Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 81 II 313



81 II 313

52. Urteil der II. Zivilabteilung vom 12. Oktober 1955 i. S. P. gegen B.
Regeste

    Ehescheidung. Örtliche Zuständigkeit für die Ergänzung eines
unvollständigen Scheidungsurteils und für die Abänderung eines
Scheidungsurteils wegen veränderter Verhältnisse (Art. 157 ZGB). Welches
Verfahren ist einzuschlagen, wenn im Scheidungsurteil nicht geregelte
Einzelheiten der Ausübung des Besuchsrechts (Art. 156 Abs. 3 ZGB)
streitig werden?

Sachverhalt

    A.- Am 22. Juni 1948 schied das Bezirksgericht Zürich die Ehe
der Parteien, stellte die beiden ihr entsprossenen Kinder, geb. 1942
bezw. 1944, unter die elterliche Gewalt der Mutter und räumte dem
Vater das Recht ein, "die Kinder im Sinne von Ziffer 3 der Vereinbarung
der Parteien vom 22. Juni 1948 über die Nebenfolgen der Scheidung zu
besuchen oder zu sich auf Besuch zu nehmen". Die hier erwähnte Stelle
der Scheidungsvereinbarung lautet:

    "Herrn P. wird ein weitgehendes Besuchsrecht eingeräumt, wobei
sich die Parteien ähnlich wie dies bisher der Fall war, von Fall zu
Fall verständigen werden; in der Regel soll Herr P. das Recht haben,
die Kinder wöchentlich an einem Nachmittag sowie einmal pro Monat über
ein Wochenende zu besuchen oder zu sich zu nehmen. Sie sollen ausserdem
jährlich zwei Mal auf drei Wochen zu ihm in die Ferien kommen."

    B.- Während einer Reihe von Jahren konnten sich die Parteien über die
Ausübung des Besuchsrechts verständigen. Im Herbst 1954 entstand dagegen
Streit darüber, wann der Vater die Kinder im Jahre 1955 zu sich in die
Ferien nehmen könne. Er verlangte, dass ihm die Kinder für drei Wochen
während der Sommer-Schulferien zu überlassen seien. Die Mutter, die
wieder verheiratet ist und heute im Kanton Baselland wohnt, widersetzte
sich diesem Wunsch und wollte dem Vater nur erlauben, die Kinder während
der Frühlings- oder Herbstferien zu sich zu nehmen.

    Hierauf leitete der Vater, der in Zürich wohnt, im Mai 1955 beim
Bezirksgericht Zürich Klage ein mit dem Begehren, das Scheidungsurteil vom
22. Juni 1948 sei "zu ergänzen durch Festlegung der einen der beiden in
Ziff. 3 der damals genehmigten Konvention stipulierten zwei dreiwöchigen
Ferienperioden auf die Sommerschulferien." In der Hauptverhandlung
stellte er das weitere Begehren, die zweite Ferienperiode sei zeitlich
alternierend festzulegen, und zwar in dem Sinne, dass das Besuchsrecht
abwechslungsweise auf die Weihnachtsferien und die Osterferien falle. Die
Beklagte beantragte in erster Linie, auf das Ergänzungsbegehren, mit dem
in Wirklichkeit eine Änderung des Scheidungsurteils im Sinne von Art. 157
ZGB verlangt werde, sei wegen örtlicher Unzuständigkeit der zürcherischen
Gerichte nicht einzutreten. Ihre Eventualanträge gehen auf Abweisung
des Klagebegehrens und Einschränkung des Besuchsrechts des Klägers.

    Das Bezirksgericht Zürich wies die Unzuständigkeitseinrede der
Beklagten am 21. Juni 1955 ab. Das Obergericht des Kantons Zürich hat sie
dagegen mit Entscheid vom 12. August 1955 für begründet erklärt und das
Bezirksgericht angewiesen, die Klage wegen Unzuständigkeit von der Hand
zu weisen.

    C.- Diesen Entscheid hat der Kläger mit einer Eingabe, die er als
Berufung, eventuell als Nichtigkeitsbeschwerde aufgefasst wissen will,
an das Bundesgericht weitergezogen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Der angefochtene Entscheid unterliegt der Berufung).

Erwägung 2

    2.- Hat es der Scheidungsrichter aus Versehen oder Rechtsirrtum
oder wegen Unkenntnis einer Tatsache unterlassen, eine Frage zu regeln,
die bei der Scheidung notwendigerweise geregelt werden muss, so weist
das Scheidungsurteil eine Lücke auf, die durch eine entsprechende
Ergänzung dieses Urteils auszufüllen ist, und zwar ist hiezu nach
Bundesrecht der Richter zuständig, der die Scheidung ausgeprochen hat
(vgl. BGE 44 I 152 ff., wo dieser Richter für zuständig erklärt wurde,
eine Parteivereinbarung über die ökonomischen Nebenfolgen, zu der er
nicht Stellung genommen hatte, nachträglich zu prüfen und zu genehmigen,
und das Urteil des zürcherischen Obergerichts vom 5. Februar 1944 in
SJZ 39 S. 330, das den Scheidungsrichter anwies, in einem Nachverfahren
über die Elternrechte mit Bezug auf ein nach der Scheidung geborenes,
gemäss Art. 252 ZGB als ehelich geltendes Kind zu befinden). Für die
Beurteilung von Begehren, mit denen wegen veränderter Verhältnisse eine
Abänderung des Scheidungsurteils im Sinne von Art. 157 ZGB verlangt wird,
ist dagegen nach Bundesrecht, wenn die Parteien in der Schweiz wohnen,
der Richter am Wohnsitz der beklagten Partei zuständig (BGE 46 II 333 ff.,
51 II 109, 61 II 226). Der Ausgang des vorliegenden Gerichtsstandsstreites
hängt also davon ab, ob die Klage, die der Kläger beim Bezirksgericht
Zürich eingeleitet hat, auf eine Ergänzung oder auf eine Abänderung des
Scheidungsurteils vom 22. Juni 1948 gerichtet ist. Beim Entscheid hierüber
ist nicht massgebend, wie der Kläger seine Klage selber qualifiziert hat,
sondern es kommt darauf an, worauf sie der Sache nach abzielt.

Erwägung 3

    3.- Nach Art. 156 Abs. 1 ZGB trifft der Richter bei der
Scheidung oder Trennung über die Gestaltung der Elternrechte und
der persönlichen Beziehungen der Eltern zu den Kindern "die nötigen
Verfügungen". Hinsichtlich der persönlichen Beziehungen ist dabei
wegleitend, dass der Ehegatte, dem die Kinder entzogen werden, gemäss
Art. 156 Abs. 3 ein Recht auf angemessenen persönlichen Verkehr mit
den Kindern hat. Das Scheidungsurteil muss daher eine Bestimmung über
das Besuchsrecht enthalten. Eine solche ist im vorliegenden Falle denn
auch vorhanden, und zwar begnügt sich die vom Scheidungsrichter zum
Bestandteil des Urteils gemachte Ziffer 3 der Scheidungskonvention
nicht etwa damit, einfach Art. 156 Abs. 3 ZGB zu wiederholen und die
Regelung aller Modalitäten des Besuchsrechts der Verständigung von Fall
zu Fall zu überlassen. Vielmehr setzt jene Klausel fest, wie oft und
wie lange der Vater die Kinder in der Regel soll besuchen oder zu sich
nehmen können. Der Verständigung von Fall zu Fall überlassen ist nur, an
welchem Nachmittag das wöchentliche, an welchem Wochenende das monatliche
und in welcher Zeit das zweimal drei Wochen umfassende Besuchsrecht
soll ausgeübt werden können. Von einer Regelung dieser Einzelheiten
abzusehen, lag im Ermessen des Scheidungsrichters. Dieser konnte ohne
Bundesrechtsverletzung annehmen, es sei im Sinne von Art. 156 ZGB nicht
"nötig", auch diese Punkte im Urteil festzulegen, nachdem die Parteien sich
während des der Scheidung vorausgegangenen längern Getrenntlebens über die
Besuche offenbar immer hatten verständigen können und nachdem sie auch
sonst eine loyale Gesinnung gezeigt und die in Frage stehende Regelung
selber vorgeschlagen hatten. Die nachfolgende Entwicklung hat übrigens
dieser Beurteilung der Verhältnisse zunächst durchaus recht gegeben. Von
1948 bis 1954 (also über den Eintritt beider Kinder ins schulpflichtige
Alter hinaus) vermochten sich die Parteien jeweilen über den Zeitpunkt
der Ausübung des Besuchsrechts zu einigen. Erst im siebenten Jahr nach
der Scheidung gelang dies nicht mehr. Unter diesen Umständen lässt sich
nicht sagen, das Scheidungsurteil habe eine Frage offen gelassen, die der
Scheidungsrichter notwendigerweise hätte positiv regeln sollen. Für eine
Ergänzung dieses Urteils, die in einem Nachverfahren zum Scheidungsprozess
vorzunehmen wäre, ist daher kein Raum. Die urteilsmässige Regelung der
erwähnten Detailpunkte, die der Kläger heute mit seiner Klage anstrebt,
lässt sich nur auf dem Wege der Abänderung des Scheidungsurteils gemäss
Art. 157 ZGB erreichen. Wie die Vorinstanz mit Recht angenommen hat, ist
im Wegfall der Verständigungsmöglichkeit, auf die der Scheidungsrichter
gezählt hatte, eine Änderung der Verhältnisse im Sinne dieser Bestimmung
zu erblicken, die dazu Anlass geben kann, die bisher der Verständigung
der Parteien überlassenen Einzelheiten durch Urteil festzusetzen. Die
vorliegende Klage ist daher als Abänderungsbegehren zu behandeln.

    Richtig ist freilich, dass bei einer Regelung, wie Ziffer 3 der
Scheidungskonvention der Parteien sie enthält, die Zwangsvollstreckung auf
Schwierigkeiten stossen kann. Daraus folgt jedoch entgegen der Auffassung,
die Prof. M. Guldener in dem vom Kläger vorgelegten Rechtsgutachten
vertritt, nicht zwingend, dass das Scheidungsurteil vom 22. Juni 1948,
das diese Bestimmung genehmigt hat, ergänzungsbedürftig sei. Der Richter
kann bei Verhältnissen, wie sie im vorliegenden Fall gegeben waren,
sehr wohl finden, es sei nicht nötig, das Besuchsrecht so eingehend zu
ordnen, dass dieses nötigenfalls zwangsweise durchgesetzt werden kann. Nur
eine solche Regelung als genügend gelten zu lassen, ist um so weniger
gerechtfertigt, als die Zwangsvollstreckung auf diesem Gebiet ohnehin
äusserst problematisch ist.

    Wenn der Scheidungsrichter bei der Genehmigung der Vereinbarung
über das Besuchsrecht gewisse Bedenken zu überwinden hatte, so hatten
diese, wie aus der Urteilsbegründung hervorgeht, ihren Grund nicht in
der "elastischen" Umschreibung, sondern im ungewöhnlich weiten Ausmass
des Besuchsrechts. Es ist daher verfehlt, aus der Tatsache, dass der
Scheidungsrichter mit Bezug auf das vereinbarte Besuchsrecht zunächst
gewisse Bedenken hegte, den Schluss zu ziehen, der heutige Streit sei
nicht auf eine nachträgliche Veränderung der Verhältnisse, sondern auf
die Unvollständigkeit des Scheidungsurteils zurückzuführen.

    Im übrigen ist darauf hinzuweisen, dass der heutige Kläger im
Scheidungsprozess selber ausdrücklich erklären liess, man habe das
Besuchsrecht in der Konvention "nicht starr gefasst", weil sich dies
mit seinem Beruf nicht vereinen liesse; die gewählte Regelung werde
auch weniger Anlass zu Streit geben als eine starre Ordnung, die man
doch nicht einhalten könnte. Er hat also bewusst darauf verzichtet,
dass im Scheidungsurteil eine genauere Regelung getroffen werde. Wenn
er heute gleichwohl geltend macht, das Scheidungsurteil sei lückenhaft
und bedürfe daher der Ergänzung, so ist dies rechtsmissbräuchlich. Das
Abänderungsverfahren genügt vollauf zur Wahrung seiner berechtigten
Interessen.

    Der Entscheid BGE 80 II 5 ff. und die Basler Praxis, nach welcher bei
der Scheidung die Erledigung von Streitigkeiten über das Besuchsrecht
dem Ehegerichtspräsidenten übertragen wird, haben mit der Frage, ob im
vorliegenden Fall eine Ergänzung oder eine Abänderung des Scheidungsurteils
in Betracht komme, nichts zu tun. Der Kläger hat jenen Entscheid und
diese Praxis denn auch nur im Zusammenhang mit der Frage angerufen,
welches Gericht für ein allfälliges Ergänzungsverfahren zuständig sei.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird abgewiesen und der Entscheid des Obergerichtes des
Kantons Zürich, I. Zivilkammer, vom 12. August 1955 bestätigt.