Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 80 IV 62



80 IV 62

15. Urteil des Kassationshofes vom 12. März 1954 i.S. Staatsanwaltschaft
Emmental-Oberaargau gegen F. Regeste

    Art. 191 Ziff. 1 Abs. 2 und Ziff. 2 Abs. 5 StGB. Begriff des
Dienstboten.

Sachverhalt

    A.- F. nahm im Herbst 1951 während eines Spitalaufenthaltes seiner
Ehefrau in der ehelichen Wohnung mit M. F., geb. 26. Juli 1936, eine dem
Beischlaf ähnliche und andere unzüchtige Handlungen vor. M. F. hatte
vom Frühling 1950 bis Frühling 1952 bei F. als "Gaumermeitschi"
einen Wochenplatz inne. Täglich holte sie am Abend für Familie F. die
Milch. Ausserdem half sie in der Regel im Winter am Samstagnachmittag und
im Sommer wöchentlich an drei Nachmittagen in dieser Familie aus. Während
der Schulferien, insbesondere auch zur Zeit, da F. seine Verbrechen beging,
begab sie sich manchmal schon am Vormittag in den Wochenplatz und blieb
bis etwa 17.30 Uhr dort. Sie erschien jedoch unregelmässig; wenn sie aus
irgend einem Grunde verhindert war, blieb sie weg. Ihre Verrichtungen
bestanden hauptsächlich in der Überwachung der zwei Kinder. Daneben
half sie putzen, Geschirr waschen und stricken. In der Zeit, da F. sie
missbrauchte, bereitete sie wegen der Abwesenheit seiner Gattin auch das
Mittagessen zu. Wenn M. F. den ganzen Tag im Hause F. arbeitete, erhielt
sie dort das Mittagessen und einen Imbiss, erschien sie nur am Nachmittag,
so wurde ihr nur letzterer verabfolgt. Das Nachtessen nahm sie immer im
elterlichen Hause ein. Während der ganzen zwei Jahre übernachtete sie
zwei- bis dreimal in der Wohnung F.s' um in Abwesenheit der Eheleute
F. die Kinder zu betreuen. Die Höhe des Lohnes hatten die Eltern des
Mädchens in das Ermessen des Arbeitgebers gestellt. An Barlohn erhielt
M. F. im Winter monatlich Fr. 5.- bis 6.- und im Sommer monatlich Fr. 8.-
bis 10.-. Ausserdem machte ihr Frau F. kleine Gelegenheitsgeschenke. Die
Auflösung des Verhältnisses stand dem Mädchen jederzeit frei.

    B.- Am 27. Oktober 1953 verurteilte die Kriminalkammer des Kantons
Bern F. wegen Unzucht mit einem Kinde gemäss Art. 191 Ziff. 1 Abs. 1
und Ziff. 2 Abs. 1 StGB zu einer bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafe
von zehn Monaten. Die vom Bezirksprokurator beantragte Anwendung
von Art. 191 Ziff. 1 Abs. 2 und Ziff. 2 Abs. 5 StGB lehnte die
Kammer ab, weil M. F. nicht Dienstbote gewesen sei. Ein ausgeprägtes
Unterordnungsverhältnis, d.h. eine bestimmte Autorität auf der einen und
eine besondere Abhängigkeit auf der anderen Seite seien nicht in genügender
Intensität erwiesen. M. F. habe eine sehr geringe Entlöhnung bezogen, die
neben anderen Umständen glaubhaft erscheinen lasse, dass der Beweggrund,
in der Familie F. gewisse Dienstleistungen zu verrichten, hauptsächlich
die Freude am Kinderhüten gewesen sei. Das Mädchen habe mit seinem
Dienstherrn auch nicht in Hausgemeinschaft gelebt. Die Bindung sei auch
insofern nur lose gewesen, als es unregelmässig erschienen sei und seinen
Platz jederzeit hätte aufgeben können. Die unregelmässige Arbeitszeit
sei von Frau F. durchaus in Kauf genommen worden. Bei zivilrechtlicher
Betrachtung habe ein Dienstvertrag, besonders ein Dienstbotenverhältnis,
wohl bestanden, doch könne von einem Subordinationsverhältnis und damit
von einem Dienstbotenverhältnis im Sinne des Strafgesetzbuches nicht die
Rede sein.

    C.- Der Prokurator des III. Bezirks des Kantons Bern führt
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil sei aufzuheben und die
Sache zu neuer Beurteilung an die Kriminalkammer zurückzuweisen. Er macht
geltend, Art. 191 Ziff. 1 Abs. 2 und Ziff. 2 Abs. 5 StGB seien anzuwenden,
da M. F. Dienstbote des Angeklagten gewesen sei.

    D.- F. beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Wer sich der Unzucht mit einem Kinde unter sechzehn Jahren
schuldig macht, wird gemäss Art. 191 Ziff. 1 Abs. 2 und Ziff. 2 Abs. 5
StGB schärfer bestraft, wenn das Kind der Schüler, Zögling, Lehrling,
Dienstbote oder das Kind, Grosskind, Adoptivkind, Stiefkind, Mündel oder
Pflegekind des Täters ist.

    In BGE 71 IV 192 hat der Kassationshof ein Kennzeichen des
Dienstbotenverhältnisses im Sinne dieser Bestimmungen darin gesehen, dass
es auf der einen Seite eine besondere Autorität und auf der anderen Seite
eine besondere Abhängigkeit begründe, und in BGE 78 IV 159 hat er diese
Umschreibung dahin erläutert, dass er mit "besonderer" Autorität bzw.
Abhängigkeit nicht habe sagen wollen, beide müssten einen besonders
hohen Grad erreicht haben, sondern bloss, dass Autorität und Abhängigkeit
allein ein Verhältnis nicht zum Dienstbotenverhältnis machten, sondern
dass hiezu eine besonders geartete Autorität bzw. Abhängigkeit gehöre,
wie sie zwischen Dienstherr und Dienstbote bestehe.

    Damit ist nicht entschieden worden, dass die besondere Autorität bzw.
Abhängigkeit das einzige Kennzeichen des Dienstbotenverhältnisses sei. Die
Frage, welche weiteren Merkmale dazu gehörten, stellte sich in BGE 71
IV 190 ff. nicht, weil dort das Dienstbotenverhältnis schon mangels
der besonderen Autorität und Abhängigkeit verneint wurde, und in BGE
78 IV 156 ff. wurde wiederum bloss geprüft, ob das Verhältnis zwischen
Täter und Opfer als Dienstverhältnis mit der ihm eigenen Autorität und
Abhängigkeit gewürdigt werden könne, da nicht streitig war, dass, falls
ein Dienstverhältnis überhaupt bestanden habe, das Kind Dienstbote,
nicht Dienstpflichtiger anderer Art gewesen sei.

    Da Art. 191 Ziff. 1 Abs. 2 und Ziff. 2 Abs. 5 StGB nicht allen
Dienstpflichtigen, sondern nur dem Lehrling und dem Dienstboten
den erhöhten strafrechtlichen Schutz bieten, ist klar, dass die
dienstherrliche Autorität und die Abhängigkeit des Dienstpflichtigen allein
das Dienstbotenverhältnis nicht ausmachen. Vielmehr ist nötig, dass das
missbrauchte Kind die besonderen Merkmale aufweise, die den Dienstboten
(domestique, servo) von anderen Dienstpflichtigen unterscheiden.

    Sie bestehen darin, dass es wegen der ihm obliegenden Verrichtungen im
Haushalte des Dienstherrn ähnlich einem zur Familie gehörenden Kinde ein-
und auszugehen hat. Die enge persönliche Berührung mit dem Dienstherrn,
in die es dabei kommt, in Verbindung mit der dem Dienstpflichtigen eigenen
Abhängigkeit vom Dienstherrn, bildet den gesetzgeberischen Grund des
verstärkten strafrechtlichen Schutzes, den Art. 191 in Ziff. 1 Abs. 2 und
Ziff. 2 Abs. 5 dem Dienstboten bietet. Unerheblich ist, ob das Kind mit
dem Dienstherrn in gemeinsamem Haushalte lebt, d.h. (vgl. BGE 72 IV 4) mit
ihm unter gemeinsamem Dache schläft. Die erwähnten Bestimmungen sprechen
von den Dienstboten schlechthin, nicht etwa bloss von denen, die zugleich
Familiengenossen im Sinne von Art. 110 Ziff. 3 StGB sind, oder von den
"in gemeinsamem Haushalte lebenden" Dienstboten. Dass das Schlafen unter
gemeinsamem Dache nicht schon zum Begriff des Dienstbotenverhältnisses
gehört, zeigt Art. 333 OR, der auch Dienstboten kennt, die nicht in
Hausgemeinschaft leben. Auch der allgemeine Sprachgebrauch verbindet
mit dem Worte "Dienstbote" nicht notwendigerweise die Vorstellung des
gemeinsamen Wohnens.

Erwägung 2

    2.- Als der Beschwerdegegner M. F. zur Unzucht missbrauchte, stand sie
zu ihm in einem Dienstverhältnis und damit in einer Abhängigkeit, wie sie
einem solchen Verhältnis eigen ist. Sie hatte sich seiner als Inhaberin der
Schlüsselgewalt handelnden Ehefrau und damit auch ihm selber gegenüber auf
Zeit verpflichtet, gegen Lohn Dienste zu leisten. Daran ändert der Umstand
nichts, dass sie das Verhältnis jederzeit hätte auflösen können. Entlöhnt
wurde sie nichtsdestoweniger nicht für die einzelne Verrichtung, sondern
dafür, dass sie überhaupt im Haushalt des Beschwerdegegners nach Massgabe
ihrer verfügbaren Zeit arbeitete. Weder dem Dienstvertrag im allgemeinen,
noch dem Dienstbotenverhältnis im besonderen ist es eigen, dass der
Vertrag auf eine feste Dauer abgeschlossen worden sei oder nur unter
Einhaltung einer bestimmten Kündigungsfrist aufgelöst werden könne. Die
Abhängigkeit, wie sie in BGE 71 IV 192 und 78 IV 158 verstanden wurde,
besteht nicht in einer vorübergehenden Unmöglichkeit, die vertragliche
Bindung zum Dienstherrn zu lösen, sondern darin, dass der Dienstpflichtige,
solange er tatsächlich im Dienste des andern steht, von ihm Weisungen
anzunehmen und sie zu befolgen hat. Dienstvertragliche Abhängigkeit setzt
auch nicht voraus, dass der Dienstpflichtige täglich oder wöchentlich
eine bestimmte Mindestzahl von Stunden für den Dienstherrn arbeite und
dass die Arbeit jeden Tag zur gleichen Stunde verrichtet werde. Übrigens
hatte M. F. gerade um die Zeit, da der Beschwerdegegner sie missbrauchte,
bedeutende und regelmässige Tagesarbeit in seinem Dienste zu verrichten,
da seine Ehefrau im Spital war und das Mädchen Schulferien hatte. Nach
den Verhältnissen zur Zeit der Tat beurteilt sich, ob es Dienstbote
des Beschwerdegegners war, nicht darnach, ob es auch zu anderen Zeiten,
z.B. im Winter, diese Eigenschaft hatte. Unerheblich ist sodann auch,
dass M. F. einen verhältnismässig geringen Lohn bezog; käme darauf etwas
an, so bestände der verstärkte Schutz von Art. 191 Ziff. 1 Abs. 2 und
Ziff. 2 Abs. 5 StGB meistens nicht, da Kinder unter sechzehn Jahren
als Dienstboten in der Regel nicht erheblich entlöhnt werden. Diese
Bestimmungen fragen auch nicht nach dem Beweggrund, der bei der Begründung
des Dienstbotenverhältnisses leitend war. Die Feststellung der Vorinstanz
und der Einwand des Beschwerdegegners, M. F. habe sich aus Freude an der
Betreuung von Kindern verdingt, ist daher ohne Belang.

    M. F. war nicht nur Dienstpflichtige des Beschwerdegegners, sondern
auch dessen Dienstbote. Sie hatte ihre vertraglichen Verrichtungen zur
Zeit, da der Beschwerdegegner sie zur Unzucht missbrauchte, in seinem
Haushalte zu verrichten und kam dadurch in jene enge persönliche Berührung
mit dem Dienstherrn, die den Dienstboten in erhöhtem Masse schutzbedürftig
macht.

    Die Kriminalkammer hat daher den Beschwerdegegner nach Art. 191
Ziff. 1 Abs. 2 und Ziff. 2 Abs. 5 StGB zu bestrafen.

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil der
Kriminalkammer des Kantons Bern vom 27. Oktober 1953 aufgehoben und die
Sache zur Bestrafung des Beschwerdegegners nach Art. 191 Ziff. 1 Abs. 2
und Ziff. 2 Abs. 5 StGB an die Vorinstanz zurückgewiesen.