Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 80 IV 125



80 IV 125

24. Urteil des Kassationshofes vom 8. Juli 1954 i. S. Strub gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau. Regeste

    Art. 14 Abs. 1 MFG. Auch der Lernende ist Führer und für Übertretung
der Verkehrsregeln des MFG strafbar, wenn er sie vorsätzlich oder im
Rahmen seiner Fähigkeiten fahrlässig begeht (Anderung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Cecilie Strub besass einen am 20. Oktober 1952 ausgestellten und
bis 24. Oktober 1953 verlängerten Lernfahrausweis für Motorräder ohne
Seitenwagen. Am 3. Mai 1953 führte sie den Motorroller ihres Ehemannes
von Aarau über Buchs gegen ihren Wohnort Zürich. Auf dem hinteren Sitz
fuhr ihr Ehemann mit, der einen Führerausweis besass. Vor der Einmündung
in die Hauptstrasse Bern-Zürich vor Hunzenschwil hielt Frau Strub an, um
anderen Fahrzeugen den Vortritt zu lassen. Sie setzte indessen das Motorrad
wieder in Bewegung, bevor auch der von links kommende Personenwagen des
Werner Bircher durchgefahren war. Sie stiess mit ihm zusammen.

    B.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau stellte das Verfahren
gegen Werner Bircher ein, weil ihm ein verkehrswidriges Verhalten nicht
zur Last gelegt werden könne. Gegen Cecilie Strub erhob sie Anklage wegen
Verletzung des Art. 25 Abs. 1 MFG (ungenügende Beobachtung nach links)
und Art. 27 Abs. 2 (Missachtung des Vortrittsrechtes).

    Das Bezirksgericht Aarau sprach Frau Strub im Sinne der Anklage
schuldig und verurteilte sie zu einer bedingt löschbaren Busse von
Fr. 40.-. Es führte aus, dass nach BGE 65 I 195 die Verantwortlichkeit
für Verstösse gegen das Motorfahrzeuggesetz grundsätzlich den
Ehemann träfe. Als sich der Zusammenstoss ereignet habe, sei aber die
Fahrausbildung der Angeklagten praktisch beendet gewesen. Sie besitze
den Lernfahrausweis schon seit 20. Oktober 1952 und sei z.B. schon nach
Klosters und zurück gefahren. Der Ehemann sei daher berechtigt gewesen,
ihr Selbständigkeit in der Führung des Motorrades einzuräumen. Wenn
die Angeklagte im Umfange dessen, was ihr anvertraut gewesen sei,
die Fahrordnung gestört habe, so sei deshalb sie dafür strafrechtlich
verantwortlich.

    Das Obergericht des Kantons Aargau wies am 1. Februar 1954 die
Beschwerde ab, die Cecilie Strub gegen dieses Urteil führte. Es schloss
sich der Auffassung des Bezirksgerichtes an, dass die Beschwerdeführerin
unter den gegebenen Umständen selber strafrechtlich verantwortlich sei.

    C.- Cecilie Strub führt gegen das Urteil des Obergerichts
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag auf Freisprechung. Sie macht geltend,
dass sie als Fahrschülerin gemäss Art. 14 Abs. 1 MFG für Übertretungen
des Motorfahrzeuggesetzes strafrechtlich nicht verantwortlich sei.

    D.- Die Staatsanwaltschaft beantragt, die Nichtigkeitsbeschwerde
sei abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Wer ein Motorfahrzeug führen lernt, muss gemäss Art. 14 Abs. 1 MFG
"von einer Person begleitet sein, die den Führerausweis besitzt und damit
die Verantwortlichkeit als Führer trägt". Daraus hat der Kassationshof
geschlossen, dass die im Motorfahrzeuggesetz dem Führer angedrohten Strafen
gegen die - schuldhaft handelnde (vgl. BGE 64 I 360) - Begleitperson, nicht
auch gegen den Fahrschüler, anzuwenden seien. Anfänglich hat er freilich
offen gelassen, ob es nicht doch Fälle gebe, in denen auch letzterer
zu bestrafen sei, wenn ihn ein Verschulden trifft (BGE 63 I 255). Diese
Frage ist jedoch in der Folge verneint worden (BGE 65 I 196). Lediglich
die Anwendung des gemeinen, früher kantonalen, jetzt eidgenössischen
Strafrechts (z.B. der Bestimmungen über fahrlässige Tötung oder Störung
des öffentlichen Verkehrs) wurde stets auch als gegenüber dem Fahrschüler
zulässig erklärt (BGE 63 I 255, 65 I 196, 73 IV 183).

    An jener Rechtsprechung kann nicht festgehalten werden. Indem
Art. 14 Abs. 1 MFG die "Verantwortlichkeit als Führer" der Begleitperson
überbindet, will er lediglich sagen, diese trage wie ein Führer die
Verantwortung für die Fahrt, nicht auch, der Schüler befinde sich nicht in
der Stellung eines Führers. Denn damit würde das Gesetz dem Schüler nicht
nur die Tätereigenschaft absprechen, die Voraussetzung der Strafbarkeit
nach Art. 58 ff. MFG ist, sondern ihn überhaupt davon entbinden, die
Verkehrsvorschriften zu befolgen, die sich nach Wortlaut oder Sinn an
den Führer wenden, z.B. Art. 18 Abs. 1 MFG, wonach "der Führer eines
Motorfahrzeuges" die Weisungen und Anordnungen der Verkehrspolizei zu
befolgen hat, oder Art. 26 Abs. 1, der dem "Führer" gebietet, rechts zu
fahren, nach rechts auszuweichen und links zu überholen. Dass das nicht der
Sinn des Gesetzes sein kann, liegt auf der Hand. Durch den Fahrunterricht
soll dem Schüler das gesetzmässige Verhalten im Verkehr beigebracht werden.
Daher hat er im Rahmen seiner Fähigkeiten die gesetzlichen Vorschriften von
Anfang an zu befolgen, und zwar nicht nur mittelbar, indem er den Weisungen
einer an die Verkehrsvorschriften gebundenen Begleitperson nachlebt,
sondern unmittelbar, indem er gemäss eigenen Kenntnissen und eigenem
Pflichtgefühl so fährt, wie das Gesetz es vom Führer verlangt. Die Stellung
als solcher kommt ihm übrigens auch nach allgemeinem Sprachgebrauch
zu, der als Führer jene Person bezeichnet, die, am Steuer sitzend,
die Maschine bedient, sie in Bewegung setzt und lenkt. Dass er keinen
Führerausweis besitzt, ändert nichts, ist doch nach der Rechtsprechung
jeder als Führer zu betrachten, der tatsächlich einen Akt der Führung auf
eigene Verantwortung vornimmt (BGE 60 I 163). Hätte der Gesetzgeber den
Fahrschüler zwar an die Verkehrsregeln des Motorfahrzeuggesetzes binden,
ihn aber von Strafe für deren Übertretung befreien wollen, so hätte er
das nicht im zweiten, sondern in dem die Strafbestimmungen enthaltenden
vierten Titel des Gesetzes tun müssen.

    Es fehlt auch ein innerer Grund, der diese Lösung zu rechtfertigen
vermöchte. Hat sich der Fahrschüler, wie die Beschwerdeführerin mit Recht
nicht zu widerlegen versucht, für pflichtwidriges Verhalten am Steuer nach
gemeinem Strafrecht zu verantworten, so ist nicht zu ersehen, weshalb er
für seinen Fehler, bloss weil der gemeinrechtliche Erfolg nicht eingetreten
ist, strafrechtlich nicht wie jeder andere Führer nach Motorfahrzeuggesetz
sollte einstehen müssen. Trete der Erfolg ein oder nicht, ist ja die
begangene Pflichtwidrigkeit die gleiche; sie besteht in der Regel in der
Missachtung einer Verkehrsvorschrift. In der Literatur (LEUCH, SZStrR 52
276), auf die sich die Beschwerdeführerin beruft, ist angenommen worden,
der Gesetzgeber habe Polizei und Richter der heiklen Aufgabe entheben
wollen, im einzelnen Falle zu untersuchen, ob die erreichte Fahrtüchtigkeit
dem Schüler erlaubt habe, die Weisungen der Begleitperson zu befolgen.
Da den Behörden diese Untersuchung bei Verfolgung der Vergehen des gemeinen
Strafrechts obliegt, kann ihnen jedoch ohne weiteres zugemutet werden,
auch die Fälle blosser Übertretungen der Verkehrsvorschriften daraufhin
zu überprüfen, ob der Schüler nach dem Stande seiner Ausbildung die Tat
verschuldet habe. Es wäre auch nicht zu verstehen, weshalb in Fällen,
in denen die Übertretung nicht auf Ungenügen der technischen Ausbildung,
sondern nur auf Unkenntnis oder bewusste Missachtung der gesetzlichen
Vorschriften oder auf gewollte Nichtbefolgung von Weisungen des Fahrlehrers
zurückzuführen ist, der Schüler nicht wie jeder andere Führer, der
sich über die Bestimmungen des Gesetzes hinwegsetzt, bestraft werden
sollte. Dass dem öffentlichen Interesse genügt sei, wenn die Begleitperson
die strafrechtliche Verantwortung für die Einhaltung der Verkehrsregeln
trage, ist nicht richtig. Ein geordneter Verkehr wäre nicht gewährleistet,
wenn auch der zur Befolgung einer bestimmten Verkehrsvorschrift genügend
ausgebildete Fahrschüler sie straffrei übertreten dürfte; denn auch der
gewissenhaften Begleitperson gelingt es nicht immer, die Übertretung zu
verhindern, insbesondere dann nicht, wenn sich der Schüler ihren Weisungen
bewusst und gewollt widersetzt, oder wenn die Lernfahrt mit einem Motorrad
gemacht wird.

    Die mit den Vorarbeiten zu einem neuen Strassenverkehrsgesetz betraute
Expertenkommission bekennt sich laut Redaktionsentwurf vom Jahre 1954, Art.
16 Ziff. 2 lit. b, ebenfalls dazu, dass der Fahrschüler auf beaufsichtigter
Lernfahrt mitverantwortlich sei, soweit er eine Widerhandlung nach dem
Stande seiner Ausbildung hätte vermeiden können. Das ist die sachlich
richtige Lösung. Sie schon heute anzuwenden, widerspricht nicht dem
Grundsatz "keine Strafe ohne Gesetz" (Art. 1 StGB), wenn, wie dargetan,
auch der Fahrschüler im Rahmen der ihm durch Art. 14 Abs. 1 MFG belassenen
Verantwortung "Führer" im Sinne der Art. 58 ff. und 17 ff. MFG ist.

Erwägung 2

    2.- Die Beschwerdeführerin bestreitet das ihr von den Vorinstanzen zur
Last gelegte Verschulden nicht. Da nach den verbindlichen Feststellungen
des Obergerichts ihre Fahrausbildung praktisch beendet war und sie schon
grössere Strecken durchfahren hatte, handelte sie in der Tat pflichtwidrig,
so unbekümmert um das Vortrittsrecht Birchers das Motorrad wieder in
Gang zu setzen und in die Hauptstrasse einzufahren. Fragen könnte man
sich höchstens, ob nicht der Ehemann durch rechtzeitige Warnung die
Tat hätte verhindern können und er sich dadurch, dass er es nicht tat,
strafbar gemacht habe. Selbst wenn diese Frage zu bejahen wäre, bliebe
es indessen dabei, dass die Beschwerdeführerin die ihrer Ausbildung
entsprechende Sorgfaltspflicht verletzt hat und dafür mit Recht bestraft
worden ist. Da durch die Tat der öffentliche Verkehr gestört worden ist,
hätte übrigens Art. 237 Ziff. 2 StGB angewendet werden sollen. Wäre das
geschehen, so müsste es schon nach der bisherigen Rechtsprechung bei der
Verurteilung sein Bewenden haben.

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.