Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 80 IV 102



80 IV 102

19. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 2. Juli 1954
i. S. Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt gegen Piquerez. Regeste

    Art. 134 Ziff. 1 Abs. 1 StGB.

    a)   Wann ist die Gesundheit oder geistige Entwicklung des Kindes
schwer gefährdet? (Erw. 1 Abs. 2, Erw. 2 Abs. 2).

    b)  Wann ist die Gesundheit des Kindes geschädigt? (Erw. 1 Abs. 3-5,
Erw. 2 Abs. 1).

    c)  Wann ist die geistige Entwicklung des Kindes geschädigt? (Erw. 1
Abs. 6, Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Am 1. Juli 1952 verlor der vierjährige Bernard Piquerez in Basel
auf einem Botengang den Geldbeutel mit einem Franken. Sein Vater, Gaston
Piquerez, schickte ihn daher strafweise ohne Mittagessen zu Bett. Als
der Vater etwa um 21.45 Uhr heimkehrte, befand sich der Knabe auf der
zur Wohnung gehörenden Terrasse und schaute zu, wie die Mutter den
Garten besprengte. Erbost, den Knaben dort zu sehen, und möglicherweise
auch über den Verlust des Geldbeutels noch verärgert, fasste Gaston
Piquerez den Knaben und gab ihm mit einem Kleiderbügel starke Schläge
auf Rücken, Gesäss und Oberschenkel. Der Knabe erlitt dadurch: a)
auf der Aussenseite des rechten Oberschenkels über dem Rollhügel eine
handtellergrosse, erhabene, blaurote Schwellung; b) auf der rechten Seite
des Brustkorbes, auf der Hinterseite und seitlich, halbkreisförmige
einander teilweise überlagernde, strichförmige subkutane Blutungen
aus doppelt konturierten Ringen; c) über der rechten Gesässgegend rote
Striemen und rote Flecken in handgrosser Ausdehnung; d) etwa 12 cm lange
und 5 mm breite rote Striche auf der seitlichen und vorderen Fläche des
linken Oberschenkels, sowie Kratzspuren; e) auf dem Rücken rote Flecken
bis zur Grösse von Fünffrankenstücken. Am folgenden Tage begab sich
Frau Piquerez mit dem Knaben zu einer Ärztin. Letztere benachrichtigte
die Vormundschaftsbehörde, und diese beschloss gestützt auf Art. 283 ZGB
unter anderem, den Knaben im Kinderspital unterzubringen, aus dem er nur
mit Einwilligung des Jugendamtes entlassen werden dürfe. Sie zeigte den
Fall der Staatsanwaltschaft an. Bernard Piquerez befand sich, ohne dass
es aus medizinischen Gründen notwendig gewesen wäre, vom 2. bis 15. Juli
1952 im Spital. Infolge der Misshandlung hatte er am Morgen nach der
Einlieferung 38° Fieber.

    B.- Das Strafgericht des Kantons Basel-Stadt erklärte Gaston Piquerez
am 23. September 1953 der Misshandlung eines Kindes schuldig (Art. 134
Ziff. 1 Abs. 1 StGB) und verurteilte ihn zu einer bedingt vollziehbaren
Gefängnisstrafe von sechs Wochen.

    Auf Appellation des Angeklagten sprach ihn das Appellationsgericht
des Kantons Basel-Stadt am 8. Januar 1954 frei. Es führte aus, die
geistige Entwicklung des Knaben sei weder geschädigt noch schwer gefährdet
worden. Aus dem Protokoll der Vormundschaftsbehörde vom 21. Oktober 1952
ergebe sich, dass die Kinder Piquerez ihrem Vater trotz der gelegentlich
groben Behandlung zugetan seien und nicht ernsthaft Schaden genommen
hätten. Auch Frau Piquerez erkläre, die Kinder könnten dem Vater gegenüber
durchaus fröhlich sein. Auch die Gesundheit des Knaben sei nicht geschädigt
worden; nicht jede vorübergehende Behinderung des Wohlbefindens sei eine
Gesundheitsschädigung, und eine solche liege auch nicht in der Zufügung von
Striemen, Blutunterlaufungen und dergleichen, wie sie sich auch bei einer
massvollen Züchtigung ergeben könnten. Ebensowenig sei die Gesundheit
des Knaben schwer gefährdet worden; denn die nahe Gefahr des Eintrittes
einer Gesundheitsschädigung, wie sie sich aus dem tatsächlich eingetretenen
Erfolge ergebe, habe nicht vorgelegen. Auch fehle der subjektive Tatbestand
des Art. 134 StGB. Dass der Knabe nicht nur die ihm zugedachten Schläge
erhalten habe, sondern auch am übrigen Körper getroffen worden sei, sei
allem Anschein nach auf sein Bestreben zurückzuführen, sich der Züchtigung
auf das Gesäss zu entziehen. Gegen die Annahme, der Angeklagte habe das
Kind im Bewusstsein gezüchtigt, die Schläge könnten irgendwelche dauernde
oder auch bloss vorübergehende schädigende Folgen haben, spreche nicht
nur seine eigene wiederholt und glaubhaft vorgetragene Bestreitung,
sondern auch seine im psychiatrischen Gutachten erwähnte Einstellung
zu seinen Kindern. Wer seine Kinder lieb habe und für sie nur das Beste
wolle, dem fehle in der Regel der Vorsatz, sie an der Gesundheit schwer
zu gefährden oder zu schädigen, und zwar auch der Eventualvorsatz. Diese
Überlegung müsse auch für den Angeklagten gelten, da keine Anzeichen für
das Gegenteil sprächen.

    C.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt führt
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Appellationsgerichts
sei aufzuheben und der Fall zur Verurteilung des Angeklagten gemäss
Art. 134 StGB an diese Instanz zurückzuweisen.

    Die Beschwerdeführerin macht geltend, Art. 134 StGB setze nicht
eine schwere Schädigung voraus; eine einfache Schädigung genüge. Eine
Züchtigung, die wie im vorliegenden Falle Verletzungen zur Folge habe
und Spitalpflege nötig mache, übersteige das zulässige Mass erheblich,
und der eingetretene Erfolg sei eine Schädigung der Gesundheit. Eine
solche, im Zorne vorgenommene schwere Misshandlung sei auch als schwere
Gefährdung der geistigen Entwicklung des Kindes zu betrachten. Es liege
ja im Begriffe der Gefährdung, dass der Erfolg unsicher bleibe. Auch der
subjektive Tatbestand sei erfüllt. Wer sein vierjähriges Kind im Zorne
mit einem Kleiderbügel dermassen schlage, müsse damit rechnen, dass das
Kind sich den Schlägen zu entziehen suche, und könne sich nicht darauf
berufen, er habe die Folgen nicht vorausgesehen und nicht gewollt. Der
Angeklagte habe mindestens mit Eventualvorsatz gehandelt.

    D.- Gaston Piquerez beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 134 Ziff. 1 Abs. 1 StGB ist mit Gefängnis nicht unter
einem Monat zu bestrafen, "wer ein Kind unter sechzehn Jahren, dessen
Pflege oder Obhut ihm obliegt, so misshandelt, vernachlässigt oder grausam
behandelt, dass dessen Gesundheit oder geistige Entwicklung eine Schädigung
oder schwere Gefährdung erleidet".

    Die Gefährdung der Gesundheit oder geistigen Entwicklung des Kindes
fällt nur dann unter diese Bestimmung, wenn sie "schwer" ist. Damit
stellt das Gesetz besondere Anforderungen sowohl an den der Gesundheit
oder geistigen Entwicklung drohenden Schaden, als auch an den Grad der
Wahrscheinlichkeit, mit der er bevorgestanden haben muss. Es genügt weder
jede drohende Schädigung der Gesundheit oder geistigen Entwicklung, noch
jede konkrete Gefahr, in die diese Rechtsgüter gebracht werden. Schwer
gefährdet ist die Gesundheit oder geistige Entwicklung nur, wenn die
Misshandlung, Vernachlässigung oder grausame Behandlung einen erheblichen
Schaden an der Gesundheit oder eine erheblich von der Norm abweichende
geistige Entwicklung des Kindes in grosse Nähe rückt.

    Nach dem Wortlaut der Bestimmung braucht dagegen das Merkmal der
Schwere nicht erfüllt zu sein, wenn das Kind in seiner Gesundheit oder in
seiner geistigen Entwicklung tatsächlich geschädigt wird. Eine Schädigung
dieser Rechtsgüter liegt aber nicht jedesmal schon dann vor, wenn der Täter
das Kind in seinem körperlichen oder geistigen Wohlbefinden beeinträchtigt
oder seinen Geist ungünstig beeinflusst.

    Ausser Betracht fallen einmal alle Körperschäden, unter denen
die körperliche oder geistige Gesundheit nicht leidet. Das ergibt
sich daraus, dass das Gesetz in anderen Bestimmungen ausdrücklich
zwischen der Schädigung des Körpers (atteinte à l'intégrité corporelle,
lésion corporelle, danno al corpo) einerseits und der Schädigung der
(körperlichen oder geistigen) Gesundheit (atteinte à la santé, danno
alla salute) anderseits unterscheidet (Art. 122 Ziff. 1 Abs. 3, 123
Ziff. 1 Abs. 1, 125, 126), in Art. 134 Ziff. 1 Abs. 1 dagegen nur von der
Schädigung oder schweren Gefährdung der Gesundheit spricht. Ein Versehen
liegt nicht vor. Schon in den Erläuterungen zum Vorentwurf wurde darauf
hingewiesen, dass eine vereinzelte Rohheit oder Nachlässigkeit richtiger
aus dem Gesichtspunkte vorsätzlicher oder fahrlässiger Körperverletzung
zu beurteilen sei (ZÜRCHER, Erl. zum VE 1908 137). Auch in der zweiten
Expertenkommission wurde über das Verhältnis der Bestimmungen über
Körperverletzung zu der Bestimmung über Misshandlung und Vernachlässigung
eines Kindes gesprochen und die Auffassung vertreten, dass diese Norm nur
anzuwenden sei, wenn jene versagten (Prot. 2. ExpK. 2 267 f.). Nur wenn
die Körperverletzung schwer ist und der Täter sie zwar nicht gewollt hat,
sie aber hat voraussehen können, trägt ihr Art. 134 Rechnung, indem er in
Ziff. 1 Abs. 2 schwerere Strafe androht als Art. 123 Ziff. 2. In anderen
Fällen von Körperverletzungen sind jedenfalls dann die Art. 122 ff., nicht
Art. 134, anzuwenden, wenn durch die Tat die Gesundheit des Kindes weder
geschädigt noch schwer gefährdet worden ist (vgl. auch VON OVERBECK,
ZStrR 43 213; HAFTER, Lehrbuch, bes. Teil 67). Wenn die Verfolgung
einen Strafantrag voraussetzt (Art. 123 Ziff. 1 Abs. 1, 125) und der
Täter der gesetzliche Vertreter des verletzten Kindes ist, kann die
Vormundschaftsbehörde dem Kinde gemäss Art. 392 Ziff. 2 ZGB einen Beistand
ernennen, dem nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 StGB das Antragsrecht zusteht.

    Art. 134 Ziff. 1 Abs. 1 trifft auch nicht zu auf Beeinträchtigungen des
körperlichen oder geistigen Wohlbefindens, die zwar ihrer Natur nach die
Gesundheit treffen, aber wegen ihrer Geringfügigkeit keine Schädigungen
sind. An der (körperlichen oder geistigen) Gesundheit geschädigt ist
das Kind nur, wenn die ungünstige Einwirkung auf dieses Rechtsgut von
etwelcher Bedeutung ist. Das ergibt sich aus der hohen Mindeststrafe von
einem Monat Gefängnis, die Art. 134 Ziff. 1 Abs. 1 androht. Es kann nicht
der Wille des Gesetzes sein, dass jeder noch so geringfügige Fehlgriff,
der sich an der Gesundheit des Kindes bemerkbar macht, mindestens einen
Monat Gefängnis zur Folge haben solle. So lässt sich nicht sagen, ein Kind
sei an seiner Gesundheit geschädigt, wenn es als Folge einer Züchtigung
z.B. einmal sich erbricht, vorübergehend Kopfschmerzen oder leichte Fieber
hat oder für kurze Zeit ohnmächtig ist.

    Auch von einer Schädigung der geistigen Entwicklung kann nicht
jedesmal dann die Rede sein, wenn die Geistesverfassung des Kindes
infolge Misshandlung, Vernachlässigung oder grausamer Behandlung
ungünstig beeinflusst wird. Die Beeinträchtigung muss, wenn auch nicht
notwendigerweise bleibend, doch ernster Natur sein. Einschüchterung oder
Verbitterung eines Kindes gegenüber dem Erzieher z.B. stellt für sich
allein nicht notwendigerweise eine Schädigung der geistigen Entwicklung
dar.

Erwägung 2

    2.- Die Schwellung sowie die subkutanen Blutungen, die Striemen,
Flecken und Kratzspuren, die der Beschwerdegegner seinem Knaben zugefügt
hat, haben dessen Gesundheit nicht geschädigt. Wie die Vorinstanz
verbindlich feststellt, ist der Knabe nicht aus medizinischen Gründen,
sondern auf Anordnung der Vormundschaftsbehörde in den Spital verbracht und
während vierzehn Tagen dort belassen worden. Das leichte Fieber, das er am
Morgen nach der Einlieferung aufwies, war eine zu unbedeutende Veränderung
seines Gesundheitszustandes, als dass sie als Schädigung gelten könnte. Man
könnte sich höchstens fragen, ob die Auswirkungen am Körper des Knaben als
Körperverletzungen zu würdigen wären (vgl. BGE 72 IV 21). Wenn ja, wären
sie aber jedenfalls nicht schwer im Sinne der Art. 122 und 134 Ziff. 1
Abs. 2 StGB. Dem Beschwerdegegner kann auch nicht vorgeworfen werden, er
habe in seinem Knaben, den er an sich züchtigen durfte, einen Wehrlosen
im Sinne des Art. 123 Ziff. 1 Abs. 2 StGB verletzt. Er kann daher wegen
Körperverletzung nicht von Amtes wegen verfolgt werden. Ein Strafantrag
aber ist von einem Antragsberechtigten (Beistand) nicht gestellt worden.

    Die Gesundheit des Knaben ist auch nicht schwer gefährdet worden. Wenn
die einmalige Verwendung eines Kleiderbügels zum Prügeln eines vierjährigen
Knaben überhaupt eine gesundheitliche Schädigung wahrscheinlich macht, so
jedenfalls nicht in so hohem Grade und nicht eine so erhebliche Schädigung,
dass die Gefahr, in die dieses Vorgehen die Gesundheit des Knaben bringt,
als schwer bezeichnet werden könnte. Es steht auch nicht fest, dass der
Beschwerdegegner das Kind so kräftig und rücksichtslos geschlagen habe,
dass hier ausnahmsweise eine erhebliche Schädigung viel näher gelegen
habe als nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge bei Verwendung eines
Kleiderbügels schlechthin, z.B. dass er ihm beinahe ein Auge ausgeschlagen
oder ein inneres Organ verletzt habe. Es ist möglich, dass der tatsächlich
eingetretene Erfolg nach der Art und Weise, wie der Beschwerdegegner das
Kind geschlagen hat, gar nicht übertroffen werden konnte.

Erwägung 3

    3.- Nach der verbindlichen Feststellung der Vorinstanz, wonach die
Kinder des Beschwerdegegners ihm zugetan sind und ihm gegenüber durchaus
fröhlich sein können, hat der Knabe Bernard durch die Tat vom 1. Juli 1952,
selbst in Verbindung mit der früheren gelegentlichen groben Behandlung,
auch an seiner geistigen Entwicklung keinen Schaden genommen.

    Kann solche Behandlung, wenn sie während langer Zeit wiederholt
wird, zwar die geistige Entwicklung ungünstig beeinflussen, so steht im
vorliegenden Falle doch nicht fest, dass der Beschwerdegegner bis und mit
dem 1. Juli 1952 den Knaben bereits derart oft und grob misshandelt habe,
dass eine erhebliche Beeinträchtigung dieser Entwicklung in nächster Nähe
gestanden habe. Dem Beschwerdegegner kann daher auch nicht vorgeworfen
werden, er habe die geistige Entwicklung des Kindes schwer gefährdet.

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.