Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 80 I 178



80 I 178

29. Urteil vom 12. Mai 1954 i.S. Kanton Uri gegen Kanton St. Gallen.
Regeste

    Niederlassungsfreiheit.

    1.  Recht des Heimatkantons, mit staatsrechtlicher Klage die
Feststellung zu beantragen, dass eine Heimschaffung verfassungswidrig sei.

    2.  Art. 45 BV gewährleistet dem Schweizer, der die Voraussetzungen
erfüllt, unter denen nach dieser Bestimmung die Niederlassung gewährt
werden muss, auch die Freiheit des Aufenthalts.

Sachverhalt

    A.- Fräulein M. A., geb. 1925, von Altdorf, liess sich im Jahre 1948 in
der Stadt St. Gallen nieder. Sie arbeitete dort wenig und unregelmässig als
Serviertochter und begann, einen liederlichen Lebenswandel zu führen. Im
März 1952 gab sie das zuletzt gemietete Zimmer auf, und in der Folge zog
sie unstet umher. Am 28. August 1952 löschte die Einwohnerkontrolle der
Stadt St. Gallen die Aufenthaltsbewilligung für M. A. und stellte deren
Heimatschein der Heimatgemeinde zu mit der Mitteilung, dass die Genannte
ohne Abmeldung von St. Gallen abgereist und dass ihr Aufenthalt seit
dem April 1952 unbekannt sei. Am 14. November 1952 wurde M. A. von der
Stadtpolizei St. Gallen aufgegriffen. Es ergab sich, dass sie schwanger,
mittel- und obdachlos war. Sie wurde am gleichen Tage dem kantonalen
Polizeikommando zur Heimschaffung zugeführt, die tags darauf vollzogen
wurde. Die Urner Behörden nahmen M. A. in Obhut und liessen ihr die nötige
Fürsorge angedeihen. Der Gemeinderat von Altdorf bestellte ihr einen
Vormund. Sie wurde in einer Anstalt untergebracht, wo sie am 17. März
1953 ein zweites aussereheliches Kind gebar.

    Der Regierungsrat von Uri erhob beim Regierungsrat von St. Gallen
Rekurs mit dem Antrag, die Verfügung des Polizeikommandos St. Gallen
vom 14. November 1952 sei aufzuheben und die Vormundschaftsbehörde der
Stadt St. Gallen zu veranlassen, die Betreuung der M. A. zu übernehmen,
d.h. den Fall gemäss Verfassung und Konkordat über die wohnörtliche
Unterstützung zu behandeln. Der Regierungsrat von St. Gallen wies das
erste Begehren ab; auf das zweite trat er nicht ein mit der Begründung,
es sei infolge der in Altdorf angeordneten Bevormundung gegenstandslos
geworden, und ausserdem sei in St. Gallen ein Entmündigungsverfahren
nicht eingeleitet worden (Entscheid vom 26. September 1953).

    B.- Mit staatsrechtlicher Klage beantragt der Regierungsrat von Uri,
1) es sei festzustellen, dass M. A. zu Unrecht heimgeschafft worden sei;
2) daher seien die Heimschaffungsverfügung der Stadtpolizei St. Gallen vom
14. November 1952 und der Entscheid des Regierungsrates von St. Gallen vom
26. September 1953 aufzuheben; 3) der Kanton St. Gallen sei zu verhalten,
seinen Kostenanteil gemäss Konkordat über die wohnörtliche Unterstützung
vom November 1952 an für M. A. und ihr im Jahre 1953 geborenes Kind
zu übernehmen.

    Zur Begründung wird ausgeführt, die beanstandete Heimschaffung sei
verfassungswidrig, da - unbestrittenermassen - keiner der in Art. 45 BV
genannten Gründe für den Entzug der Niederlassung vorliege. Tatsächlich
habe M. A. die Niederlassung in St. Gallen nicht aufgegeben, auch wenn
sie die Wohnung ständig gewechselt habe. Wohl seien ihre Schriften im
Zeitpunkt der Ausweisung nicht mehr in St. Gallen hinterlegt gewesen;
dafür sei aber nicht sie verantwortlich, sondern die St. Galler Behörde,
die den Heimatschein - zu Unrecht - nach Altdorf zurückgesandt habe. Davon,
dass die Urner Behörden die Rechtmässigkeit des Niederlassungsentzuges
anerkannt hätten, könne keine Rede sein. Die Heimschaffung laufe auf eine
Verweigerung der konkordatlichen Armenunterstützung hinaus.

    C.- Der Regierungsrat von St. Gallen beantragt, die Klage sei
abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden könne.

    Er macht geltend, M. A. habe zur Zeit, da die St. Galler Behörden
ihre Aufenthaltsbewilligung gelöscht, ihren Heimatschein nach Altdorf
zurückgesandt und sie selbst heimgeschafft haben, keine näheren
Beziehungen zu St.Gallen mehr gehabt. Müsse somit angenommen werden,
dass sie die Niederlassung daselbst schon vorher aufgegeben habe, so
habe ihr diese auch nicht mehr entzogen werden können. Das Vorgehen der
Einwohnerkontrolle der Stadt St. Gallen entspreche langjähriger Praxis
der Verwaltungsbehörden, und auch die polizeiliche Heimschaffung sei zu
Recht erfolgt. Übrigens habe das Polizeikommando Uri sich auf Anfrage
hin bereit erklärt, M. A. zu übernehmen, und der Gemeinderat von Altdorf
habe durch sofortige Anordnung der Vormundschaft zu erkennen gegeben,
dass er diesen Ort als neuen Wohnsitz derselben betrachte.

    Da beide beteiligten Kantone dem Konkordat über die wohnörtliche
Unterstützung beigetreten seien, sei zur Beurteilung der im Klagebegehren
3 aufgeworfenen Frage im Falle eines Streites das eidg. Justiz- und
Polizeidepartement zuständig.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Art. 45 BV enthält neben der Gewährleistung eines individuellen
Rechts zugunsten des einzelnen Schweizerbürgers zugleich eine Ordnung der
rechtlichen Beziehungen zwischen dem Niederlassungs- und dem Heimatkanton.
Ist zwischen den beiden Kantonen streitig, ob eine beabsichtigte
oder bereits vorgenommene Ausweisung oder Heimschaffung nach dieser
Verfassungsbestimmung gerechtfertigt sei, so kann der Heimatkanton
beim Bundesgericht gestützt auf Art. 83 lit. b OG staatsrechtliche Klage
erheben mit dem Begehren um Feststellung, dass die Frage zu verneinen sei,
dies jedenfalls dann, wenn er (noch) ein praktisches Interesse an solcher
Feststellung hat (BGE 71 I 236, 244). Ein Antrag dieses Inhalts wird mit
dem Rechtsbegehren 1 der vorliegenden Klage gestellt. Der Kanton Uri ist
an der Abklärung der damit aufgeworfenen Frage interessiert; denn er will
aus der Feststellung, die er verlangt, den Schluss ziehen, dass der Kanton
St. Gallen an die Kosten der Unterstützung der M. A. und ihres zweiten
Kindes beizutragen habe. Er hat das Recht zur Feststellungsklage auch
nicht verwirkt. Wenn das Polizeikommando Uri, wie der Kanton St. Gallen
behauptet, sich auf Anfrage hin bereit erklärt hat, M. A. zu übernehmen,
so hat es dadurch den Kanton Uri, der in der Streitigkeit Partei ist,
und den Regierungsrat, der ihn darin zu vertreten hat (Art. 83 lit. b
OG), nicht binden können. Ebensowenig kann der Feststellungsklage des
Kantons Uri entgegengehalten werden, dass die Behörde der Heimatgemeinde
M. A. sogleich nach der Heimschaffung unter Vormundschaft gestellt hat.

    Das Klagebegehren 2 ist insoweit gegenstandslos, als damit die
Aufhebung der Heimschaffungsverfügung der "Stadtpolizei" (richtig: des
kantonalen Polizeikommandos) St. Gallen verlangt wird; denn diese Verfügung
ist nun ersetzt durch den sie bestätigenden Entscheid der St. Galler
Regierung. Der weitere Antrag des klagenden Kantons auf Aufhebung dieses
Entscheides ist unzulässig; er hätte nur von der heimgeschafften Bürgerin
selbst, durch staatsrechtliche Beschwerde, gestellt werden können (BGE
71 I 237, Abs. 1 am Ende). Soweit der Entscheid der St. Galler Regierung
vom 26. September 1953 das Begehren der Urner Regierung betrifft, die
Betreuung der M. A. sei von der Vormundschaftsbehörde der Stadt St. Gallen
zu übernehmen, ist er nicht angefochten.

    Auch mit dem Klagebegehren 3 kann das Bundesgericht sich nicht
befassen. Nach Art. 17 und 18 des Konkordates über die wohnörtliche
Unterstützung von 1937, dem beide Parteien angehören, ist es Sache
des eidg. Justiz- und Polizeidepartements, über Streitigkeiten zwischen
Konkordatskantonen betreffend die Verteilung der Fürsorgekosten endgültig,
als Schiedsinstanz, zu entscheiden. Indessen besteht kein Grund, die
Akten dieser Behörde zu übergeben, da ein Beschluss, der dem Rekurs an
sie unterliegen würde, derzeit nicht vorliegt.

    Der Umstand, dass Uri und St. Gallen Konkordatskantone sind, ändert
aber nichts daran, dass die Feststellung, ob die vollzogene Heimschaffung
vor Art. 45 BV standhalte, in die Zuständigkeit des Bundesgerichts
fällt. Das eidg. Justiz- und Polizeidepartement teilt diese Auffassung,
wie es im durchgeführten Meinungsaustausch, unter Hinweis auf seine Praxis
(Entscheidsammlung in der Beilage zur Zeitschrift "Der Armenpfleger", 1944
S. 57 ff., 1951 S. 17 ff., 25 ff.), erklärt hat. Auf das Klagebegehren
1 ist daher einzutreten.

Erwägung 2

    2.- Art. 45 BV gewährleistet jedem Schweizer unter gewissen
Voraussetzungen das Recht der freien Niederlassung an jedem Orte des
schweizerischen Gebietes. Die Garantie schliesst das Recht zum Aufenthalt,
als minus, in sich, so dass auch das bloss vorübergehende oder wenigstens
nicht auf längere Zeit berechnete Verweilen an einem Orte einem Schweizer
nicht untersagt werden darf, wenn er die Voraussetzungen erfüllt, unter
denen nach Art. 45 BV die Niederlassung gewährt werden muss (BGE 42 I
303 f., 46 I 405, 60 I 86 oben).

    Es ist unbestritten, dass M. A. zur Zeit, als sie aus St. Gallen
durch die Polizei heimgeschafft wurde, keinen der Tatbestände gegen
sich hatte, die nach Art. 45 BV zur Verweigerung oder zum Entzug der
Niederlassung berechtigen. Es kann auch nicht gesagt werden, dass damals
die Voraussetzung des "Besitzes" ("production") eines Heimatscheins oder
einer gleichbedeutenden Ausweisschrift gefehlt habe. M. A. hatte in der
Stadt St. Gallen seinerzeit einen Heimatschein hinterlegt. Die dortige
Behörde hatte ihn dann allerdings der Heimatgemeinde zurückgesandt, aber
von sich aus, nicht auf Begehren der M. A. Es wäre ohne weiteres möglich
gewesen, binnen kurzer Frist ihn wieder beizubringen oder an seiner Stelle
eine gleichbedeutende Ausweisschrift zu hinterlegen. Daraus folgt, dass
M. A. im Zeitpunkt der Heimschaffung gegenüber dem Kanton St. Gallen
alle Voraussetzungen erfüllte, an die Art. 45 BV die Berechtigung des
Bürgers zur freien Niederlassung und damit auch zum freien Aufenthalt am
Orte seiner Wahl knüpft. Die vorgenommene Heimschaffung hinderte sie aber
an der Ausübung ihres Rechts, frei zu bestimmen, ob sie sich weiterhin,
sei es auch nur vorübergehend, im Kanton St. Gallen aufhalten wolle. Die
Massnahme verstösst daher gegen Art. 45 BV.

    Welcher Art die örtliche Beziehungen waren, in denen M. A. zur Zeit
der Heimschaffung zum Kanton St. Gallen stand, ist für die Beurteilung
des Klagebegehrens 1 unerheblich. In Frage steht das in Art. 45 BV
gewährleistete Recht der freien Niederlassung. In diesem Recht, das auch
Anspruch auf freien Aufenthalt gibt, wurde M. A. durch die Heimschaffung
beeinträchtigt, auch wenn sie Wohnsitz und Niederlassung in St. Gallen
aufgegeben hatte und dort nur vorübergehend weilte, als diese Massnahme
angeordnet wurde. Wenn sie die ursprüngliche feste örtliche Beziehung
zu St. Gallen gelöst hatte, so mag das die Löschung der seinerzeit
erteilten "Aufenthaltsbewilligung" - die in ihrer Wirkung offenbar auf
eine Niederlassungsbewilligung hinauslief - gerechtfertigt haben; es wird
auch, im Hinblick auf die Frage des "Konkordatswohnsitzes", von Bedeutung
sein für die Verteilung der Fürsorgekosten. Wie es sich damit verhält,
hat das Bundesgericht im vorliegenden Verfahren nicht zu untersuchen. Zu
prüfen ist nur, ob der Kanton St. Gallen M. A. ohne Verletzung des Art. 45
BV habe heimschaffen dürfen. Das ist nach dem Ausgeführten zu verneinen.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Klage wird teilweise gutgeheissen, indem festgestellt wird,
dass der Kanton St. Gallen M. A., von Altdorf, zu Unrecht heimgeschafft
hat. Auf die weitergehenden Klagebegehren wird nicht eingetreten.