussehen der Narbe verbessern. Es darf daher
von der Klägerin erwartet werden, dass sie sich dieser Massnahme, die den
Schaden voraussichtlich verringern kann, unterziehe. Unter diesen Umständen
sind die Kosten der Operation in die Schadensrechnung einzubeziehen,
während anderseits der übrige Schaden nach dem Aussehen zu bestimmen ist,
das die Narbe voraussichtlich nach der Operation haben wird.

    b) Wie der Beklagte zutreffend geltend macht, wird die Arbeitsfähigkeit
der Klägerin, sei es mit, sei es ohne Nachoperation, durch die ausgeheilte
Wunde nicht beeinträchtigt werden. Das Obergericht stellt aber fest, auch
nach der Operation werde eine Narbe verbleiben, wenn auch wahrscheinlich
abgeblasster, weniger auffällig und weniger verunstaltend, als sie jetzt
ist. Das ist auch die Auffassung des Arztes. Obschon er die schliesslich
zurückbleibende kosmetische Einbusse als gering bezeichnet, ist daher an
einer gewissen bleibenden Erschwerung des wirtschaftlichen Fortkommens
der Klägerin nicht zu zweifeln. Wie sich das in ihrem Einkommen
auswirken wird, braucht nicht zahlenmässig dargetan zu werden. Wer
Schadenersatz beansprucht, hat zwar den Schaden zu beweisen (Art. 42
Abs. 1 OR). Aber der nicht ziffermässig nachweisbare Schaden ist nach
Ermessen des Richters mit Rücksicht auf den gewöhnlichen Lauf der Dinge
und auf die vom Geschädigten getroffenen Massnahmen abzuschätzen (Art. 42
Abs. 2 OR). Solchen Schaden wird die Klägerin erleiden. Als Kind eines
Apothekers wird sie sich nicht mit einem Berufe begnügen wollen, der
nur handwerkliches Können erfordert. Sie wird daher in der Berufswahl
behindert sein. Einen Beruf, der Anforderungen an ein einnehmendes
Aussehen stellt, wird sie nicht wählen oder im Wettbewerbe mit anderen
nur mit Nachteil ausüben können. Nach der Erfahrung des Lebens schränken
Narben im Gesicht einer Frau, selbst wenn sie dieses nur geringfügig
entstellen, auch die Möglichkeit der Verheiratung und damit die mit der
Heirat verbundene Verbesserung des wirtschaftlichen Fortkommens ein. Unter
diesen Gesichtspunkten ist schon in BGE 33 II 124 ff. einem Mädchen,
das durch Hundebiss ins Gesicht verletzt worden war, Schadenersatz
zugesprochen worden. Indem das Obergericht im vorliegenden Falle den
Schaden mit gleicher Begründung bejahte, hat es das Ermessen in diesem
wesentlich tatbeständlichen Bereiche nicht überschritten. Das Bundesgericht
hat keinen Grund, in diesen von persönlichen und örtlichen Umständen
mitbestimmten Fragen (vgl. BGE 79 II 387 a. E.) anders zu entscheiden.

Erwägung 3

    3.- Gemäss Art. 43 Abs. 1 OR sind Art und Grösse des Ersatzes für
den eingetretenen Schaden vom Richter zu bestimmen, "der hiebei sowohl
die Umstände als die Grösse des Verschuldens zu würdigen hat".

    Auf das Verschulden kommt für die Bestimmung der Grösse des Ersatzes
aber nur etwas an, wenn es Voraussetzung der Ersatzpflicht ist. Im
vorliegenden Falle ist es das nicht, da der Beklagte den ihm nach Art. 56
Abs. 1 OR obliegenden Entlastungsbeweis nicht erbracht hat. Der Einwand des
Beklagten, er habe den Schaden nicht verschuldet, hilft daher nicht. Der
Beklagte legt BGE 33 II 132 falsch aus, wenn er daraus ableitet, für die
Ersatzbemessung komme etwas darauf an, ob den Tierhalter ein Verschulden
treffe. Lediglich in der Abschätzung des Schadens, nicht in der Bestimmung
der Höhe des Ersatzes, liess sich dort der Richter vom Gedanken leiten,
dass Zurückhaltung nicht am Platze sei, weil den Ersatzpflichtigen ein
schweres Verschulden treffe. Dass fehlendes Verschulden ein Grund sei,
den nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge zu erwartenden Schaden nicht
voll ersetzen zu lassen, heisst das nicht. Übrigens ist der Beklagte nicht
frei von jedem Vorwurf, hat doch der gleiche Hund schon anderthalb Jahre
früher ein zweieinhalb Jahre altes Kind gebissen. Das hätte den Eigentümer
veranlassen sollen, ihn sorgfältiger zu beaufsichtigen.

    Ebensowenig setzt der Umstand, dass die Mutter der Klägerin eine
Schäferhündin mitführte, die Ersatzpflicht des Beklagten herab. Das
Obergericht verneint verbindlich, dass die Anwesenheit dieser an der
Leine geführten Hündin den Schaden mitverursacht oder ihn vergrössert
habe. Zudem hatte die Klägerin weder für die Anwesenheit der Schäferhündin,
noch dafür einzustehen, dass sie selbst, wie der Beklagte vermutet,
vom Geruch dieses Tieres behaftet gewesen sei und damit die Erregung des
Chow-Chow gesteigert habe. Die Klägerin war nicht Tierhalterin, und sie
hätte die vom Beklagten behaupteten Tatsachen auch nicht verschuldet.

    Es besteht daher kein Anlass, den Beklagten nicht zum Ersatz des
vollen Schadens zu verpflichten.

Erwägung 4

    4.- Der volle Ersatz aber ist vom Obergericht mit Fr. 7000.-- nicht
unrichtig bestimmt worden, selbst wenn berücksichtigt wird, dass das
wirtschaftliche Fortkommen der Klägerin erst in der Zukunft erschwert
werden wird und der Betrag bis dahin an Zins gelegt werden kann. Es trifft
nicht zu, dass die Klägerin erst im Alter von 22 1/2 Jahren voll geschädigt
sein wird, wie der Beklagte behauptet. Das Obergericht nimmt mit Recht
an, das werde schon in etwa 15 Jahre zutreffen. Gewiss liegt auch so im
sofortigen Zuspruch des Ersatzes ein nicht unbeachtlicher Vorteil. Aber
selbst unter der Voraussetzung, dass es der Klägerin gelinge, aus dem
Betrage nicht nur 2 1/2% Zins zu ziehen, wie das Obergericht annimmt,
sondern 3 1/2%, wie der Beklagte unter Hinweis auf die bundesgerichtliche
Rechtsprechung zur Bestimmung des Barwertes von Invalidenrenten geltend
macht, ergibt sich daraus nicht eine Überbewertung des Schadens. In BGE
33 II 124 ff., wo ebenfalls über den durch Einschränkung der Berufswahl
und der Heiratsmöglichkeit entstehenden Schaden zu befinden war, der einem
ins Gesicht gebissenen Mädchen bevorstand, wurde denn auch im vorzeitigen
Zuspruch des Ersatzes kein Grund zur Minderung des Betrages gesehen. Die
Kritik des Beklagten am angefochtenen Urteil schlägt umsoweniger durch,
als der Schaden ohnehin nur ermessensmässig bestimmt werden kann und
die Ungewissheit über die tatsächlichen Auswirkungen der erlittenen
Verletzung sich nicht zuungunsten der Klägerin auswirken darf, sondern
vom Beklagten, der für das schädigende Ereignis voll einzustehen hat,
in Kauf genommen werden muss. Zu bedenken ist endlich, dass nichts im
Wege stünde, die nachgesuchte Herabsetzung des Schadenersatzes durch eine
Erhöhung der Genugtuung wettzumachen, die das Gesetz in das richterliche
Ermessen stellt.

Erwägung 5

    5.- Hat die unerlaubte Handlung eine Körperverletzung zur Folge, so
kann der Richter unter Würdigung der besonderen Umstände dem Verletzten
eine angemessene Geldsumme als Genugtuung zusprechen (Art. 47 OR).

    Ein Verschulden des Haftbaren setzt diese Bestimmung nicht voraus
(BGE 74 II 210 ff.). Schon deshalb versagt der Einwand des Beklagten,
es treffe ihn kein Verschulden. Wie bereits erwähnt, kann ein solches
übrigens nicht verneint werden, wenn es auch nicht besonders schwer war.

    Eine Geldsumme als Genugtuung rechtfertigt sich im vorliegenden Falle
als Ausgleich für die Schmerzen, welche die Klägerin hat ausstehen müssen,
und die erhebliche seelische Belastung, welche die dauernde Entstellung
ihres Gesichts durch die Narbe zur Folge hat.

    Auch die Höhe der zugesprochenen Genugtuungssumme von Fr. 2000.--
verletzt das Gesetz nicht. Sie bleibt im Rahmen des Ermessens. Dieses
wäre selbst dann nicht überschritten, wenn ein Betrag von Fr. 3000.--
bis 4000.-- zuerkannt worden wäre.

Erwägung 6

    6.- Der Beklagte beanstandet den ab 14. Februar 1953 zugesprochenen
Zins mit der Begründung, am Tage des Unfalles sei noch keine Forderung
fällig gewesen; Verzugszins für hypothetischen, zukünftigen Schaden könne
frühestens ab Einreichung der Klage zugesprochen werden.

    Er verkennt, dass die Schadenersatz- und Genugtuungsforderung mit
Eintritt des den Anspruch begründenden Ereignisses fällig wird und
dass der gemäss ständiger Rechtsprechung ab diesem Tage zuzusprechende
Zins (vgl. z.B. BGE 33 II 133 Erw. 7) nicht Verzugszins, sondern
Bestandteil des Schadenersatzes bezw. der Genugtuung ist. Er bezweckt,
den Anspruchsberechtigten so zu stellen, wie wenn er für seine Forderung am
Tage der unerlaubten Handlung befriedigt worden wäre. Dass im vorliegenden
Falle ein Teil des Schadens erst später eintreten wird, rechtfertigt keine
Abweichung, da dem Umstande, dass der Ersatz schon heute zugesprochen wird,
in dessen Bemessung Rechnung getragen wird.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil der I. Abteilung des
Obergerichts des Kantons Aargau vom 17. Juni 1955 bestätigt.