Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 81 II 481



81 II 481

75. Urteil der II. Zivilabteilung vom 24. November 1955 i. S. Eheleute
Gallati. Regeste

    Ehescheidung.

    1.  Der Ehegatte, dessen Schuld die Zerrüttung zwar vorwiegend, aber
doch nicht ausschliesslich verursacht hat, ist gemäss Art. 147 /48 ZGB
nach Ablauf der Trennung, sofern keine Wiedervereinigung erfolgt ist, auch
dann zur Klage auf Scheidung berechtigt, wenn der andere, weniger schuldige
Ehegatte seinerseits die Scheidung verlangt (Anderung der Rechtsprechung).

    2.  Beweis des Ehebruchs. Violenta praesumptio?

Sachverhalt

    A.- Mit Urteil vom 19. April 1951 trennte das Bezirksgericht Zürich
die im Jahre 1929 geschlossene Ehe der Parteien auf Begehren der Ehefrau
für die Dauer von zwei Jahren. Die auf Scheidung gerichtete Widerklage
des Ehemannes wies es ab, weil die bestehende Zerrüttung vorwiegend seiner
Schuld zuzuschreiben sei. Dieses Urteil wurde rechtskräftig.

    B.- Im Mai 1953 leitete die Ehefrau Klage auf Scheidung ein. Der
Ehemann verlangte widerklageweise ebenfalls die Scheidung. Nach
Durchführung eines Beweisverfahrens schützte das Bezirksgericht Zürich am
14. Mai 1954 die Hauptklage, wies die Widerklage ab und sprach der Ehefrau
anstelle der von ihr verlangten dauernden Rente von monatlich Fr. 300.--
eine auf fünf Jahre beschränkte Rente zu, die es für die ersten drei
Jahre auf Fr. 120.-- und für die beiden letzten Jahre auf Fr. 100.--
pro Monat festsetzte.

    Die Ehefrau erklärte die Appellation, der Ehemann die
Anschlussappellation an das Obergericht. In der Appellationsverhandlung
vom 16. September 1954 zog die Ehefrau ihre Scheidungsklage zurück, worauf
der Prozess als durch Rückzug der Hauptklage erledigt abgeschrieben wurde.

    C.- Gleichentags stellte der Ehemann beim Friedensrichter das
Scheidungsbegehren. Am 15. November 1954 machte er dieses beim Gericht
anhängig. Die Ehefrau beantragte Abweisung der Klage. Für den Fall,
dass nach der Auffassung des Gerichts die Voraussetzungen von Art. 148
ZGB erfüllt sein sollten, erhob sie "eventuelle Widerklage", mit der
sie die Scheidung aus Verschulden des Ehemanns gestützt auf Art. 137,
eventuell Art. 142 ZGB, sowie die Zusprechung einer unabänderlichen Rente
von monatlich Fr. 230.-- verlangte. Das Bezirksgericht Zürich sprach
am 10. Dezember 1954 in Gutheissung der Klage des Ehemanns gestützt auf
Art. 148 und 142 ZGB die Scheidung aus und verpflichtete den Ehemann,
der Ehefrau eine Bedürftigkeitsrente von monatlich Fr. 150.-- für drei
Jahre und von monatlich Fr. 100.-- für zwei weitere Jahre zu entrichten.

    Auch gegen dieses Urteil appellierte die Ehefrau an das Obergericht. In
der Appellationserklärung erneuerte sie die vor Bezirksgericht gestellten
Anträge. Der Ehemann beantragte auf dem Wege der Anschlussappellation,
er sei von jeder Unterhaltsleistung an die Ehefrau zu befreien; eventuell
seien die Beiträge zu ermässigen. In der Berufungsverhandlung gab die
Ehefrau die Erklärung ab, sie ziehe ihren bisherigen Hauptantrag auf
Abweisung der Scheidungsklage zurück und erkläre sich mit der Scheidung
einverstanden, sodass ihre Eventualwiderklage zur gewöhnlichen Widerklage
werde. Das Obergericht liess die Widerklage zu. Mit Urteil vom 30. April
1955 hat es die Parteien in Gutheissung der Haupt- und der Widerklage
gestützt auf Art. 142 und 148 ZGB geschieden und das Begehren der Ehefrau
um Zusprechung eines Unterhaltsbeitrags abgewiesen mit der Begründung,
der Ehemann habe nach Art. 148 ZGB Anspruch auf die Scheidung, weil die
Trennungszeit abgelaufen, eine Wiedervereinigung nicht erfolgt und er
an der Zerrüttung nicht ausschliesslich schuldig sei. Das Bundesgericht
habe in BGE 72 II 7 freilich angenommen, der mehrschuldige Gatte habe
kein Recht auf Scheidung gemäss Art. 147 /48 ZGB, wenn der weniger
schuldige von seinem Anspruch Gebrauch mache und seinerseits die Scheidung
verlange. Diese Auffassung finde jedoch im Gesetz keine genügende Grundlage
und sei auch mit Rücksicht auf ihre praktischen Folgen abzulehnen. Die
Klage des Ehemanns sei daher zu schützen. Aber auch die Ehefrau habe
einen Scheidungsanspruch. Ein ausreichender Beweis dafür, dass der Ehemann
mit Frau R. die Ehe gebrochen habe, sei zwar nicht erbracht worden,
wenn auch ein erheblicher Verdacht bestehe. Dagegen sei die Widerklage
im Scheidungspunkt gestützt auf Art. 142 und 148 ZGB gutzuheissen.
Ein Unterhaltsbeitrag könne der Ehefrau nicht zugesprochen werden, weil
sie nicht schuldlos sei.

    D.- Gegen das obergerichtliche Urteil hat die Ehefrau die Berufung an
das Bundesgericht erklärt mit den Anträgen, es sei aufzuheben, soweit es
die Hauptklage schütze; die Scheidung sei in Gutheissung der Widerklage auf
Grund von Art. 137, eventuell Art. 142 ZGB auszusprechen; der Ehemann
sei zur Zahlung eines Unterhaltsbeitrags von monatlich Fr. 230.--
zu verpflichten.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 147 Abs. 2 und 3 ZGB kann nach Ablauf der bestimmten
Trennungszeit bzw. nach dreijähriger Dauer der auf unbestimmte Zeit
ausgesprochenen Trennung "jeder Ehegatte" die Scheidung verlangen,
wenn eine Wiedervereinigung nicht erfolgt ist. Wird nach Ablauf dieser
Fristen (wofür das Marginale zu Art. 148 ZGB den Ausdruck "nach Ablauf
der Trennung" verwendet) die Scheidung "auch nur von einem Ehegatten
verlangt", so muss sie gemäss Art. 148 Abs. 1 ZGB ausgesprochen
werden, es sei denn, dass sie auf Tatsachen gegründet werde, die
ausschliesslich den nunmehr die Scheidung verlangenden Ehegatten als
schuldig erscheinen lassen. Die Scheidung ist indessen nach Art. 148
Abs. 2 auch in diesem Falle auszusprechen, wenn der andere Ehegatte die
Wiedervereinigung verweigert. Aus diesen Vorschriften ergibt sich, dass
eine nach Ablauf der Trennung eingeleitete Scheidungsklage, vom Falle
der Wiedervereinigung abgesehen, nur dann abgewiesen werden darf, wenn
der klagende Ehegatte ausschliesslich schuldig und der andere Ehegatte
ausserdem zur Wiedervereinigung bereit ist. Nicht nur der schuldlose oder
weniger schuldige Ehegatte, sondern auch derjenige, dessen Schuld die
Zerrüttung im Sinne von Art. 142 Abs. 2 ZGB vorwiegend, aber doch nicht
ausschliesslich zuzuschreiben ist, kann also nach Ablauf der Trennung, wenn
keine Wiedervereinigung erfolgt ist, die Scheidung durchsetzen, und zwar
unabhängig von der Einstellung des andern (weniger schuldigen) Ehegatten.

    Eine Ausnahme von diesem Grundsatze sieht das Gesetz nicht vor.
Insbesondere bestimmt es nicht, dass das Recht des vorwiegend schuldigen
Ehegatten, nach Ablauf der Trennung die Scheidung zu verlangen, wie in
BGE 72 II 7 angenommen dahinfalle, wenn der andere Ehegatte seinerseits
die Scheidung verlangt. Aus Art. 142 Abs. 2 ZGB lässt sich dies schon
deswegen nicht ableiten, weil im Falle des Urteils nach Ablauf der
Trennung eben nicht diese Bestimmung, sondern die davon abweichende
Sondervorschrift von Art. 148 gilt, wonach nicht schon das vorwiegende,
sondern nur das ausschliessliche Verschulden des klagenden Ehegatten diesem
unter Umständen (wenn der andere Gatte zur Wiedervereinigung bereit ist)
das Klagerecht entzieht. Wer die gerichtliche Trennung verlangt oder in
eine solche einwilligt, obwohl er sie unter Berufung auf Art. 142 Abs. 2
ZGB abwehren könnte, nimmt das Risiko auf sich, dass diese Lockerung des
Ehebandes nicht zu einer Aussöhnung, sondern zur endgültigen Entfremdung
führt, und kann sich daher nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes einem
nach Ablauf der Trennung gestellten Scheidungsbegehren des andern Gatten,
wenn keine Wiedervereinigung erfolgt ist, nur noch unter den erschwerten
Bedingungen des Art. 148 ZGB widersetzen.

    Zureichende Gründe dafür, den Scheidungsanspruch des vorwiegend
schuldigen Ehegatten im angegebenen Sinne entgegen dem Gesetzeswortlaut
zu beschränken, sind nicht vorhanden. Wollte man es noch als unnötig
oder sogar unbefriedigend betrachten, wenn im Falle, dass nach Ablauf
der Trennung beide Gatten auf Scheidung klagen, nicht nur die Klage
des weniger schuldigen, sondern auch diejenige des mehrschuldigen Teils
gutgeheissen wird, so wäre dieses Ergebnis doch auf jeden Fall nicht so
stossend, dass angenommen werden müsste, das Gesetz könne es trotz der
allgemeinen Fassung von Art. 147 /48 nicht wollen. Hievon kann schon
deswegen nicht die Rede sein, weil für die Beteiligten praktisch nicht
viel darauf ankommt, ob in einem solchen Falle die Scheidung auf Klage
beider Parteien oder nur in Gutheissung der Klage der weniger schuldigen
ausgesprochen wird. Im übrigen ist zu sagen, dass in Wirklichkeit nicht
die wörtliche Anwendung der erwähnten Bestimmungen, sondern die in BGE 72
II 7 vertretene Auffassung zu einem unbefriedigenden Ergebnis führt. Es
bedeutet eine Anomalie, den Scheidungsanspruch des einen Gatten davon
abhängig zu machen, ob der andere eine Scheidungsklage unterlässt oder auch
auf Scheidung klagt, und es ist inkonsequent, dem vorwiegend schuldigen
Gatten einen klagbaren Anspruch auf Scheidung zwar dann zu gewähren, wenn
der andere sich gegen die Scheidung wehrt und sogar zur Wiederaufnahme der
Gemeinschaft bereit ist, nicht dagegen dann, wenn der andere ebenfalls
die Scheidung verlangt. Bei der sehr einlässlichen Diskussion in den
eidgenössischen Räten, die dem Art. 148 ZGB (Art. 155 des bundesrätlichen
Entwurfs) die Gesetz gewordene Fassung gegeben haben (Sten. Bull. 1905
S. 632 ff., 1027 ff., 1056 ff; 1907 Nationalrat S. 251 ff., Ständerat
S. 295 ff.), ist denn auch von keiner Seite die Auffassung verfochten
worden, dass der Scheidungsanspruch des vorwiegend schuldigen Gatten
einer solchen Einschränkung unterliegen solle. Dem Zürcher Obergericht,
das schon in einem Entscheide vom 27. Juni 1947 (Bl. Z.R. 48 Nr. 21)
von BGE 72 II 7 abgewichen ist, ist schliesslich zuzugeben, dass der in
diesem Entscheid aufgestellte Grundsatz auch in prozessualer Hinsicht
unerwünschte Folgen haben kann. Nach alledem lässt sich dieser Grundsatz
nicht aufrechterhalten.

    Die im Urteil vom 19. April 1951 festgesetzte Trennungszeit war bei
Einleitung der vorliegenden Klage abgelaufen. Eine Wiedervereinigung ist
nicht erfolgt. Angesichts der tatsächlichen Feststellungen im Urteil des
Bezirksgerichtes Zürich vom 14. Mai 1954, die sich die Vorinstanz zu eigen
gemacht hat, kann dem Kläger nicht das ausschliessliche Verschulden im
Sinne von Art. 148 ZGB (vgl. hiezu BGE 74 II 1) vorgeworfen werden. Im
übrigen ist die Beklagte heute auch nicht mehr bereit, die eheliche
Gemeinschaft wieder aufzunehmen. Bei dieser Sachlage ist nach dem Gesagten
das Scheidungsbegehren des Klägers zu schützen.

Erwägung 2

    2.- Soweit die Widerklage der Beklagten sich auf Art. 137 ZGB stützt,
ist sie von der Vorinstanz mit der Begründung abgewiesen worden, der
von der Beklagten behauptete Ehebruch des Klägers mit Frau R. sei nicht
hinlänglich bewiesen. Hierin liegt eine tatsächliche Feststellung, die
gemäss Art. 63 Abs. 2 OG für das Bundesgericht verbindlich ist. Vergeblich
macht die Beklagte geltend, diese Feststellung beruhe auf einer Verletzung
der bundesrechtlichen Beweisregel, wonach zum Beweis des Ehebruchs der
Nachweis von Tatsachen genügt, die nach den Erfahrungen des Lebens einen
dringenden Verdacht (eine violenta praesumptio) begründen (vgl. hiezu BGE
25 II 761 f., 47 II 250 und die Praxis betr. den Beweis der Beiwohnung
in Vaterschaftssachen: BGE 43 II 564, 52 II 109 /10, 57 II 393, 66 II
82, 75 II 104). Die Vorinstanz konnte ohne Verkennung der Lehren der
allgemeinen Lebenserfahrung zur Auffassung gelangen, was mit Bezug auf
das Verhältnis zwischen dem Kläger und Frau R. erwiesen sei, begründe
zwar einen erheblichen Verdacht, lasse aber doch nicht mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit darauf schliessen, dass es zwischen diesen
beiden zum Geschlechtsverkehr gekommen sei. Das Scheidungsbegehren
der Beklagten kann daher nicht auf Grund von Art. 137 ZGB geschützt
werden. Dagegen ist klar und auch gar nicht bestritten, dass die Beklagte
die Scheidung gestützt auf Art. 142 und 148 ZGB verlangen kann.

Erwägung 3

    3.- (Ausführungen darüber, dass der Beklagten ein Unterhaltsbeitrag
nicht zugesprochen werden kann.)

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Ober gerichtes des
Kantons Zürich vom 30. April 1955 bestätigt.