Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 81 II 408



81 II 408

63. Urteil der II. Zivilabteilung vom 22. September 1955 i. S. Grieder
gegen Fässler. Regeste

    Ehescheidung, Bedürftigkeitsrente (Art. 152 ZGB). Unter welchen
Voraussetzungen ist einem schuldlosen, geistig nicht normalen Ehegatten
ein Unterhaltsbeitrag nicht oder nur für beschränkte Zeit zu gewähren,
obwohl mit dauernder Bedürftigkeit zu rechnen ist und der andere Ehegatte
einen Beitrag dauernd zu leisten vermöchte?

Sachverhalt

    Am 29. April 1955 hat das Obergericht des Kantons Basel-Landschaft
die am 17. März 1949 geschlossene, kinderlos gebliebene Ehe der Parteien
auf Klage des Ehemanns gemäss Art. 142 ZGB geschieden und den Ehemann
in Anwendung von Art. 152 ZGB zur Leistung eines Unterhaltsbeitrags
von monatlich Fr. 80.- für die Dauer von vier Jahren verpflichtet
mit der Begründung, die Ehe der Parteien sei ausschliesslich aus
objektiven Gründen zerrüttet. Der Beklagten könne ihr unverträgliches
Verhalten wegen ihres Schwachsinns nicht zum Verschulden angerechnet
werden. Auch ihre Bedürftigkeit sei grundsätzlich zu bejahen. Sie verdiene
gegenwärtig in einer Fabrik einen Stundenlohn von 70 Rappen, was für ihren
Lebensunterhalt nicht ausreiche. Wegen ihrer sehr beschränkten Fähigkeiten
sei nicht anzunehmen, dass sie bald einen höhern Verdienst werde erzielen
können. Dem Kläger, der monatlich Fr. 470.-- verdiene, sei es möglich, ihr
einen Unterhaltsbeitrag von Fr. 80.- zu leisten. Seine Beitragspflicht sei
indessen auf vier Jahre zu beschränken, um dem Umstand Rechnung zu tragen,
dass die Beklagte, wenn sie nicht geheiratet hätte, finanziell nicht
besser stünde. Es könne "nicht Sache des Klägers sein, zeitlebens für sie
aufzukommen, weil sie infolge ihres Schwachsinns nicht fähig ist, ihren
vollen Lebensunterhalt selber zu bestreiten". Die zeitliche Beschränkung
der Rente sei gemäss Art. 152 ZGB möglich, "weil nach dieser Bestimmung
bei Vorliegen der Voraussetzungen die Unterhaltsbeiträge lediglich
zugesprochen werden können, nicht müssen". Auch dürfe erwartet werden,
dass bis zum Ablauf der Übergangsrente in ländlichen Verhältnissen für
die Beklagte mit Hilfe ihrer Verwandten ein ihren Unterhalt sichernder
Arbeitsplatz gefunden werden könne.

    Gegen dieses Urteil hat die Beklagte die Berufung an das Bundesgericht
erklärt mit dem Antrag, der Unterhaltsbeitrag sei ihr ohne zeitliche
Begrenzung zuzusprechen. Der Kläger beantragt, auf die Berufung sei nicht
einzutreten; eventuell sei sie abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Kläger ist der Meinung, auf die Berufung sei nicht einzutreten,
weil der kantonale Richter seinen Entscheid über den streitigen
Rentenanspruch auf Grund des ihm durch Art. 152 ZGB eingeräumten Ermessens
gefällt habe, sodass dieser Entscheid überhaupt nicht auf einer Verletzung
von Bundesrecht beruhen könne. Der kantonale Richter ist jedoch auch dort,
wo das Bundesrecht ihn auf sein Ermessen verweist, nicht schlechthin
frei, sondern an die Vorschrift von Art. 4 ZGB gebunden, wonach er seine
Entscheidung in solchen Fällen "nach Recht und Billigkeit" zu treffen hat.
Die Missachtung dieser Vorschrift stellt eine Bundesrechtsverletzung
dar. Der angefochtene Entscheid unterliegt daher der Berufung.

Erwägung 2

    2.- Art. 152 ZGB ermächtigt den Richter, einem schuldlosen
Ehegatten, der durch die Scheidung in grosse Bedürftigkeit gerät, einen
Unterhaltsbeitrag zuzusprechen, auch wenn der andere Ehegatte an der
Scheidung nicht schuld ist. Recht und Billigkeit gebieten, dass der
Richter von dieser Befugnis Gebrauch macht, d.h. einem solchen Gatten
(die Leistungsfähigkeit des andern vorausgesetzt) für die voraussichtliche
Dauer der Bedürftigkeit einen Unterhaltsbeitrag zuspricht, wenn nicht
besondere Gründe es als angebracht erscheinen lassen, einen solchen Beitrag
überhaupt nicht oder doch nicht für die ganze Dauer der Bedürftigkeit
zu gewähren. Ein derartiger Grund kann darin liegen, dass aus Ursachen,
die dem bedürftigen Gatten zwar nicht zum Verschulden gereichen, aber
doch in seiner Person liegen, eine richtige eheliche Gemeinschaft nie
zustandegekommen ist. Das ist im wesentlichen der Sinn des Entscheides
BGE 67 II Nr. 2. Zwar wurde dort zunächst damit argumentiert, dass die
Geisteskrankheit, welche die Erwerbsfähigkeit der damaligen Beklagten
beeinträchtigte, schon vor Abschluss der Ehe bestanden habe und dass daher
eine allfällige Bedürftigkeit der Beklagten nicht "durch die Scheidung"
(bezw. Ungültigerklärung) der Ehe verursacht worden sei. Auch eine
Frau, die von jeher nur vermindert erwerbsfähig war und deshalb ihren
Lebensunterhalt nicht (voll) zu verdienen vermag, gerät jedoch, wenn sie
nicht über sonstige Mittel verfügt, bei Auflösung der Ehe durch Scheidung
oder Ungültigerklärung infolge dieses Ereignisses in Bedürftigkeit, weil
sie damit eben den ehelichen Unterhaltsanspruch verliert. Man kann daher
nicht wohl sagen, dass in einem solchen Falle die in Frage stehende
gesetzliche Voraussetzung des Anspruchs auf einen Unterhaltsbeitrag
nicht gegeben sei. Das Bundesgericht hat sich im erwähnten Urteil denn
auch nicht mit diesem Argument begnügt, sondern hervorgehoben, dass
die Geisteskrankheit der Beklagten, die schon bei Abschluss der Ehe in
gleicher Schwere bestanden hatte, eine wirkliche Ehegemeinschaft von
Anfang an verunmöglicht habe, und seine Entscheidung schliesslich mit der
Erwägung begründet: "Zur Gründung einer ehelichen Gemeinschaft trug die
Beklagte so wenig bei, dass es nicht zu rechtfertigen ist, den Ehemann zu
Unterhaltsleistungen auf Grund von Art. 152 ZGB heranzuziehen und dadurch
zu seinem Nachteil die Familie der Beklagten und das zuständige Gemeinwesen
von der Unterstützungspflicht zu entlasten." Dass die Beitragspflicht
immer dann zu verneinen sei, wenn das geistige Ungenügen des bedürftigen
Gatten das Entstehen einer wahren Ehegemeinschaft verhinderte, ist damit
nicht gesagt, sondern es kommt hier so sehr auf die konkreten Umstände
des einzelnen Falles an, dass sich starre Regeln nicht aufstellen lassen.

    Im vorliegenden Falle kann dahingestellt bleiben, ob mit hinreichender
Sicherheit erwartet werden dürfe, dass die Beklagte nach Ablauf der
Zeit, für welche ihr ein Unterhaltsbeitrag zugesprochen wurde, in der
Lage sein werde, ihren vollen Lebensunterhalt zu verdienen; denn der
angefochtene Entscheid wäre auch dann gerechtfertigt, wenn man diese Frage
verneinen wollte. Der die Erwerbsfähigkeit der Beklagten beeinträchtigende
Schwachsinn ist nicht erst im Verlauf einer vorerst normal verlaufenen
Ehe eingetreten, sondern bestand nach den tatsächlichen Feststellungen
der Vorinstanz schon bei Abschluss der Ehe in einem Masse, dass fragwürdig
ist, ob die Beklagte die zur Eheschliessung erforderliche Urteilsfähigkeit
besass. Die Vorinstanz erklärt, eine eheliche Gemeinschaft, die über das
rein äusserliche Zusammenleben hinaus gegangen wäre, habe zwischen den
Parteien "überhaupt nie" bestanden. Der vorliegende Tatbestand zeigt
also Ähnlichkeit mit dem in BGE 67 II Nr. 2 beurteilten Falle. Dort
beeinträchtigte aber die schon bei der Eheschliessung bestehende geistige
Störung der Beklagten die ehelichen Beziehungen in noch stärkerem
Masse als im vorliegenden Falle, und ausserdem standen hier neben dem
Schwachsinn der Beklagten auch die eigenen geistigen Mängel des Klägers
der Begründung einer wahren Ehegemeinschaft im Wege. Der heutigen Beklagten
jeglichen Unterhaltsbeitrag zu verweigern, hätte unter diesen Umständen ihr
gegenüber eine unbillige Härte bedeutet. Dagegen erscheint eine zeitliche
Beschränkung der Beitragspflicht des Klägers als gerechtfertigt. Mit
der Begrenzung auf vier Jahre hat die Vorinstanz von dem ihr zustehenden
Ermessen nicht in bundesrechtswidriger Weise Gebrauch gemacht.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird abgewiesen und Dispositiv 2 des Urteils des
Obergerichtes des Kantons Basel-Landschaft vom 29. April 1955 bestätigt.