Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 80 I 13



80 I 13

3. Auszug aus dem Urteil vom 3. März 1954 i.S. Schweiz. Verein zur
gesetzlichen Anerkennung der Chiropraktik in der Schweiz, Sektion Luzern
und Konsorten gegen Regierungsrat des Kantons Luzern. Regeste

    Art. 31 BV. Gewerbepolizeiliche Anforderungen an das medizinische
Hilfspersonal (Chiropraktik).

    Unzulässigkeit des Erfordernisses des einjährigen Wohnsitzes des
Bewerbers im Kanton vor Erteilung der Bewilligung; Zulässigkeit desjenigen
eines Maturitätsexamens; Anforderungen an die Prüfung.

Sachverhalt

    A.- Die vom Regierungsrat des Kantons Luzern gestützt auf die §§ 2 und
44 des kantonalen Gesetzes über das Gesundheitswesen erlassene Verordnung
über die Rechte und Pflichten sowie über die Prüfung der Chiropraktiker
(Vo.) bestimmt in:

    § 3. Die Bewilligung zur Ausübung der Chiropraktik wird vom Militär-
und Polizeidepartement an Bewerber erteilt, die:

    d. seit mindestens einem Jahr ihren Wohnsitz im Kanton Luzern
begründet haben;

    .....

    § 4. Wer eine kantonale Prüfung ablegen will, hat dem Militär- und
Polizeidepartement ein Gesuch einzureichen und sich darüber auszuweisen,
dass er:

    a. das Maturitätszeugnis besitzt;

    .....

    § 6. Die praktische Prüfung umfasst:

    .....

    b. die Beurteilung mehrerer Röntgenbilder des gesunden und des kranken
menschlichen Skelettes, insbesondere der Wirbelsäule;

    c. die Erklärung eines Atlasbildes, eines normalen anatomischen
Schnittes, eines pathologischen mikroskopischen oder makroskopischen
Schnittes und eines anatomischen Präparates;

    d. die diagnostische Beurteilung eines Kranken, besonders im Hinblick
auf die chiropraktischen Behandlungsmethoden.

    § 7 Abs. 2:

    Zur theoretischen Prüfung gehört zudem eine innert drei Stunden unter
Klausur anzufertigende schriftliche Arbeit über ein Thema aus dem Gebiete
der Chiropraktik, der Anatomie, der Physiologie usw.

    § 8. Die Prüfungskommission, die aus drei Mitgliedern besteht,
unter denen mindestens ein eidgenössisch diplomierter Arzt sein muss,
wird vom Militär- und Polizeidepartement ernannt.

    B.- Mit der staatsrechtlichen Beschwerde wird beantragt:

    1. Die Verordnung aufzuheben, eventuell darin zu streichen:... §
3 lit. d, § 4 lit. a, in § 7 Abs. 2 die Worte "usw.".

    2. Die folgenden Vorschriften seien abzuändern:

    § 6 lit. b: die Beurteilung mehrerer, nach chiropraktischen Grundsätzen
und zwecks chiropraktischer Behandlung aufgenommener Röntgenbilder der
gesunden und kranken menschlichen Wirbelsäule;

    § 6 lit. c: die Erklärung eines Atlasbildes sowie die chiropraktische
und pathologische Beurteilung von Röntgenbildern der menschlichen
Wirbelsäule;

    § 8 Abs. 1: unter denen mindestens ein eidgenössisch diplomierter Arzt,
ein Chiropraktiker und ein von beiden vorgeschlagener Dritter sein muss ...

    3. Die folgenden Bestimmungen seien zu ergänzen:

    § 6 lit. d: die chiropraktisch-diagnostische Beurteilung eines Kranken;

    § 7 Abs. 2:... und der Röntgenkunde.

    Diese Anträge werden damit begründet, dass die Bestimmungen der
Verordnung die Handels- und Gewerbefreiheit verletzten und zu einer
aus polizeilichen Gründen nicht gerechtfertigten Beschränkung oder
Verunmöglichung der Berufsausübung führten. Das gelte insbesondere von
§ 3 lit. d, wonach der Chiropraktor zunächst an einer Berufsschule drei
Jahre studieren und hernach ein Jahr lang untätig im Kanton sich aufhalten
müsste, bevor er das kantonale Examen bestehen könnte. Diese Vorschrift
verletze auch die Freizügigkeit und die Rechtsgleichheit (Art. 4, 33 BV,
Art. 5 Üb. Best. z. BV).

    Gleiches gelte für § 4 lit. a, der nur den Zweck verfolge, das Examen
ungebührlich zu erschweren und bestimmte Kandidaten davon auszuschliessen.
Mit gesundheitspolizeilichen Gründen lasse sich das Erfordernis des
Maturitätsexamens nicht rechtfertigen; übrigens stehe auch nicht fest,
welcher Maturitätsausweis (Typus A, B oder C) gemeint sei.

    Zu beanstanden seien auch die Vorschriften von § 6 lit. b-c. Dem
Kandidaten könnten auf Grund dieser Bestimmungen Röntgenbilder, Schnitte
oder Präparate vorgelegt werden, die mit Chiropraktik nichts zu tun
hätten. Es komme auch bloss eine chiropraktisch-diagnostische Beurteilung
in Frage, weil dem Chiropraktor, wenn er auf chiropraktischem Wege zu
keiner Diagnose gelange, eine weitere Diagnose ohnehin untersagt sei. Beim
Prüfungsstoff für die theoretische Prüfung sollten in Abs. 2 die Worte:
"usw." gestrichen werden, weil diese Formel der Fragestellung jede
Grenze nehme. Vollends wirke die Zusammensetzung der Prüfungskommission
prohibitiv. Bei der notorischen Einstellung der Ärzte und der Prüfung über
ein Fachthema, bei dem nur der Chiropraktor Fachmann sei, bedeute der
Ausschluss des Fachmannes aus der Prüfungskommission eine willkürliche
Erschwerung oder Verhinderung eines erfolgreichen Examens und damit der
Berufsausübung.

    Das Bundesgericht hat die Beschwerde insoweit gutgeheissen, als es §
3 Abs. 1 lit. d der Verordnung aufgehoben und in § 7 Abs. 2 die Worte
"usw". gestrichen hat, im übrigen dagegen abgewiesen.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- .. .Mit den Anträgen, mit denen die Beschwerdeführer die
Ergänzung verschiedener Verordnungsvorschriften durch das Bundesgericht
beantragen, verkennen sie den grundsätzlich kassatorischen Charakter
von staatsrechtlichen Beschwerden von der Art der vorliegenden. Das
Bundesgericht kann nur prüfen, ob die Vorschriften mit dem ihnen vom
Regierungsrat gegebenen Inhalt verfassungswidrig und daher nicht
rechtsbeständig sind, und es muss es allfällig dem Regierungsrat
überlassen, sie bei Feststellung ihrer Verfassungswidrigkeit so zu fassen,
dass sie der verfassungsrechtlichen Prüfung standzuhalten vermögen.

    Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes steht auch das medizinische
Hilfspersonal unter dem Schutz der Handels- und Gewerbefreiheit, soweit
der Beruf nicht zu einem öffentlichen Amt erhoben ist (BGE 73 I 9,
59 I 183 und dortige Hinweise). Die Berufsausübung darf aber denjenigen
Schranken unterworfen werden, die sich aus Gründen des öffentlichen Wohls
ergeben. Zu diesen Beschränkungen gehören bei den medizinischen Berufsarten
(mit Einschluss des medizinischen Hilfspersonals) der Fähigkeitsausweis
sowie Massnahmen polizeilicher Art. 1nsbesondere dürfen die Kantone
die Ausübung der Heilkunde unter staatliche Kontrolle stellen, und sie
brauchen zur Berufsausübung nur Personen zuzulassen, die sich über die
Erfüllung gewisser Anforderungen auszuweisen vermögen (BGE 70 I 73, 67 I
198). Für die gewerbepolizeilichen Anforderungen gilt dabei der Grundsatz
der Verhältnismässigkeit des Eingriffs: die Massnahme darf nicht über
dasjenigen hinausgehen, was erforderlich ist zur Erreichung des Zweckes,
durch den sie gedeckt ist (BGE 78 I 304 Erw. 6 und die dortigen Hinweise).

    Bezüglich der in der Beschwerde beanstandeten Vorschriften ergibt
sich aus diesen Grundsätzen folgendes:

    a) Die Rüge der Verfassungswidrigkeit von § 3 lit. d Vo.  hält der
Regierungsrat deshalb als unbegründet, weil ein Bewerber, der im Kanton
praktizieren wolle, das Erfordenis des einjährigen Wohnsitzes im Kanton
in den meisten Fällen bereits erfüllt haben werde. Denn er müsse zunächst
eine Chiropraktorenschule mit dreijährigem Lehrgang absolvieren, sodass
die Vorschrift praktisch keine Schwierigkeiten bieten werde. Damit wird
übersehen, dass die Chiropraktorenschule nicht im Kanton Luzern absolviert
werden kann, weil keine solche vorhanden ist. Der Kandidat, der nicht
schon vorher im Kanton wohnte, und die Schule bestanden hat, wäre daher
gezwungen, sich entweder vor der Prüfung oder nach der Absolvierung
des kantonalen Examens ein Jahr lang im Kanton aufzuhalten, bis er die
Bewilligung nachsuchen könnte. Mit den persönlichen Fähigkeiten oder
Kenntnissen des Bewerbers hat also das "Wartejahr" nichts zu tun; es wird
insbesondere nicht etwa deshalb verlangt, damit der Bewerber sich noch
besonders ausbilde, bevor er eine eigene Praxis übernehme. Eine solche
Anforderung wäre übrigens nicht verständlich, wenn der Bewerber einen der
in lit. e genannten Prüfungsausweise hat. Bei dieser Sachlage fehlt der
Vorschrift jeder gewerbepolizeiliche Zweck. Die Vernehmlassung vermag denn
auch nicht anzugeben, welche sanitätspolizeilichen oder andern Gründe des
öffentlichen Wohls dafür sprechen sollen. Die Vorschrift ist vor Art. 31
BV nicht haltbar.

    b) § 4 lit. a Vo. soll den Grundsatz der Handels- und Gewerbefreiheit
verletzen, weil die Kenntnisse, die für das Maturitätsexamen verlangt
werden, für den Chiropraktor nicht notwendig seien, das Erfordernis sich
also gesundheitspolizeilich nicht rechtfertigen lasse, übrigens auch
nicht feststehe, welcher Maturitätstypus gemeint sei.

    Die Chiropraktik ist ein Heilberuf, der sich nicht, wie etwa derjenige
des Masseurs, in rein technischer, manueller Tätigkeit erschöpft. Sie
umfasst insbesondere die Diagnostik, jedenfalls die Diagnostik bestimmter
Krankheiten. Das setzt die Kenntnis der Anatomie des menschlichen
Körpers, der Krankheiten, ihrer Natur und ihres Verlaufs, die Kenntnis der
Krankheitsverhütung und anderer mit der Heilkunde verwandter Wissensgebiete
voraus. Ausserdem sind gewisse Kenntnisse der Medizinalgesetzgebung und
sanitätspolizeilicher Vorschriften unerlässlich. Ist aber danach die
Chiropraktik gewissermassen ein Teil der medizinischen Wissenschaft,
so darf von den darin Berufstätigen auch eine gewisse Allgemeinbildung
verlangt werden, die bis zu einem bestimmten Masse erst das Verständnis
der besondern Disziplinen der Heilkunde ermöglicht. Der Charakter
der gewerbepolizeilichen Massnahme lässt sich daher dem Erfordernis
des Maturitätsausweises nicht absprechen. Da immerhin nicht dieselben
Anforderungen gestellt werden können wie an die Voraussetzungen für das
medizinische Studium, wird jedes Maturitätszeugnis als genügend anerkannt
werden müssen, das eine wirkliche Allgemeinbildung vermittelt. Dass die
Verordnung in dieser Hinsicht keine aussergewöhnlichen Anforderungen
stellt, ergibt sich auch daraus, dass andere Kantone, wie Neuenburg und
Genf, die Berufsbewilligung ebenfalls vom Ausweis eines Maturitätsexamens
abhängig machen.

    c) Die Beschwerdeführer sind der Auffassung, dass auch mit den
Vorschriften von § 6 lit. b-d Vo. der Rahmen der sanitätspolizeilichen
Massnahme gesprengt werde, und sie befürchten, dass deren Fassung
den Examinatoren die Möglichkeit gebe, Fragen zu stellen, die mit der
chiropraktischen Tätigkeit nichts mehr zu tun hätten.

    Der Sanitätsrat erklärt, was die Vorschrift von lit. b betrifft, dass
vom Kandidaten nichts Ungebührliches werde verlangt werden, dass aber
die Prüfungsanforderungen gleichwohl nicht simplifiziert werden dürften,
nachdem der Entscheid über die Eignung zu chiropraktischer Behandlung eines
Kranken dem Chiropraktor überlassen bleibe. Dem ist beizupflichten. Da
vom Kandidaten insbesondere verlangt wird, dass er normale und anormale
Erscheinungen der menschlichen Wirbelsäule beurteilen könne, soweit diesen
für eine chiropraktische Beurteilung Bedeutung zukommt, kann die Vorschrift
nicht als verfassungswidrig beanstandet werden. Zu lit. c erklärt der
Sanitätsrat, dass es sich selbstverständlich nur um wenig komplizierte und
leicht zu beurteilende Präparate handeln könne, deren Kenntnis von einem
Chiropraktor nach dreijähriger Ausbildung verlangt werden könne, und zu
lit. d, dass die diagnostische Beurteilung im Sinne dieser Bestimmung der
chiropraktisch-diagnostischen, wie die Beschwerdeführer sie verlangen,
gleichgestellt werden solle. Bei diesen Erklärungen ist der Regierungsrat,
der sich auf den Bericht des Sanitätsrates beruft, zu behaften.

    d) Dass die Verordnung das Prüfungsfach der Röntgenkunde in § 7 Abs. 2
nicht besonders erwähnt, ist nicht verfassungswidrig. Unzulässig ist
dagegen, weil sie den Prüfungsstoff in einer Weise umschreibt, die ihn
praktisch in das Belieben der Prüfungskommission stellen und dem Kandidaten
verunmöglichen würde, sich sachgemäss vorzubereiten, die Beifügung der
Worte "usw". Dem Regierungsrat bleibt überlassen, ob er es bei dieser
Streichung bewenden lassen oder ob er die Prüfungsfächer aufführen will,
auf die eine Prüfung sich weiterhin erstrecken soll.

    e) Mit der Fassung von § 8 Vo., wonach die Prüfungskommission aus drei
Mitgliedern bestehe, von denen mindestens eines ein eidgen. diplomierter
Arzt sein müsse, wird die Frage nicht präjudiziert, aus welchen Kreisen
die beiden andern Mitglieder der Kommission gewählt werden müssen, also
nicht ausgeschlossen, dass - was sachlich richtig wäre - ein Chiropraktor
in die Kommission berufen werde. Zur Zeit besteht jedenfalls deswegen
kein Beschwerdegrund.