Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 80 IV 196



80 IV 196

40. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 21. September 1954
i.S. Bär gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau. Regeste

    Art. 27 MFG. Der Vortritt steht dem Berechtigten auf der ganzen
Schnittfläche der sich kreuzenden oder vereinigenden Strassen zu.
Bedeutung des vorschriftswidrigen Linksfahrens des Vortrittsberechtigten
für den subjektiven Tatbestand der Nichtbelassung des Vortrittes.

Sachverhalt

    A.- Walter Bär führte am 1. Dezember 1952 um 06.52 Uhr bei leichtem
Regen und Dunkelheit auf der Strasse Menziken-Aarau einen Personenwagen
von Süden (Menziken) her durch das Ortsinnere von Reinach. Als er
in einer leichten Linksbiegung sich der von Nordosten spitzwinklig
einmündenden Bahnhofstrasse näherte, die sich vor dem Zusammentreffen
mit der Aarauerstrasse gegen Menziken hin stark ausweitet, bemerkte er
den auf der Bahnhofstrasse kommenden neunundsechzigjährigen Radfahrer
Rudolf Haller, der, in der Einmündung stark links fahrend, bestrebt war,
Richtung Menziken in die Aarauerstrasse einzubiegen. Obschon Bär den
Radfahrer früh genug sah, um ihm unter Verzögerung der Fahrt den Vortritt
lassen zu können, setzte er die Geschwindigkeit des Motorwagens, die 40-45
km/Std. erreichte, nicht herab. Er fuhr gegen links, in der Absicht, vor
dem Radfahrer durchzukommen. Haller, noch immer im Einmündungstrichter der
Bahnhofstrasse, schwenkte jedoch nach rechts, um vor dem Auto hindurch die
Aarauerstrasse zu überqueren. Als Bär das sah, bremste er kräftig. Dennoch
stiess er auf der linken Seite der Aarauerstrasse mit Haller zusammen
und verletzte ihn so schwer, dass er am 12. Dezember 1952 starb.

    B.- Am 5. März 1954 erklärte das Obergericht des Kantons Aargau Bär
der fahrlässigen Tötung schuldig und verurteilte ihn unter Ansetzung einer
zweijährigen Probezeit zu einer bedingt löschbaren Busse von Fr. 120.--. Es
warf ihm vor, er habe die ihn nach Art. 27, 26 Abs. 1 und 25 Abs. 1 MFG
treffenden Pflichten verletzt.

    C.- Bär führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil
sei aufzuheben und die Sache zur Freisprechung an das Obergericht
zurückzuweisen. Er macht geltend, die Stelle, an der Haller nach rechts
geschwenkt sei, um sein Vortrittsrecht auszuüben, könne nicht zur
Strasseneinmündung gerechnet werden; denn die sich aus der Abrundung
der aufeinandertreffenden Strassenränder ergebende trichterartige
Ausweitung der Strasse gehöre nicht zur Einmündung. Die Stelle,
von der aus der Radfahrer den Vortritt habe ausüben wollen, liege am
äussersten Ende der Ausweitung und müsse daher bereits zum Gebiete der
Aarauerstrasse gezählt werden. Sie sei zudem 20 m von der Stelle entfernt,
an der Haller nach Gesetz den Vortritt hätte nehmen sollen. Wo er die
Aarauerstrasse überquerte, habe er kein Vortrittsrecht mehr gehabt. Er
habe sich bereits auf dieser Strasse fortbewegt gehabt, als er sich
zur Überquerung angeschickt habe. Nichts habe vorher darauf schliessen
lassen, dass er sich auf die rechte Strassenseite begeben wolle. Das
Linksausweichen des Beschwerdeführers sei die den Umständen angepasste
Reaktion gewesen. Durch dieses Vorgehen habe der Beschwerdeführer einen
Unfall verhüten wollen. Um dem Radfahrer genügend Platz zum Kreuzen zu
lassen, sei er immer weiter nach links gefahren. Er habe nicht voraussehen
können, dass Haller plötzlich nach rechts in seine Fahrbahn abbiegen
werde. Man könne dem Beschwerdeführer auch keinen Vorwurf daraus machen,
dass er nicht gebremst habe. Er habe angesichts der Lage nicht mit der
Gefahr eines Zusammenstosses rechnen müssen, da der Radfahrer durch das
Erscheinen des Motorwagens, den er auf grössere Entfernung gesehen haben
müsse, nicht habe überrascht werden können.

    D.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau beantragt, die Beschwerde
sei abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 27 Abs. 1 MFG, der auch für Radfahrer gilt (Art. 30
MFG), hatte Haller, weil er von rechts kam, das Vortrittsrecht. Der
Beschwerdeführer will das nicht gelten lassen, weil Haller die Biegung
kurz genommen habe und schon auf der Aarauerstrasse gefahren sei,
als er durch Abbiegen nach rechts sich angeschickt habe, diese vor dem
Personenwagen hindurch zu überqueren. Diese Auffassung widerspricht
dem verbindlich festgestellten Sachverhalt. Das Obergericht geht davon
aus, dass die Feststellungen des Bezirksgerichts zutreffen. Dieses aber
hat den von Haller eingeschlagenen Weg in einer bei den Akten liegenden
Planskizze festgehalten. Aus ihr ergibt sich, dass der Radfahrer, wenn auch
erheblich links in der trichterförmigen Ausweitung der Bahnhofstrasse,
so doch deutlich vor Erreichung der Fahrbahn der Aarauerstrasse, wie
sie aus der Verlängerung ihrer Randlinie über die Einmündung hinaus
zu erkennen ist, die Schwenkung nach rechts vollzogen hat. Es liegt
daher objektiv nicht ein Fall begonnenen Linksausweichens zweier auf
der gleichen Strasse sich bewegender Fahrzeuge vor, sondern ein Fall
gleichzeitigen Eintreffens an einer Strasseneinmündung. Dass Haller,
wenn er entsprechend der Vorschrift des Art. 26 MFG rechts gefahren
wäre, die Fahrbahn des Beschwerdeführers weiter nördlich überquert
hätte, ändert nichts. Art. 27 Abs. 1 MFG schreibt dem Führer vor, "bei"
Strassengabelungen und -kreuzungen dem von rechts Kommenden den Vortritt
zu lassen, beschränkt also objektiv das Vortrittsrecht des letztern
nicht auf bestimmte Stellen des Einmündungsgebietes. Zu diesem gehört
entgegen BGE 66 I 122 die ganze Schnittfläche der beiden Strassen, wie
sie sich aus ihrer trichterförmigen Ausweitung ergibt; denn auf dieser
Fläche können von der einen wie von der anderen Strasse aus gleichzeitig
Fahrzeuge eintreffen. Es entstände eine erhebliche Unsicherheit darüber,
wer vortrittsberechtigt sei, wenn trotz gleichzeitigen Eintreffens zweier
Fahrzeuge das Vortrittsrecht davon abhinge, ob das eine etwas mehr rechts
oder etwas mehr links fährt. Wer sich der Einmündung nähert, kann oft
auch gar nicht schon von weitem erkennen, ob der andere in der Einmündung
korrekt rechts fahren wird. Vollends verwirrlich wäre die Lage, wenn,
wie im vorliegenden Falle, nicht nur das eine, sondern auch das andere
Fahrzeug zu stark links fährt. Es ist nicht zu ersehen, aus welchem Grunde
der eine Führer unter Berufung auf die unkorrekte Fahrweise des andern
von Art. 27 MFG sollte abweichen dürfen obschon er selber auch unrichtig
gefahren ist. Unfälle können am ehesten vermieden werden, wenn jeder der
gleichzeitig an der Einmündung oder Kreuzung Eintreffenden sich streng
an diese Bestimmung hält, auch wenn der andere zu stark links fährt oder
irgend einen anderen Fehler begeht. Das Gebot des Rechtsfahrens (Art. 26
Abs. 1 und 2 MFG) wurde denn auch bloss erlassen, um zu verhüten, dass
Fahrzeuge einander gefährden, deren Wege in entgegengesetzter oder gleicher
Richtung verlaufen, also parallel liegen; das ist nicht eine Regel für
das gegenseitige Verhalten von Fahrzeugen, deren Wege an einer Kreuzung
oder Einmündung notwendigerweise sich überschneiden oder vereinigen.

    Obschon Haller die Biegung zu eng genommen hat, bleibt es somit dabei,
dass objektiv der Beschwerdeführer das Vortrittsrecht des Radfahrers
missachtet hat.

Erwägung 2

    2.- Vom objektiven Verstoss gegen Art. 27 MFG ist die Frage
zu unterscheiden, ob er vom Täter verschuldet sei. Unter diesem
Gesichtspunkt ist denkbar, dass vorschriftswidriges Linksfahren des
Vortrittsberechtigten den andern entlaste, nämlich wenn dieser die
unrichtige Fahrweise des Vortrittsberechtigten nicht voraussehen konnte
und nur dadurch zur Verletzung des Vortrittsrechts bestimmt wurde. So wird
an unübersichtlichen Kreuzungen oder Einmündungen in der Regel jeder sich
soweit hinter dem die Sicht beeinträchtigenden Objekt hervorwagen dürfen,
als es ohne Gefährdung eines korrekt rechts fahrenden Vortrittsberechtigten
möglich ist. Zugunsten des Beschwerdeführers lässt sich jedoch daraus
nichts ableiten. Der Beschwerdeführer hat den Radfahrer von weitem
gesehen und erkennen können, dass er die Biegung eng nahm. Er konnte
deshalb rechtzeitig voraussehen, dass die Wege der beiden Fahrzeuge
sich weiter südlich schneiden würden, als es bei vorschriftsgemässer
Fahrweise Hallers der Fall gewesen wäre. Er behauptet denn auch nicht,
dass er dem Radfahrer den Vortritt nicht hätte lassen können, wenn er,
der Beschwerdeführer verlangsamt hätte und rechts geblieben wäre, als er
den andern erblickte. Statt das zu tun, ist der Beschwerdeführer durch
Linksfahren und Beibehalten der Geschwindigkeit darauf ausgegangen, einen
ihm nicht zustehenden Vortritt zu erzwingen. Das war disziplinlos. Der
Beschwerdeführer durfte nicht voraussetzen, dass der Radfahrer auf
das Vortrittsrecht verzichten werde. Auch der Umstand, dass Haller
plötzlich rechts schwenkte, entschuldigt den Beschwerdeführer nicht. Schon
bevor es zu dieser Schwenkung kam, hätte der Beschwerdeführer die Fahrt
verlangsamen sollen, um dem Radfahrer den Vortritt zu lassen. Dann hätte
die Schwenkung, wenn sie überhaupt stattgefunden hätte, nicht zu einem
Zusammenstoss geführt.

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof.

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.