Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 80 I 225



80 I 225

36. Auszug aus dem Urteil vom 7. Juli 1954 i.S. Häni und Konsorten
gegen Kanal- und Entwässerungskorporation Bichelsee und Regierungsrat
des Kantons Thurgau. Regeste

    1.  Art. 85 lit. a OG: Die Umfrage bei den beteiligten Grundeigentümern
darüber, ob sie dem Plane einer gemeinschaftlichen Bodenverbesserung durch
eine zu bildende Korporation des kantonalen öffentlichen Rechts zustimmen,
ist keine Abstimmung im Sinne dieser Vorschrift.

    2.  Art. 4 BV: Ist es willkürlich, bei der Feststellung des Ergebnisses
der Umfrage Zustimmungserklärungen von Beteiligten, die zunächst die
Ablehnung ausgesprochen hatten, zu berücksichtigen?

Sachverhalt

    A.- Im Gebiet der thurgauischen Gemeinden Balterswil und Bichelsee
ist eine Bodenverbesserung geplant. Vorgesehen sind eine Korrektion
des Itaslerkanals, Entwässerungen und Güterzusammenlegungen. In der
Zeit vom 19. Dezember 1953 bis zum 4. Januar 1954 wurden die Statuten
der zu bildenden "Kanal- und Entwässerungskorporation Bichelsee" sowie
Pläne und Kostenvoranschläge mit Kostenverteiler öffentlich zur Einsicht
aufgelegt, was den beteiligten Grundeigentümern durch Rundschreiben
der Ortsverwaltung Bichelsee vom 19. Dezember 1953 angezeigt wurde. Die
Mitteilung erwähnte, dass Einsprachen gegen die Projekte, den Voranschlag
oder den Kostenverteiler bis am 4. Januar 1954 einzureichen seien, und
fügte bei: "Wir legen einen grünen Stimmzettel bei, auf welchem Sie Ihre
Stellungnahme zu den aufgelegten Projekten bekanntgeben wollen. Er wird
nach Ablauf der Einsprachefrist von einem Mitglied der Ortsverwaltung
abgeholt." Nach Einsammlung der Stimmzettel stellte die Ortsverwaltung
Bichelsee fest, dass sich eine ablehnende Mehrheit gebildet hatte. Der
Ortsvorsteher begab sich daher in der zweiten Hälfte des Januar 1954
nochmals auf die Werbung und vermochte einige Neinsager zu bewegen, auf neu
abgegebenem Stimmzettel die Zustimmung zu erklären. Mit Rundschreiben vom
5. Februar 1954 lud die Ortsverwaltung die beteiligten Grundeigentümer
zur konstituierenden Versammlung der Korporation ein. Es wurde darin
mitgeteilt, "dass gemäss Feststellungen des kantonalen Meliorationsamtes
mehr als die Hälfte der beteiligten Grundeigentümer, denen zugleich mehr
als die Hälfte des beteiligten Bodens gehört, gemäss Art. 97 EG/ZGB den in
der Zeit vom 19. Dezember 1953 bis 4. Januar 1954 zur Auflage gebrachten
Projekten zugestimmt haben".

    Mehrere Beteiligte, Viktor Häni und Konsorten, beschwerten sich
beim Regierungsrat des Kantons Thurgau mit dem Begehren, die infolge der
nachträglichen Werbung neu abgegebenen Stimmzettel seien als ungültig und
das Unternehmen als nicht zustandegekommen zu erklären. Die Beschwerde
wurde abgewiesen (Entscheid vom 6. April 1954).

    B.- Mit staatsrechtlicher Beschwerde beantragen Viktor Häni und
Mitunterzeichner die Aufhebung dieses Entscheides.

    Sie berufen sich in erster Linie auf Art. 85 lit. a OG und machen
geltend, unter diese Bestimmung falle auch die Abstimmung über die
Bildung der in Frage stehenden öffentlich-rechtlichen Korporation. Das
Ergebnis der Abstimmung, die nach dem Rundschreiben der Ortsverwaltung vom
19. Dezember 1953 am 4. Januar 1954 habe abgeschlossen werden müssen,
habe nicht nachträglich geändert werden dürfen. Es sei unstatthaft
gewesen, hinterher mehrere Grundeigentümer zum Zurückkommen auf ihre
ablehnende Stellungnahme zu bewegen und die so gewonnenen Jastimmen zu
berücksichtigen. Die abweichende Auffassung des Regierungsrates verstosse
gegen klare, wenn auch ungeschriebene Grundsätze des Verfassungsrechtes.

    Jedenfalls verletze der angefochtene Entscheid Art. 4 BV, indem er
diese Grundsätze willkürlich missachte.

    C.- Die Ortsverwaltung und die Kanal- und Entwässerungskorporation
Bichelsee beantragen Abweisung der Beschwerde, ebenso der Regierungsrat. -
Das Bundesgericht hat die Beschwerde abgewiesen, soweit darauf einzutreten
war.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 85 lit. a OG beurteilt das Bundesgericht Beschwerden
betreffend die politische Stimmberechtigung der Bürger und betreffend
kantonale Wahlen und Abstimmungen. "Kantonal" im Sinne dieser Vorschrift
sind auch Wahlen und Abstimmungen in den Gemeinden und in anderen
Unterabteilungen des Kantons (BGE 76 I 51, 40 I 363). Die Bestimmung
bezieht sich aber nur auf solche Wahlen und Abstimmungen, an denen
teilzunehmen einzig die Eigenschaft als stimmberechtigter Bürger gestattet
(Volkswahlen und -abstimmungen). Sie soll "die politische Stimmberechtigung
der Bürger" ("le droit de vote des citoyens") schützen (BGE 76 I 51).

    Nach § 34 Abs. 1 Ziff. 4 und § 98 Abs. 1 des thurgauischen EG/ZGB
bildet die Gesamtheit der an einer Bodenverbesserung beteiligten
Grundeigentümer eine Korporation des kantonalen öffentlichen Rechts,
also in gewissem Sinne eine Unterabteilung (Selbstverwaltungskörper)
des Kantons. Im vorliegenden Fall steht indessen nicht eine Abstimmung
der Mitglieder einer (schon bestehenden) Bodenverbesserungskorporation in
Frage, sondern das Verfahren, in dem solche Korporationen erst gebildet
werden, Verfahren, in dem abzuklären ist, ob die in § 34 Abs. 2 und § 97
EG/ZGB geforderte Voraussetzung des Zustandekommens des Unternehmens -
die Zustimmung mindestens der Hälfte der beteiligten Grundeigentümer,
denen zugleich mehr als die Hälfte des beteiligten Bodens gehört
- erfüllt sei. Daher kann offen gelassen werden, ob, wie im nicht
veröffentlichten Urteil vom 28. September 1949 i.S. Auf der Maur gegen
Oberallmeindkorporation Schwyz und Regierungsrat Schwyz gesagt wurde,
allgemein die in Körperschaften des kantonalen Rechts abgehaltenen Wahlen
und Abstimmungen, auf die öffentliches Recht anwendbar ist, unter Art. 85
lit. a OG fallen. Man wird freilich annehmen können, dass das Verfahren,
in dem im Kanton Thurgau Bodenverbesserungskorporationen gebildet werden,
ebenfalls dem öffentlichen Rechte untersteht; wird es doch nach § 98 Abs. 2
EG/ZGB von der Gemeindebehörde geleitet, wenn die Beteiligten sich nicht
anders verständigen. Aber die Durchführung der Umfrage bei den Beteiligten
ist jedenfalls nicht eine Abstimmung im Sinne von Art. 85 lit. a OG;
denn Voraussetzung des Rechts zur Teilnahme am Zustimmungsverfahren ist
einzig der Besitz von Grundstücken im Perimeter des geplanten Unternehmens,
nicht auch die politische Stimmberechtigung für das betreffende Gebiet,
so dass unter Umständen auch Frauen, Ausländer und, im Falle der
Handlungsunfähigkeit eines Eigentümers, dessen gesetzlicher Vertreter zu
befragen sind. Die Beschwerdeführer rufen das Bundesgericht denn auch
in ihrer Eigenschaft als Eigentümer solcher Grundstücke an. Sie mögen
stimmberechtigte Bürger sein, doch werden sie, auch wenn dies zutrifft,
durch den angefochtenen Entscheid nicht in ihrer durch die politische
Stimmberechtigung begründeten Stellung berührt, sondern eben in jener
anderen Eigenschaft. Daraus folgt, dass sie sich zu Unrecht auf Art. 85
lit. a OG berufen.

Erwägung 2

    2.- Anderseits ist klar, dass die Beschwerdeführer als Eigentümer
von Grundstücken im Perimeter der projektierten Bodenverbesserung zur
Rüge der Verletzung des Art. 4 BV legitimiert sind.

    Die Ordnung des bei der "Abstimmung" über die Durchführung einer
Bodenverbesserung einzuschlagenden Verfahrens ist den Kantonen überlassen
(Art. 703 Abs. 2 ZGB). Die thurgauische Gesetzgebung enthält hierüber
keine Bestimmungen; insbesondere schreibt sie nicht vor, dass die
Erklärungen über Zustimmung oder Ablehnung innerhalb bestimmter Frist
abgegeben werden müssen. Eine solche Befristung wurde im Kanton Thurgau
auch nicht im Wege der Praxis eingeführt. Im vorliegenden Fall wurde im
Rundschreiben der Ortsverwaltung vom 19. Dezember 1953 allerdings eine
- von diesem Tage bis zum 4. Januar 1954 laufende - Frist festgesetzt,
aber nur für die Einsicht in das Projekt und für Einsprachen dagegen. Was
die Abgabe der Stimmzettel anbelangt, wurde dort lediglich vorgesehen,
dass die Zettel "nach Ablauf der Einsprachefrist" von einem Mitglied der
Ortsverwaltung abgeholt würden. Es liegt auf der Hand, dass diese Anordnung
dem beanstandeten Standpunkte des Regierungsrates nicht entgegensteht.

    Die Beschwerdeführer machen geltend, es verstosse gegen einen
ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsatz, eine im Rahmen einer
behördlich organisierten Abstimmung über einen öffentlichrechtlichen
Gegenstand abgegebene Stimme nach Abschluss des Verfahrens durch
eine andere, die gegenteilige Stellungnahme bekundende Stimme zu
ersetzen. Richtig ist, dass bei einer politischen Abstimmung im Sinne von
Art. 85 lit. a OG ein einmal abgegebener Stimmzettel nicht zurückgenommen
werden darf; das ist normalerweise, wenn das Abstimmungsgeheimnis
gewahrt wird, auch gar nicht möglich. Eine Abstimmung, wie sie im
vorliegenden Fall vorzunehmen war, unterscheidet sich aber wesentlich
von einer solchen Verhandlung, nicht nur in den Voraussetzungen der
Berechtigung zur Teilnahme, sondern auch in anderer Beziehung. Die
beteiligten Grundeigentümer waren zu befragen, ob sie der geplanten
Bodenverbesserung "zustimmen"; es galt, die für das Zustandekommen
des Unternehmens erforderliche Zahl von Zustimmungserklärungen
beizubringen (Art. 703 ZGB; § 34 Abs. 2, § 97 EG/ZGB). Dass für die
Abgabe der Erklärungen die Form des Stimmzettels gewählt wurde, ist
unerheblich. Eine Geheimhaltung der abgegebenen "Stimmen" (besser gesagt:
Erklärungen) kam nicht in Frage; denn die Identität der Zustimmenden
musste bekannt sein, da es nicht nur auf deren Zahl ankam, sondern auch
auf die Grösse der ihnen gehörenden Bodenfläche. Sodann ist zu beachten,
dass es erfahrungsgemäss oft schwer hält, die an einer Bodenverbesserung
beteiligten Grundeigentümer zur Zustimmung zu bewegen. Daraus erklärt
sich, dass Art. 703 ZGB - nach dessen Abs. 1 bei Zustimmung von zwei
Dritteilen der beteiligten Grundeigentümer, denen zugleich mehr als
die Hälfte des beteiligten Bodens gehört, die übrigen Eigentümer zum
Beitritt verpflichtet sind - in Abs. 3 den kantonalen Gesetzgeber
ermächtigt, die Durchführung von Bodenverbesserungen noch weiter zu
erleichtern, von welcher Befugnis der Kanton Thurgau durch Herabsetzung
des Quorums Gebrauch gemacht hat. Es entspricht dem Grundgedanken dieser
Regelung, wenn solange wie möglich versucht wird, die notwendige Zahl von
Zustimmungserklärungen zu vereinigen, wozu gegebenenfalls auch gehört,
dass gewisse Grundeigentümer, die bereits die Ablehnung erklärt haben,
zum Zurückkommen auf ihre Stellungnahme bewogen werden. Es verhält sich
ähnlich wie im Verfahren nach Art. 302 ff. SchKG, in dem die für das
Zustandekommen eines Nachlassvertrages erforderliche Mindestzahl von
"Zustimmungserklärungen" der Gläubiger beizubringen ist; das Bundesgericht
hat denn auch entschieden, dass dann, wenn binnen der ordentlichen Frist
(Art. 302 Abs. 4 SchKG) diese Zahl nicht erreicht wird, die fehlenden
Erklärungen noch vor den Nachlassbehörden eingelegt werden können (BGE 35
I 268 Erw. 3). Im vorliegenden Fall, wo für die Abgabe der "Stimmzettel"
nicht einmal eine Frist vorgesehen war, kann daher zum mindesten ohne
Willkür angenommen werden, dass Zustimmungserklärungen jedenfalls solange
eingeholt werden durften, als das Ergebnis der "Abstimmung" noch nicht
endgültig amtlich festgestellt war. Als solche Feststellung fällt nur
diejenige des kantonalen Meliorationsamtes in Betracht, auf die in der
Einladung vom 5. Februar 1954 zur konstituierenden Versammlung der
Korporation Bezug genommen wird. Das Meliorationsamt konnte aber zu dem
dort festgehaltenen Befund nur gelangen, wenn es die "nachträglichen"
Zustimmungserklärungen von Beteiligten, die zunächst Nein "gestimmt"
hatten, mitberücksichtigte; es kann also jene Feststellung nicht schon
vor der Einholung dieser Erklärungen, sondern muss sie nachher getroffen
haben. Mithin kann keine Rede davon sein, dass der Regierungsrat
willkürlich klare, wenn auch ungeschriebene allgemeine Grundsätze
betreffend die Durchführung von Abstimmungen über öffentlichrechtliche
Gegenstände missachtet habe.