Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 80 IV 147



80 IV 147

30. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 2. September 1954
i.S. Hodel gegen Jugendanwaltschaft des Kantons Luzern. Regeste

    1.  Art. 268 Abs. 2 BStP. Zulässigkeit der Nichtigkeitsbeschwerde.

    2.  Art. 91 Ziff. 2 Abs. 1, Art. 93 Abs. 1 StGB. Unter welchen
Voraussetzungen kann die Erziehung eines Jugendlichen in einer Familie
durch Erziehung in einer Anstalt ersetzt werden?

Sachverhalt

    A.- Charles Hodel, geb. 1937, stahl am 6. Oktober 1953 ein Fahrrad. Das
Kantonale Jugendgericht Luzern erklärte ihn daher am 3. Februar 1954
des Diebstahls schuldig und wies ihn im Sinne des Art. 91 Ziff. 2 StGB
zur Nacherziehung in eine vertrauenswürdige Fremdfamilie ein.

    B.- Am 30. Juni 1954 erkannte das gleiche Gericht, Charles Hodel
werde in Abänderung des Urteils vom 3. Februar 1954 im Sinne von Art. 91
Ziff. 1 StGB in eine Erziehungsanstalt eingewiesen.

    Zur Begründung führte es im wesentlichen aus, die Eltern des
Jugendlichen, namentlich die Mutter, hätten dem Vollzug des Urteils
eigensinnig und uneinsichtig Widerstand geleistet, obschon sie vom
Jugendanwalt und vom Vorsteher des Justizdepartmentes mehrmals mündlich und
schriftlich aufgeklärt und verwarnt worden seien. Es erweise sich somit als
unmöglich, das Urteil vom 3. Februar 1954 zu vollziehen. Das uneinsichtige
und querulantische Verhalten namentlich der Mutter beweise, dass der
Junge einer konsequenten und verständigenNacherziehung in einer Umgebung
bedürfe, in der die einsichtslosen Eltern keinen schädigenden Einfluss
ausüben könnten. Wer sich in solcher Weise gegen den Vollzug begründeter
Verfügungen der Behörden zur Wehr setze und nicht einsehen wolle, dass das
Delikt des Sohnes einer negativen Charakterentwicklung entsprungen sei,
für die die Eltern als Erzieher einen Teil der Verantwortung zu tragen
hätten, zeige die Bereitschaft, das dringliche Werk der Nacherziehung des
sittlich gefährdeten Jungen in einer Fremdfamilie erheblich zu bedrohen.

    C.- Josef und Martha Hodel-Raddatz, die Eltern des Charles Hodel,
führen Nichtigkeitsbeschwerde gegen den Entscheid vom 30. Juni 1954 mit
dem Antrag, er sei aufzuheben und das Urteil vom 3. Februar 1954 wieder
in Kraft zu setzen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Erkenntnisse über Massnahmen gegen Jugendliche sind Urteile im
Sinne des Art. 268 Abs. 2 BStP (BGE 68 IV 159). Das gleiche trifft zu
für Erkenntnisse, die gemäss Art. 93 Abs. 1 StGB eine solche Massnahme
durch eine andere ersetzen (vgl. BGE 70 IV 115).

Erwägung 2

    2.- Gemäss Art. 93 Abs. 1 StGB kann die zuständige Behörde jederzeit
die gegen einen Jugendlichen getroffene Massnahme durch eine der andern
Massnahmen ersetzen. Voraussetzungen der Änderung nennt die Bestimmung
keine. Die Behörde ist daher nur an die gesetzlichen Voraussetzungen
gebunden, unter denen die neue Massnahme überhaupt zulässig ist,
für den Fall der Einweisung in eine Erziehungsanstalt also z.B. an das
Erfordernis der sittlichen Verwahrlosung, Verdorbenheit oder Gefährdung des
Jugendlichen; im übrigen entscheidet sie nach ihrem Ermessen. Die Änderung
darf somit nicht nur verfügt werden, wenn die Massnahme teilweise vollzogen
worden ist und sich als ungeeignet erwiesen hat, oder wenn die Person des
Jugendlichen, z.B. eine neue oder nachträglich bekannt gewordene Tatsache
aus seinem Vorleben, die Abweichung vom ausgefällten Urteil nahe legt;
auch andere Umstände, die befürchten lassen, dass die verhängte Massnahme
ihren Zweck verfehlen würde, können die Änderung rechtfertigen.

    Etwas anderes gilt auch nicht, wenn die Behörde angeordnet hatte,
der Jugendliche sei gemäss Art. 91 Ziff. 2 StGB einer vertrauenswürdigen
Familie zur Erziehung zu übergeben, und nunmehr findet, die Erziehung in
einer Anstalt sei die geeignetere Massnahme. Übergang von Familienerziehung
zu Anstaltsversorgung ist in dieser Bestimmung ausdrücklich vorgesehen für
den Fall, dass sich jene nicht bewährt (Abs. 1 Satz 2). Das bedeutet aber
nicht, dass die Behörde nicht nach Ermessen gestützt auf Art. 93 Abs. 1
auch in anderen Fällen den Jugendlichen in eine Anstalt einweisen dürfe,
statt den Versuch der Erziehung in einer Familie zu unternehmen oder
fortzusetzen. Solche Einengung ihrer Entscheidungsfreiheit widerspräche
der Stellung, die die Anstaltserziehung im System der Massnahmen
gegen Jugendliche einnimmt. Das Gesetz nennt die Einweisung in eine
Erziehungsanstalt an erster Stelle, lässt sie keineswegs der Erziehung in
einer Familie nachgehen, etwa in dem Sinne, dass jene nur zulässig wäre,
wenn diese versagt. Liegt die Wahl der einen oder andern Massnahme von
Anfang an im Ermessen der Behörde, so ist kein Grund dafür zu finden,
weshalb die Erziehung in einer Anstalt nur noch unter der besonderen
Voraussetzung der Nichtbewährung des Jugendlichen in einer Familie
zulässig sein sollte, wenn einmal die Übergabe an eine solche verfügt
worden ist. Art. 91 Ziff. 2 Abs. 1 Satz 2 ist nicht Sondervorschrift,
die die Anwendung des Art. 93 Abs. 1 ausschlösse, sondern verdeutlicht
bloss, dass mit dem Fehlschlagen der Familienerziehung die Sache nicht
erledigt ist, die Behörde vielmehr den Versuch der Erziehung in einer
Anstalt zu unternehmen hat. Dass erstere Bestimmung die letztere nicht
ausschaltet, ergibt sich auch daraus, dass sonst der Übergang zu einer
besonderen Behandlung im Sinne des Art. 92 ebenfalls ausgeschlossen wäre,
wenn die Übergabe an eine Familie verfügt worden ist; diese Beschränkung
wäre offensichtlich unvernünftig.

Erwägung 3

    3.- Lag somit die Einweisung des Charles Hodel in eine
Erziehungsanstalt im Ermessen des Jugendgerichtes, obwohl die
angeordnete Erziehung in einer fremden Familie noch nicht begonnen
hatte, so ist die Beschwerde unbegründet. Das Jugendgericht hat das
Ermessen nicht überschritten. Es ist nicht offenbar unvernünftig, aus
dem widerspenstigen und von Einsichtslosigkeit zeugenden Verhalten der
Eltern zu schliessen, dass diese der Nacherziehung ihres Sohnes in einer
anderen Familie Hindernisse in den Weg legen könnten, die den Erfolg
der Massnahme gefährden würden, und daher Anstaltserziehung anzuordnen,
um den Jugendlichen dem ungünstigen Einflusse seiner Eltern wirksamer
zu entziehen.

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.