Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 80 IV 181



80 IV 181

37. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 17. September 1954
i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau gegen Schneider. Regeste

    Art. 238 StGB setzt keine konkrete Gemeingefahr voraus.

Sachverhalt

    Schneider hatte am 30. September 1952 etwas nach 00.30 Uhr, als er
die letzte Dienstfahrt beendet hatte, die von ihm geführte Lokomotive
in Koblenz im Schuppen einzustellen. Da er dieses Manöver mit leicht
übersetzter Geschwindigkeit von 20 km/Std. ausführte, gelang es ihm nicht,
auf den nassen und teilweise mit Oel verschmierten Schienen die Maschine im
Schuppen rechtzeitig anzuhalten. Sie fuhr an den aus Bruchsteinmauerwerk
bestehenden Prellbock, zerstörte ihn und schob ihn durch die Wand des
Schuppens hindurch in ein Zimmer, in dem Lokomotivführer Toggweiler in
einem Bette schlief. Dieses wurde an die gegenüberliegende Wand geschoben
und Toggweiler durch herabfallendes Mauerwerk verletzt. Der Sachschaden
belief sich auf etwa Fr. 6500.--.

    Das Obergericht des Kantons Aargau sprach Schneider von der Anklage
der fahrlässigen Störung eines der Allgemeinheit dienenden Betriebes,
eventuell der fahrlässigen Störung des Eisenbahnverkehrs, frei.

    Hiegegen führte die Staatsanwaltschaft Nichtigkeitsbeschwerde. Die
Auffassung, Art. 239 StGB sei in erster Linie anzuwenden, begründete sie
damit, Art. 238 StGB setze eine konkrete Gemeingefahr voraus und eine
solche sei hier nicht eingetreten.

    Der Kassationshof hob das Urteil auf und wies die Sache zur Bestrafung
wegen fahrlässiger Störung des Eisenbahnverkehrs zurück.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

    Entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft und des von ihr
angerufenen Autors (ISCHER, ZStrR 60 102 ff.) setzt Art. 238 Abs. 2
StGB nicht voraus, dass der Täter eine konkrete Gemeingefahr geschaffen,
d.h. eine Mehrzahl von Personen der nahen Möglichkeit ausgesetzt habe,
getötet oder verletzt oder am Eigentum geschädigt zu werden. Die Bestimmung
spricht nur deshalb von Leib und Leben "von Menschen" statt von Leib und
Leben "eines Menschen", weil die Tat sich nicht gegen eine ganz bestimmte
vom Täter ins Auge gefasste Person richtet, sondern irgendwer aus dem
Kreise der Reisenden oder des Bahnpersonals durch sie gefährdet oder
verletzt werden kann, es also lediglich vom Zufall abhängt, wer das konkret
gefährdete oder verletzte Opfer ist. Die Gefährdung von Leib oder Leben ist
übrigens nur der eine Fall. Zur Anwendung der Bestimmung genügt auch die
erhebliche Gefährdung fremden Eigentums. Dass aber das Eigentum mehrerer
Personen erheblich gefährdet werden müsse, lässt sich dem deutschen Text
unmöglich entnehmen, und wenn der französische Wortlaut, auf den der
erwähnte Autor sich beruft, von "propriété d'autrui" spricht, ist auch das
darauf zurückzuführen, dass die Tat sich nicht im Angriff auf das Eigentum
einer ganz bestimmten Person, z.B. der Bahngesellschaft, zu erschöpfen
braucht, sondern das Eigentum irgendeiner am Eisenbahnverkehr teilnehmenden
Person treffen kann. Es fehlt denn auch jeder vernünftige Grund, der es
hätte rechtfertigen können, Art. 238 Abs. 2 nicht anzuwenden, wenn z.B. nur
das Eigentum der Bahngesellschaft konkret gefährdet worden ist, mag das in
noch so grossem Ausmasse geschehen sein, wohl aber dann, wenn ausserdem
Sachen einer zweiten Person, wenn auch nur solche von geringem Wert,
mitgefährdet worden sind. Zu einem anderen Schlusse führt auch nicht die
Stellung des Art. 238 im Titel über die Verbrechen und Vergehen gegen den
öffentlichen Verkehr, dem die Titel über die gemeingefährlichen Verbrechen
und Vergehen (Art. 221 ff.) und über die Verbrechen und Vergehen gegen die
öffentliche Gesundheit (Art. 231 ff.) vorausgehen. Gewiss schützen die
Art. 237 ff. gleich wie die vorausgehenden beiden Titel die Allgemeinheit,
nicht wie z.B. Art. 111 ff. den einzelnen. Diese Systematik des Gesetzes
rechtfertigt sich aber schon, weil die Verbrechen und Vergehen gegen den
öffentlichen Verkehr irgendwen in Gefahr bringen können, d.h. abstrakt
eine allgemeine Gefahr in sich bergen. Daraus darf nicht geschlossen
werden, dass eine konkrete Gemeingefahr Tatbestandsmerkmal sei. Der
Kassationshof hat denn auch in ständiger Rechtsprechung abgelehnt,
eine konkrete Gemeingefahr als Tatbestandsmerkmal des im gleichen Titel
stehenden Art. 237 anzuerkennen, obschon auch in dieser Bestimmung von
Gefährdung von Leib und Leben "von Menschen", nicht "eines Menschen"
die Rede ist (BGE 76 IV 124 und spätere nicht veröffentlichte Urteile).

    Der Beschwerdegegner hat Leib und Leben eines Menschen erheblich
gefährdet; denn Toggweiler war der konkreten Gefahr ausgesetzt, getötet
zu werden. Übrigens ist in erheblichem Umfange (vgl. BGE 72 IV 27, 69)
auch fremdes Eigentum gefährdet, ja sogar verletzt worden.