Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 80 I 330



80 I 330

53. Urteil vom 8. Dezember 1954 i.S. Bryner gegen Kantone Zürich und Genf.
Regeste

    Art. 46 Abs. 2 BV: Verwirkung des Steueranspruchs.

    Verwirkung des Steueranspruchs, wenn der Pfiichtige seine polizeiliche
Anmeldung im Zuzugskanton irrtümlich - wegen Unterstellung unter die
Steuerhoheit eines andern Kantons - unterlässt und weiterhin vom bisherigen
Wohnortkanton besteuert wird.

Sachverhalt

    A.- Die Beschwerdeführerin steht im Dienst des Schweiz.  Verbandes
der Pflegerinnen für Nerven- und Gemütskranke. Im April 1949 erhielt
sie von diesem eine Stelle zugewiesen zu Frau Bon. Ihr Aufenthaltsort
bestimmte sich nach demjenigen der Kranken und befand sich bis zum
September 1951 bald in Zürich, in Knonau, in Montana, im Engadin und
im Tessin. Im September 1951 übersiedelten die Eheleute Bon nach Genf,
wohin die Beschwerdeführerin sie begleitete, in der Annahme, weitere
Aufenthaltswechsel seien nicht ausgeschlossen. Die Ehe leute Bon meldeten
sich polizeilich in Genf an und gaben dort ihre Steuererklärung ab. Die
Beschwerdeführerin, der das Salär weiterhin durch den Verband ausbezahlt
wurde, unterliess eine polizeiliche Anmeldung in Genf. Sie behielt ihre
Wohnung in Zürich bei, die sie zusammen mit einer andern Person gemietet
hat, wo sie sich während ihrer Urlaube, die sie alle paar Monate nimmt,
aufhält, und wo sie auch die Steuern bezahlte. Auch die Schriften liess sie
weiterhin in Zürich hinterlegt. Im April 1954 erhielten die Behörden des
Kantons Genf Kenntnis von der Anwesenheit der Beschwerdeführerin im Gebiet
der Stadt Genf und veranlassten sie, die Schriften zu hinterlegen, die
Aufenthaltstaxen rückwirkend für 3 Jahre zu entrichten und Steuerklärungen
für die Jahre 1951-1954 abzugeben. Die Beschwerdeführerin tat letzteres
unter Vorbehalt, weil sie in Zürich steuerpflichtig sei; die zürcherischen
Steuerbehörden aber erklärten, dass eine rückwirkende Besteuerung in Genf
nicht zulässig sei und dass die Pflichtige erst auf den 1. Januar 1954
aus der Steuerpflicht entlassen werde. Am 1. Oktober 1954 erhielt die
Beschwerdeführerin die Veranlagungsverfügung, mit der sie für die Zeit
vom 21. September 1951 bis Ende 1953 besteuert wird.

    B.- Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 20. Oktober beantragt
die Beschwerdeführerin, die Besteuerung durch den Kanton Genf wegen
Doppelbesteuerung aufzuheben und festzustellen, dass sich ihr Steuerdomizil
bis zum 15. März 1954 in Zürich befunden habe.

    C.- Der Kanton Zürich beantragt, die Steuerhoheit des Kantons Zürich
für die Jahre 1951-1953 zu bestätigen. Er führt aus: Auf eine Besteuerung
der Beschwerdeführerin für 1954 werde verzichtet. Bei länger dauerndem
Aufenthalt werde dieser freilich zum Wohnsitz. Doch sei bei einer
Pflegerin zu berücksichtigen, dass sie den Aufenthaltsort nicht frei
bestimme, sondern dem Arbeitgeber folgen müsse. Bei Nervenkranken müsse
jederzeit mit Änderungen des Aufenthaltsortes gerechnet werden. Daraus
werde verständlich, dass die Beschwerdeführerin ihr bisheriges Domizil in
Zürich nicht habe aufgeben und sich nicht der Ungewissheit habe aussetzen
wollen, bei einer plötzlichen Änderung im Dienst ohne Heim zu sein.

    Die Auffassung, als ob die Beschwerdeführerin seit Beginn ihrer
Tätigkeit in Genf steuerpflichtig gewesen sei, könne nicht geteilt
werden. Vieles habe dafür gesprochen, dass auch Genf nur eine Etappe in der
Pflege sein würde. Genf sei daher nicht befugt, die Beschwerdeführerin
rückwirkend zu besteuern. Ein solcher Anspruch sei verspätet. Der
Beschwerdeführerin könne nicht zum Verschulden angerechnet werden, dass
sie eine polizeiliche Anmeldung in Genf nicht für notwendig gehalten habe,
dass sie die Schriften in Zürich belassen und dort ihre Steuern bezahlt
habe. Der ursprünglich vorübergehende Aufenthalt habe sich freilich heute
zum Wohnsitz gewandelt. Jedenfalls habe die Beschwerdeführerin in gutem
Glauben sein können, dass bei Beibehaltung des zürcherischen Logis auch
der dortige Wohnsitz fortdauere.

    D.- Der Kanton Genf beantragt, die Beschwerde gegenüber dem
Kanton Genf abzuweisen. Er macht geltend: Die Beschwerdeführerin wäre
verpflichtet gewesen, spätestens 2 Wochen nach der Übersiedlung nach Genf
eine Aufenthaltsbewilligung zu verlangen. Weil sie das nicht getan habe,
habe die Steuerverwaltung von der Anwesenheit der Beschwerdeführerin keine
Kenntnis gehabt und sie daher auch nicht zur Abgabe einer Steuererklärung
auffordern können.

    Die Einrede verspäteter Besteuerung sei, soweit sie von der
Beschwerdeführerin erhoben werde, nicht zu hören, soweit sie vom Kanton
Zürich ausgehe, nicht begründet. Dass die Steuerverwaltung von der
Anwesenheit der Pflichtigen keine Kenntnis gehabt habe, gehe auf das
Verschulden der Beschwerdeführerin und ihrer Dienstherrschaft zurück,
die nach den massgebenden Vorschriften des Gesetzes über den Aufenthalt
und die Niederlassung zur polizeilichen Anmeldung der Beschwerdeführerin
verpflichtet gewesen wären. Die Behörden hätten die Anwesenheit der
Beschwerdeführerin nicht kennen können, und es treffe sie dabei kein
Verschulden, nachdem der zuständige Beamte wiederholt in der Wohnung
Bon vorgesprochen habe, ohne die Anwesenheit der Beschwerdeführerin
feststellen zu können. Sobald diese aber bekannt gewesen sei, sei man
auch zur Veranlagung geschritten.

    Auch die Auffassung vom zürcherischen Steuerwohnsitz der
Beschwerdeführerin sei unzutreffend. Diese sei seit dem September 1951
in Genf erwerbstätig. Da sie zu Zürich keine engern familiären oder
bürgerliche Beziehungen behalten habe, befinde sich der Steuerwohnsitz
am Arbeitsort.

    Das Bundesgericht hat die Verwirkungseinrede des Kantons Zürich als
begründet erklärt.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

    Der Kanton Zürich erhebt die Einrede der Verwirkung des genferischen
Steueranspruches für die Jahre 1951/53.

    Ein Kanton, welcher die für die Steuerpflicht in örtlicher Beziehung
massgebenden Tatsachen kennt oder kennen kann, verwirkt das Recht auf
Besteuerung, wenn er trotzdem mit der Erhebung des Steueranspruches
ungebührlich lange zuwartet, und wenn bei Gutheissung des erst nachträglich
erhobenen Anspruches ein anderer Kanton zur Rückerstattung von Steuern
verpflichtet werden müsste, die er in Unkenntnis des kollidierenden
Steueranspruches bezogen hat (BGE 74 I 271 Erw. 2 und dort zitierte frühere
Urteile, 76 I 13 Erw. 2). Ein Kennensollen oder Kennenkönnen ist nach
der Rechtsprechung schon dann anzunehmen, wenn der Veranlagungsbehörde
zugemutet werden kann, den Tatbestand, der die Inanspruchnahme der
Steuerhoheit begründet, zu kennen, ohne Rücksicht darauf, ob die Unkenntnis
der Behörde dem Kanton zum Verschulden anzurechnen ist oder nicht (BGE 74 I
275). Die Veranlagungsbehörde kann sich insbesondere nicht darauf berufen,
dass sie Handelsregistereinträge oder dass sie polizeiliche Anmeldungen
der von auswärts zuziehenden Personen nicht gekannt habe (BGE 50 I 105
und das dort zitierte weitere Urteil). Davon, dass die Steuerbehörde
die für die Besteuerung massgebenden Verhältnisse kennen sollte oder
kennen könnte, kann dann nicht gesprochen werden, wenn der Pflichtige
über seinen tatsächlichen Aufenthalt oder über die für die interkantonale
Abgrenzung der Steuerhoheit massgebenden Verhältnisse unrichtige Angaben
gemacht hat, die nachträgliche Besteuerung also darauf beruht, dass die
Behörde einen ihr vom Pflichtigen vorgetäuschten Sachverhalt richtigstellen
musste. Doch liegt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtes
eine Pflichtwidrigkeit nicht schon darin, dass der Steuerpflichtige dem
Kanton, dem die Steuerhoheit zukommt, keine Steuererklärung abgegeben
hat. Die Pflicht zur Abgabe einer derartigen Erklärung setzt voraus,
dass die Steuerpflicht gegenüber dem betreffenden Kanton festgestanden
hätte. Blosses Stillschweigen kann positiv unrichtigen Angaben nur
gleichgestellt werden, falls die Erklärungspflicht ohne weiteres
festgestanden hätte (Urteile vom 1. November 1930 i.S. Nordmann, vom
5. Mai 1933 i.S. Spörry und vom 4. April 1941 i.S. Simon-Gürtler).

    Die Beschwerdeführerin hat den genferischen Behörden keine positiv
unrichtigen Angaben über ihre Steuerpflicht gemacht. Sie hat freilich
eine polizeiliche Anmeldung unterlassen, und zwar offenbar aus dem
Grunde, weil sie mit der Möglichkeit rechnen musste, dass die Kranke,
deren Pflege ihr oblag, wieder Spital- oder Kuraufenthalte notwendig haben
werde, und weil sie ferner glaubte, die Verhältnisse hätten sich gegenüber
früher nicht wesentlich geändert, weil sie in Zürich eine Wohnung besass,
dort die Urlaube verbrachte und das Dienstverhältnis mit dem in Zürich
domizilierten Arbeitgeber fortdauerte. Sie durfte annehmen, dass, nachdem
sie weiterhin in Zürich besteuert wurde, auch die Schriftenhinterlage
daselbst in Ordnung gehe. Entscheidend ist aber darauf abzustellen, dass
dem Kanton Genf die Anwesenheit der Beschwerdeführerin im Kantonsgebiet
hätte bekannt sein können, wenn er von den ihm zur Verfügung stehenden
Kontrollmöglichkeiten richtigen Gebrauch gemacht hätte. Es genügt nicht,
Vorschriften über die Anmeldungspflicht zu erlassen, ohne gleichzeitig
deren Beobachtung zu kontrollieren. Eine Befragung der Eheleute Bon
darüber, ob mit ihnen Angestellte zugezogen seien, oder die Durchführung
einer spätern Kontrolle über die Anwesenheit solchen Personals bei den
Eheleuten hätte ohne weiteres die Anwesenheit der Beschwerdeführerin
in Genf ergeben müssen. Die Polizeibehörden des Kantons Genf haben die
Vornahme einer sachgemässen Kontrolle unterlassen. Nach dem Bericht der
Einwohnerkontrolle hätte zwar ein Beamter wiederholt in der Wohnung der
Eheleute Bon vorsprechen wollen; diese seien jedoch jeweilen abwesend
gewesen. Eine richtige Kontrolle hätte sich aber nur in Anwesenheit
entweder der Eheleute oder der Beschwerdeführerin selbst in der Wohnung
durchführen lassen.

    Verwirkung des Steueranspruchs des Kantons Genf könnte bei dieser
Sachlage nur dann nicht angenommen werden, wenn der Kanton Zürich in
Kenntnis der tatsächlichen Verhältnisse und in offensichtlicher Missachtung
eines allgemein anerkannten Rechtsgrundsatzes zu Unrecht Steuern erhoben
hätte (BGE 74 I 272 Erw. 2 b). Das trifft ohne Zweifel nicht zu. Der
Kanton Genf behauptet es nicht, und in den Akten liegt nichts dafür vor,
dass es sich so verhielte.

    Da der Kanton Genf die Beschwerdeführerin für die Jahre 1951-1953
erst im Laufe des Jahres 1954 besteuert hat, in einem Zeitpunkt, wo
diese die Steuern im Kanton Zürich bereits bezahlt hatte, dieser also zur
Rückerstattung der Steuern verhalten werden müsste, die er in Unkenntnis
des kollidierenden Steueranspruchs des Kantons Genf bezogen hat, ist die
Verwirkungseinrede des Kantons Zürich zu schützen.