Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 80 IV 209



80 IV 209

44. Urteil des Kassationshofes vom 20. Dezember 1954 i. S. Wiget gegen
Leir und Schmolka. Regeste

    1. Art. 30, 31 Abs. 3 StGB.

    a)  Gegen wen wirken der Strafantrag und sein Rückzug? (Erw. 1).

    b)  Wirkung der Unteilbarkeit des Strafantrages bei Verfolgung im
Privatstrafklageverfahren (Erw. 2 Abs. 1).

    c)  Gibt es eine Ausnahme von der Unteilbarkeit des Rückzugs des
Strafantrages? (Erw. 3).

    2. Art. 29 StGB. Die Frist zur Stellung des Strafantrages beginnt
erst zu laufen, wenn der Verletzte persönlich, nicht schon, wenn sein
Bevollmächtigter die Tat und den Täter kennt (Erw. 2 Abs. 2).

Sachverhalt

    A.- Rechtsanwalt Dr. Felix Wiget vertrat die in London niedergelassene
Firma "The Henckel von Donnersmarck Beuthen Estates Ltd." in einem
Prozesse, den Henry Leir und die "Continental Ore Corporation", beide in
New York, durch Rechtsanwalt Dr. Oskar Hoffmann beim Bezirksgericht Zürich
gegen sie angehoben hatten. Da er in seiner am 5. Februar 1953 verfassten
Antwortschrift, die das Bezirksgericht dem Dr. Hoffmann am 20. Februar
1953 zustellte, ehrenrührige Vorwürfe erhoben haben soll, reichten Henry
Leir und der in New York niedergelassene Rechtsanwalt Dr. Francis Schmolka
am 18. Mai 1953 beim Bezirksgericht Zürich gegen ihn Privatstrafklage
wegen übler Nachrede, Verleumdung und Beschimpfung ein (Art. 173, 174,
177 StGB). Am 20. Mai 1953 führten sie beim gleichen Gerichte Klage auch
gegen den Grafen Lazy Henckel von Donnersmarck und beantragten: "Es sei
der Angeschuldigte wegen den in der Klageantwortschrift seines Anwaltes
Dr. Wiget vom 5. Februar 1953 an das Bezirksgericht Zürich, 4. Abt.,
enthaltenen ehrverletzenden Äusserungen, die im folgenden im Wortlaut
wiedergegeben werden, gestützt auf StGB Art. 173 und 174, eventuell wegen
Anstiftung dazu, sowie wegen Anstiftung zu Beschimpfung (Art. 24 StGB)
angemessen zu bestrafen." Am 26. Juni 1953 zogen sie die Klage gegen
Henckel von Donnersmarck zurück mit dem Hinweis, dass schon Klage gegen
Dr. Wiget erhoben sei und dass ferner eine Zivilklage gegen die Henckel
von Donnersmarck Beuthen Estates Ltd. vor den Gerichten in London liege.

    B.- Unter Berufung hierauf und Hinweis auf Art. 31 Abs.  3 StGB
beantragte Dr. Wiget dem Bezirksgericht, der Prozess gegen ihn sei als
durch Rückzug des Strafantrages erledigt abzuschreiben.

    Das Bezirksgericht entsprach diesem Begehren am 4. März 1954.

    Auf Rekurs der Kläger hob das Obergericht des Kantons Zürich
diesen Beschluss am 28. Juni 1954 auf und wies das Bezirksgericht an,
den Ehrverletzungsprozess gegen Dr. Wiget durchzuführen. Die Begründung
lautet dahin, ein Strafantrag könne nur zurückgezogen werden, wenn er
in gültiger Form vorliege. Daran gebreche es. Bei der Berechnung der
Antragsfrist sei der Tag, an dem der Verletzte Kenntnis von Tat und Täter
erhalte, mitzuzählen. Für die Klage gegen Henckel von Donnersmarck sei
die Antragsfrist vom 20. Februar 1953 an gelaufen und am 19. Mai 1953 zu
Ende gegangen. Da die Klage erst am 20. Mai 1953 eingereicht worden sei,
sei der Strafantrag somit verspätet, also nichtig gewesen und habe nicht
mehr zurückgezogen werden können. Eine Rückzugserklärung habe sich auch
nicht auf den Beteiligten Wiget auswirken können. Ihm gegenüber sei der
Strafantrag zu Recht bestehen geblieben.

    C.- Dr. Wiget führt gegen den Entscheid des Obergerichts
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, er sei aufzuheben und die Sache zur
Abschreibung der Ehrverletzungsklage an das Obergericht zurückzuweisen,
unter Kosten- und Entschädigungsfolgen. Er macht geltend, der Entscheid
verletze Art. 29, 30 und 31 StGB.

    D.- Leir und Dr. Schmolka beantragen, die Beschwerde sei unter Kosten-
und Entschädigungsfolgen abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 31 Abs. 3 StGB gilt der Rückzug des Strafantrages
für alle Beschuldigten, auch wenn er nur gegenüber einem von ihnen
erfolgt. Diese Bestimmung zieht die Folge aus der in Art. 30 StGB
festgelegten Unteilbarkeit des Strafantrages. Unter den "Beschuldigten"
versteht sie daher wie Art. 30 alle Personen, die als "an der Tat
Beteiligte" in Betracht kommen. Das sind, wie der Kassationshof schon in
einem nicht veröffentlichten Urteil vom 8. März 1950 i.S. Bühlmann und
Schmid ausgeführt hat, die Mittäter, Anstifter (Art. 24 StGB) und Gehülfen
(Art. 25 StGB). Nicht nötig ist, dass sie alle in das gleiche Verfahren
einbezogen worden seien; das kantonale Prozessrecht kann nicht dadurch,
dass es getrennte Verfolgung anordnet, z.B. weil die Privatstrafklage
gegen den einen Beteiligten später eingereicht wird als gegen die anderen,
die Anwendung des Art. 31 Abs. 3 StGB ausschalten.

    Nach den Vorwürfen, die dem Grafen Henckel von Donnersmarck in der
Klage vom 20. Mai 1953 gemacht wurden, war er hinsichtlich der üblen
Nachrede und der Verleumdung als Mittäter, eventuell Anstifter, und
hinsichtlich der Beschimpfung als Anstifter der angeblich von Dr. Wiget
in der Rechtsschrift vom 5. Februar 1953 begangenen Ehrverletzungen zu
verfolgen. Die ihm vorgeworfenen Ehrverletzungen wurden nicht in Worten
gesehen, die er gegenüber irgendwem, insbesondere gegenüber Dr. Wiget,
hätte fallen lassen, sondern in den in der Rechtsschrift des letztern
enthaltenen Äusserungen. Für diese aber konnte er zum vornherein nur
als Mittäter oder Anstifter verantwortlich gemacht werden. Seine Tat
ist denn auch von den Klägern selber als Anstiftung bezeichnet worden,
hinsichtlich der Beschimpfung überhaupt nur als das und hinsichtlich der
üblen Nachrede und der Verleumdung wenigstens subsidiär.

    Dr. Wiget und Henckel von Donnersmarck sind daher Mitbeschuldigte im
Sinne des Art. 31 Abs. 3 StGB.

Erwägung 2

    2.- Der Vorinstanz ist darin beizupflichten, dass diese Bestimmung
nicht wirksam wäre, wenn der gegen Henckel von Donnersmarck zurückgezogene
"Strafantrag" nichtig gewesen wäre. Das trifft indessen schon deshalb nicht
zu, weil Art. 30 StGB vorschreibt, dass alle Beteiligten zu verfolgen
sind, wenn ein Antragsberechtigter gegen einen an der Tat Beteiligten
Strafantrag stellt. Das heisst, dass es gegen die anderen nicht noch
eines besonderen Antrages bedarf, dass vielmehr die bundesrechtliche
Voraussetzung zur Verfolgung aller Beteiligten schon mit dem Antrag gegen
den einen erfüllt ist. Da, wie das Obergericht voraussetzt und nicht
bestritten ist, der Strafantrag vom 18. Mai 1953 gegen Dr. Wiget binnen
der Frist des Art. 29 Abs. 1 StGB eingegangen war, bedurfte es daher
zur Verfolgung des Grafen Henckel von Donnersmarck keines binnen dieser
Frist zu stellenden Strafantrages im Sinne des Bundesrechts, sondern nur
noch eines den Anforderungen des kantonalen Prozessrechts entsprechenden
Anstosses zur Durchführung des Verfahrens gegen diesen Beteiligten. Dieser
Anstoss, der nach zürcherischem Prozessrecht in Ehrverletzungssachen in
der Form der Privatstrafklage erfolgt, konnte auch noch nach Ablauf der
Frist des Art. 29 Abs. 1 StGB gegeben werden.

    Übrigens war diese Frist für einen Strafantrag gegen Henckel von
Donnersmarck am 20. Mai 1953 noch nicht abgelaufen. Art. 29 Abs. 1 StGB
lässt sie mit dem Tage beginnen, an welchem dem Antragsberechtigten
der Täter und die objektive Tat (vgl. BGE 75 IV 20, 79 IV 59) bekannt
wird. Da das Antragsrecht, obwohl ein anderer mit der Ausübung betraut
werden kann, höchstpersönlicher Natur ist (BGE 73 IV 71), ist unter
dem "Antragsberechtigten" der Verletzte persönlich, nicht auch sein
bevollmächtigter Vertreter zu verstehen, läuft also die Antragsfrist erst,
wenn der Verletzte persönlich die Tat und den Täter kennt, nicht schon,
wenn sein bevollmächtigter Vertreter diese Kenntnis hat. Diese Lösung
ist auch billig; denn der Verletzte persönlich, nicht sein Vertreter,
hat abzuwägen, ob die Verletzung schwer genug sei, um den Strafantrag zu
rechtfertigen. Die Antragsfrist für Leir und Dr. Schmolka konnte daher
nicht schon mit der am 20. Februar 1953 erfolgten Zustellung der die
angebliche Ehrverletzung enthaltenden Rechtsschrift an Dr. Hoffmann zu
laufen beginnen, sondern erst, als die Beschwerdegegner von deren Inhalt
Kenntnis erhielten. Das kann nicht schon am 20. Februar 1953 geschehen
sein, da die Beschwerdegegner in New York niedergelassen sind und nicht
behaupten, damals in der Schweiz geweilt zu haben. Übrigens steht auch
nicht fest, dass Dr. Hoffmann Bevollmächtigter des Dr. Schmolka gewesen
sei.

Erwägung 3

    3.- Man kann sich fragen, ob in den auf Privatstrafklage verfolgten
Fällen der Rückzug der Klage gegen den einen Beklagten dann die
Weiterverfolgung der anderen nicht von Bundesrechts wegen (Art. 31
Abs. 3 StGB) ausschliesst, wenn ernsthafte Anhaltspunkte bestehen, dass
der Beklagte, gegen den die Klage zurückgezogen wird, in Wirklichkeit
am eingeklagten Vergehen nicht beteiligt war, und wenn der Kläger den
Rückzug mit dieser Erkenntnis begründet. Denn es erscheint als stossend,
dass der Kläger, nur um das Recht zur Weiterverfolgung der anderen
nicht zu verlieren, sollte genötigt sein, das Privatstrafklageverfahren
gegen jemanden fortzusetzen, den er selbst mit guten Gründen für
unschuldig hält. Im vorliegenden Falle kommt indessen darauf nichts
an. Die Beschwerdegegner haben den Rückzug der Klage gegen Henckel von
Donnersmarck nicht damit begründet, dieser scheine ihnen nun an den
von Dr. Wiget begangenen Ehrverletzungen doch nicht beteiligt gewesen
zu sein. Nach der verbindlichen Feststellung der Vorinstanz zogen sie
diese Klage vielmehr mit dem Hinweis zurück, es sei bereits Klage gegen
Dr. Wiget erhoben und ausserdem eine Zivilklage gegen die Henckel von
Donnersmark Beuthen Estates Ltd. bei den Gerichten in London hängig. Der
Rückzug des Strafantrages kommt daher gemäss Art. 31 Abs. 3 StGB auch
dem Beschwerdeführer zugute. Das Obergericht hat in diesem Sinne zu
entscheiden.

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil der I.
Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich vom 28. Juni 1954
aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz
zurückgewiesen.