Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 81 II 455



81 II 455

70. Urteil der I. Zivilabteilung vom 11. Oktober 1955 i.S. Wurm gegen
LIBAG Liegenschafts- und Beteiligungs A.-G. Regeste

    Einmann-A.-G., Bürgschaft.

    Die rechtliche Selbständigkeit der Einmann-A.-G. ist unbeachtlich im
Verhältnis zu Dritten, wenn Treu und Glauben dies erfordern.

    -  So wenn bei gemeinsamer Bürgschaft des Alleinaktionärs und eines
Dritten für Schulden der Gesellschaft eine vom gleichen Alleinaktionär
beherrschte andere Gesellschaft die verbürgte Forderung erwirbt und gegen
den Mitbürgen geltendmacht.

    - Ebenso wenn der Alleinaktionär seine Bürgschaft erfüllt und auf
den Mitbürgen Rückgriff nimmt.

Sachverhalt

    A.- Ernst Wild ist Inhaber sämtlicher Aktien und einziger
Verwaltungsrat der Silva-Plastic A.-G., deren Aktienkapital Fr.
50'000.-- beträgt. Mit Vertrag vom 23. August 1950 zwischen Wild und
der Silva-Plastic A.-G. einerseits und Benjamin Wurm anderseits wurde
letzterer als Direktor der Silva-Plastic A.-G. angestellt. Der Vertrag
sah ferner eine finanzielle Beteiligung des Wurm an der Gesellschaft
vor, indem Wild ihm ein unwiderrufliches Kaufsrecht an der Hälfte des
Aktienkapitals von Fr. 50'000.-- einräumte. Diese Beteiligung Wurms
wurde jedoch in der Folge nicht durchgeführt.

    Die Silva-Plastic A.-G. nahm bei der Schweiz. Bankgesellschaft Zürich
unter drei Malen Kredite im Gesamtbetrage von Fr. 880'000.-- auf. Mit
Bürgscheinen vom 28. September 1950, 8. November 1950 und 23. Januar
1951 verpflichteten sich Wild und Wurm, der Bank für den genannten Betrag
"gemeinsam als Mitbürgen solidarisch zu haften".

    Infolge von Meinungsverschiedenheiten zwischen Wild und Wurm kündigte
letzterer sein Anstellungsverhältnis bei der Silva-Plastic A.-G. auf
den 31. Mai 1951.

    Am 6. Juli 1951 teilte die Schweiz. Bankgesellschaft Wurm mit,
die Silva-Plastic A.-G. habe sich auf Aufforderung zur Rückzahlung der
verfallenen Kredite mit Schreiben vom 5. Juli 1951 als illiquid und ausser
Stande erklärt, ihren Verpflichtungen der Bank gegenüber nachzukommen;
Wurm werde daher als solidarischer Mitbürge auf Grund von Art. 496 /7 OR
aufgefordert, bis 14. Juli 1951 den aufihn entfallenden Kopfanteil von Fr.
345'633.50 an die Bank zu bezahlen.

    Wurm bestritt, dass die Bank berechtigt sei, ihn vor der
Hauptschuldnerin zu belangen, da er nur mit dem Mitbürgen Wild, nicht
aber auch mit der Hauptschuldnerin solidarisch hafte.

    Am 9. November 1951 trat die Schweiz. Bankgesellschaft ihre Forderung
gegen die Silva-Plastic A.-G. von Fr. 712'582.50 mit allen Nebenrechten
gegen Bezahlung des genannten Betrages an die LIBAG Liegenschafts- und
Beteiligungs A.-G. in Zürich ab. Hauptaktionär der LIBAG ist ebenfalls
Wild; er besitzt von den insgesamt 50 Aktien zu Fr. 1000.-- deren 48 und
ist einziger Verwaltungsrat der Gesellschaft.

    Mit Zahlungsbefehl vom 30. November 1951 betrieb die LIBAG als
Abtretungsgläubigerin den Wurm für den Betrag von Fr. 356'291.25 nebst
Zinsen und Kosten unter Berufung auf seine Bürgschaftsverpflichtung
zu Gunsten der Silva-Plastic A.-G. Wurm erhob Rechtsvorschlag. Dieser
wurde jedoch mit Entscheid des Bezirksgerichtspräsidenten Hinterland vom
7. Februar 1952 und des Obergerichtspräsidenten von Appenzell A. Rh. vom
19. Mai 1952 durch provisorische Rechtsöffnung beseitigt.

    B.- Am 28. Mai 1952 klagte Wurm auf Aberkennung der gegen ihn
geltendgemachten Forderung von Fr. 356'291.25.

    Die Beklagte LIBAG beantragte Abweisung der Klage.

    C.- Sowohl das Bezirksgericht Hinterland als auch das Obergericht
Appenzell A. Rh., dieses mit Urteil vom 31. August 1954, zugestellt am
25. März 1955, wiesen die Aberkennungsklage ab.

    Beide Instanzen verneinten die vom Kläger behauptete absichtliche
Täuschung bei Abschluss des Bürgschaftsvertrages, wie auch das Vorliegen
eines wesentlichen Irrtums des Klägers. Sie nahmen ferner an, es liege
entgegen der Auffassung des Klägers eine Solidarbürgschaft im Sinne
des Art. 496 OR vor und wiesen demzufolge die Einrede der Vorausklage
ab. Ebenso verneinten sie die vom Kläger behauptete Befreiung von der
Bürgschaft auf Grund von Art. 511 OR und erklärten die in Art. 496 OR
geforderten Voraussetzungen für die Belangung aus Solidarbürgschaft
als gegeben. Verworfen wurde auch der Einwand des Klägers, dass seine
Bürgschaft nach Art. 509 Abs. 1 OR infolge Erlöschens der Hauptschuld
untergegangen oder dass die Bürgschaftsforderung infolge Vereinigung
im Sinne von Art. 118 OR erloschen sei. Als unbegründet erklärt wurde
endlich auch die Auffassung des Klägers, dass die Geltendmachung der
Bürgschaftsforderung durch die LIBAG wegen deren wirtschaftlichen Identität
mit der Hauptschuldnerin Silva-Plastic A.-G. sowie dem Mitbürger Wild
einen Rechtsmissbrauch darstelle.

    D.- Mit der vorliegenden Berufung hält der Kläger an seinem Begehren
auf Schutz seiner Aberkennungsklage im vollen Umfang fest; eventuell
beantragt er die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Ergänzung
des Beweisverfahrens und zu neuer Entscheidung.

    Die Beklagte beantragt Abweisung der Berufung und Bestätigung des
angefochtenen Entscheides.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Ob es sich bei der streitigen Bürgschaftsverpflichtung gemäss
der Auffassung der Vorinstanz um eine Solidarbürgschaft handle oder um
eine einfache Mitbürgschaft mit Solidarität nur zwischen den Mitbürgen,
wie der Kläger in der Berufung erneut geltend macht, kann dahingestellt
bleiben. Ebenso braucht nicht entschieden zu werden über die vom Kläger
aufrecht erhaltene Einrede der Befreiung von der Bürgschaft gemäss Art. 511
OR. Denn selbst wenn in diesen beiden Fragen der Auffassung der Vorinstanz
beizupflichten wäre, so erweist sich das Aberkennungsbegehren des Klägers
dann auf jeden Fall deshalb als begründet, weil die Geltendmachung der
streitigen Forderung durch die Aberkennungsbeklagte einen Rechtsmissbrauch
i.S. von Art. 2 ZGB bedeutet.

Erwägung 2

    2.- a) Es steht fest, dass der Mitbürge Wild im Zeitpunkt der
Begründung des streitigen Bürgschaftsverhältnisses Alleinaktionär
der Hauptschuldnerin Silva-Plastic A.-G. war und es in der Folge auch
blieb während der ganzen Dauer der Abwicklung und Durchsetzung der vom
Kläger eingegangenen Bürgschaftsverpflichtung. Zu der im Vertrage vom 23.
August 1950 vorgesehenen Beteiligung des Klägers an der Silva-Plastic A.-G.
durch Erwerb der Hälfte der Aktien kam es tatsächlich nie. Der Kläger
wurde also nie Aktionär. Er war lediglich leitender Angestellter der
Gesellschaft; sein Interesse an ihr war einzig und allein dasjenige eines
Dienstpflichtigen, nicht das eines Aktionärs.

    Gemäss verbindlicher Feststellung der Vorinstanz besitzt Wild sodann
auch 48 von den 50 Aktien der Beklagten LIBAG, an welche die Schweiz.
Bankgesellschaft die verbürgte Forderung gegenüber der Hauptschuldnerin
Silva- Plastic A.-G. mit allen Nebenrechten gegen Erlegung des vollen
Forderungsbetrages von Fr. 712'582.50 abgetreten hat.

    Sowohl bei der Hauptschuldnerin Silva-Plastic A.-G. als auch
bei der Abtretungsgläubigerin LIBAG handelt es sich somit um sog.
Einmanngesellschaften, bei denen die Verfügungsmacht über das
Unternehmen ausschliesslich dem Allein- oder Hauptaktionär zusteht
und die infolgedessen wirtschaftlich mit diesem identisch sind, weil
sich die Interessensphäre der Gesellschaft mit derjenigen des Allein-
oder Hauptaktionärs vollständig deckt. Eine solche Gesellschaft stellt
wirtschaftlich kein selbständiges Gebilde dar, sondern sie ist ein blosses
Werkzeug in der Hand des Allein- bzw. Hauptaktionärs, dessen Willen sie
untertan ist.

    b) Die Einmanngesellschaft wird in der Praxis des schweizerischen
Rechts geduldet. Sie behält grundsätzlich ihre Rechtspersönlichkeit
bei, kann Trägerin von Rechten und Pflichten sein und über ein
eigenes Vermögen mit eigenen Aktiven und Passiven verfügen. Mit
Rücksicht auf die wirtschaftliche Identität zwischen Gesellschaft und
Alleinbzw. Hauptaktionär muss aber diese formalrechtliche Selbständigkeit
der Gesellschaft in deren Beziehungen zu Dritten unbeachtet bleiben, wo
der Grundsatz von Treu und Glauben im Verkehr dies erfordert (BGE 71 II
275, 72 II 76). Diese Voraussetzung trifft im vorliegenden Fall entgegen
der Meinung der Vorinstanz zu.

    Die Abtretungsgläubigerin LIBAG, die durch die Befriedigung
der Schweizerischen Bankgesellschaft die Stellung des Gläubigers der
Hauptschuld erlangte, ist, wie erwähnt, wirtschaftlich ihrem Hauptaktionär
Wild gleichzusetzen. Sofern nun der Kläger Wurm auf Grund der auf die
Beklagte LIBAG übergegangenen Bürgschaftsansprüche zur Bezahlung des
auf ihn entfallenden Kopfteils an die LIBAG verpflichtet würde, stünde
ihm nach Begleichung seiner Bürgschaftsverpflichtung der Rückgriff
auf die Hauptschuldnerin Silva-Plastic A.-G. offen. Diese ist aber
wiederum wirtschaftlich mit Wild identisch. Es verhielte sich somit in
Wirklichkeit so, dass Wild den Betrag, den er in der Gestalt der LIBAG aus
der Bürgschaftsverpflichtung des Klägers erhielte, auf der andern Seite
in der Gestalt der Hauptschuldnerin Silva-Plastic A.-G. wiederum an den
Kläger zurückzuerstatten hätte. Für eine derartige Vermögensverschiebung
besteht aber weder für die LIBAG, noch für die Silva-Plastic A.-G.,
noch für Wild ein schutzwürdiges Interesse. Die LIBAG hatte, wie auch
die Vorinstanz anerkennt, keine geschäftliche Veranlassung, die Schuld
der Silva-Plastic A.-G. gegenüber der Schweiz. Bankgesellschaft zu
begleichen und die Forderung gegen jene zu erwerben. Ihr Zweck besteht
nach dem Handelsregistereintrag im An- und Verkauf sowie in der Verwaltung
von Liegenschaften und Liegenschaftenrechten und in der Beteiligung an
verwandten Unternehmen. Der Erwerb der Darlehensforderung der Bank gegen
das Fabrikationsunternehmen Silva-Plastic A.-G. fiel also unzweifelhaft
nicht in den Bereich ihrer ordentlichen Geschäftstätigkeit. Er erfolgte
vielmehr ausschliesslich im Interesse ihres Hauptaktionärs Wild, um diesem
das Vorgehen gegen den Bürgen Wurm zu ermöglichen und ihn, falls er zur
Bezahlung der Bürgschaftsschuld nicht im Stande sein sollte, wirtschaftlich
zu vernichten. Ein Vorgehen, das ausschliesslich einem derartigen Zweck zu
dienen bestimmt sein kann, verdient keinen Rechtsschutz. Mit Rücksicht auf
die wirtschaftliche Identität zwischen Wild und der Abtretungsgläubigerin
LIBAG einerseits sowie der Hauptschuldnerin Silva-Plastic A.-G. anderseits
hat vielmehr die rechtliche Selbständigkeit der beiden genannten
Gesellschaften im Verhältnis zum Kläger als Bürgen unberücksichtigt zu
bleiben und es ist davon auszugehen, dass mit der Zahlung der Schuld
der Silva-Plastic A.-G. durch die LIBAG in Wirklichkeit Wild eine eigene
Schuld getilgt hat. Infolgedessen ist die Bürgschaftsverpflichtung des
Klägers durch Tilgung der Hauptschuld untergegangen. Dass der LIBAG
bei der Zahlung der Schuld der Silva-Plastic A.-G. der Erfüllungswille
fehlte, ist entgegen der Meinung der Vorinstanz belanglos, weil eben
gerade in der Schaffung der Möglichkeit, diese Zahlung scheinbar ohne
Erfüllungswillen zu bewerkstelligen, ein rechtsmissbräuchliches Verhalten
des tatsächlichen Hauptschuldners Wild zu erblicken ist. Das führt zur
Gutheissung der Aberkennungsklage.

    c) Die Vorinstanz glaubt, die Abtretung der Hauptschuld an die LIBAG
sei deswegen rechtlich nicht zu beanstanden, weil Wild damit gegenüber
dem Kläger nicht mehr Rechte erlangt habe, als ihm zugestanden wären, wenn
er als Mitbürge die Hauptschuld beglichen und so einen Rückgriffsanspruch
aus der Mitbürgschaft gegen den Kläger hätte geltend machen können. Diese
Auffassung ist unrichtig. Durch die Abtretung wurde Wild unter der Maske
der von ihm beherrschten LIBAG Gläubiger für die volle Hauptschuld und
konnte den Bürgen Wurm für deren vollen Betrag belangen, während er durch
eine Zahlung als Mitbürge lediglich einen Rückgriffsanspruch für den auf
Wurm entfallenden Kopfteil erhalten hätte. Dass er von der Möglichkeit, den
Kläger für den vollen Betrag der Hauptschuld zu belangen, nicht Gebrauch
gemacht hat, sondern von Wurm nur die Bezahlung des auf ihn als Mitbürgen
entfallenden Kopfteils fordert, ist für die Beurteilung der rechtlichen
Zulässigkeit seines Vorgehens nicht entscheidend. Abgesehen hievon wäre
das Ergebnis kein anderes, wenn Wild als Bürge bezahlt und gegen Wurm als
Mitbürgen auf dem Rückgriffswege vorgegangen wäre. Denn auch in diesem
Falle hätte Wild in Wirklichkeit durch die Bezahlung der Hauptschuld
eine eigene Verpflichtung getilgt mit der Folge, dass die Bürgschaft
des Wurm erloschen wäre. Wie das Bundesgericht schon früher erkannt hat,
ist die Bürgschaft des einzigen Aktionärs für die Gesellschaft wegen der
wirtschaftlichen Identität des Bürgen mit dem Hauptschuldner als eine
im eigenen Interessen erfolgte Verpflichtung zu betrachten und schafft
darum keinen Rückgriff gegenüber einem Mitbürgen (BGE 53 II 31).

    d) Erweist sich die Aberkennungsklage schon auf Grund der vorstehenden
Erwägungen als begründet, so kann dahingestellt bleiben, ob Wild gemäss
den Behauptungen des Klägers die Hauptschuldnerin Silva-Plastic A.-G.
wirtschaftlich ausgehöhlt habe, indem er deren Aktiven versilberte
und den Erlös in die eigene Tasche steckte, statt ihn zur Tilgung der
Hauptschuld gegenüber der Bank bzw. der Abtretungsgläubigerin LIBAG zu
verwenden. Denn selbst wenn eine solche Aushöhlung der Hauptschuldnerin,
die eine völlige Entwertung des Rückgriffsanspruchs des Bürgen Wurm
bedeutet hätte, tatsächlich nicht erfolgt sein sollte, so wäre dies
unerheblich, da schon die Tatsache, dass Wild mit der Befriedigung der
Bank durch die LIBAG in Wirklichkeit eine eigene Schuld getilgt hat, nach
den oben gemachten Darlegungen zum Erlöschen der Bürgschaftsverpflichtung
des Klägers geführt hat.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des
Kantons Appenzell A. Rh. vom 31. August 1954 wird aufgehoben und die
Aberkennungsklage des Klägers im Betrage von Fr. 356'291.25 nebst Zinsen
und Kosten geschützt.