Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 80 II 362



80 II 362

57. Urteil der II. Zivilabteilung vom 19. November 1954 i. S. Wwe Carocari
gegen Carocari und Konsorten. Regeste

    1.  Wann ist eine Prorogation auf das Bundesgericht im Sinne von
Art. 41 lit. c Abs. 2 OG auch beim Fehlen eines Gerichtsstandes in der
Schweiz wirksam? Art. 2 Abs. 2 BZP (Erw. 1).

    2.  Das Bundesgericht ist nur zur Beurteilung der Rechtsbegehren
zuständig, auf die sich die Prorogation bezieht (Erw. 2).

    3.  Was kann Gegenstand einer Feststellungsklage sein? Art. 25 BZP
(Erw. 3).

    4.  'Rechtliches Interesse an sofortiger Feststellung' (Erw. 4).

Sachverhalt

    A.- Am 30. Januar 1953 starb in Basel der dort wohnhaft gewesene
Bauunternehmer Lorenzo Carocari, italienischer Nationalität. Er hinterliess
seine Witwe (die Klägerin) und drei Kinder (die Beklagten), alle in Basel
wohnhaft, als gesetzliche Erben. Die Erben sind darüber einig, dass
die erbrechtliche Auseinandersetzung nach dem italienischen Recht als
dem Heimatrecht vor sich zu gehen habe. Auf die vorweg zu erledigenden
güterrechtlichen Ansprüche möchte dagegen die Witwe das schweizerische
Recht als Recht des Wohnsitzes angewendet wissen (wonach ihr an dem sehr
beträchtlichen ehelichen Vorschlag
   ein Drittel zustehe), während die
Kinder auch in dieser Hinsicht das italienische Heimatrecht für anwendbar
halten (das der Witwe keinen Vorschlagsanteil einräume). B. - Um diese
Streitfrage rechtsverbindlich entscheiden zu lassen, schlossen die Parteien
am 21. Juni 1954 einen Prorogationsvertrag, lautend:

    '1. Die Parteien vereinbaren, die Frage, ob auf die zur Ermittlung des
Nachlasses von Herrn Lorenzo Carocari, verstorben am 30. Januar 1953 in
Basel, vorzunehmende güterrechtliche Auseinandersetzung die Bestimmungen
des Schweizerischen Zivilgesetzbuches oder des Codice civile italiano
anwendbar sind, dem Bundesgericht als einzige Instanz gemäss OG Art. 41
c zur Entscheidung zu unterbreiten.

    2. Die Parteien sind übereingekommen, dass die ordentlichen und
ausserordentlichen Kosten des Verfahrens dem Nachlass des Herrn Lorenzo
Carocari sel. belastet werden sollen.'

    C.- Gestützt auf diese Vereinbarung reichte die Witwe beim
Bundesgericht die vorliegende Klage ein mit den Rechtsbegehren:

    '1. Es sei festzustellen, dass auf die zur Ermittlung des
Nachlasses von Herrn Lorenzo Carocari ... vorzunehmende güterrechtliche
Auseinandersetzung die Bestimmungen des Schweizerischen Zivilgesetzbuches
anwendbar sind.

    2. Es sei der Klägerin demgemäss aus dem ehelichen Vermögen der Betrag
von Fr. 87'110.85 als Vorschlagsanteil vorweg zuzusprechen.'

    Demgegenüber stellten die Beklagten das Rechtsbe gehren:

    'Es sei festzustellen, dass für die zur Ermittlung des Nachlasses ...
vorzunehmende güterrechtliche Auseinandersetzung die Bestimmungen
des schweizerischen Zivilgesetzbuches nicht, sondern diejenigen des
italienischen Rechtes zur Anwendung gelangen, und dass demnach der Klägerin
kein Vorschlagsanteil zusteht.'

    Die Beklagten wollen nur die Frage des anzuwendenden ehelichen
Güterrechtes durch das Bundesgericht entscheiden lassen. Sie widersetzen
sich einer Beurteilung des von der Klägerin (in eventuellem Sinne,
laut der Klagebegründung) erhobenen Leistungsbegehrens, das in der
Prorogationsvereinbarung nicht enthalten sei. Mit dem Abschluss dieser
Vereinbarung seien die Beklagten nicht von ihrem Standpunkt abgewichen,
dass allfällige Streitigkeiten über den Nachlass des Lorenzo Carocari
nur von italienischen Gerichten, und zwar nach italienischem Rechte,
zu beurteilen seien. Einer materiellen Entscheidungsbefugnis des
Bundesgerichtes vermöchten sie daher nicht zuzustimmen. Demgemäss haben
sie ihr Rechtsbegehren in der Hauptverhandlung dahin verdeutlicht,

    'das Bundesgericht habe unter Feststellung, dass auch die
güterrechtlichen Verhältnisse der Beurteilung durch die italienischen
Gerichte unterstehen, auf den vorliegenden Streitfall materiell nicht
einzutreten.'

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 41 lit. c Abs. 2 OG kann das Bundesgericht von beiden
Parteien 'an Stelle der kantonalen Gerichte' als einzige Instanz angerufen
werden, wenn der Streitwert wenigstens Fr. 10'000.-- beträgt. Die letztere
Voraussetzung ist hier erfüllt. Da sodann das Bundesgericht nur 'an Stelle
der kantonalen Gerichte' angerufen werden kann, muss nach eidgenössischem
oder kantonalem Recht ein Gerichtsstand in der Schweiz begründet sein,
was denn auch Art. 2 Abs. 1 des Bundeszivilprozessgesetzes vom 4. Dezember
1947 ausdrücklich bestimmt. An dieser Voraussetzung würde es vorerst
fehlen, wenn der italienische Gerichtsstand, wie ihn Art. 17 Abs. 3 des
Niederlassungs- und Konsularvertrages zwischen der Schweiz und Italien vom
22. Juli 1868 für Streitigkeiten zwischen den Erben eines in der Schweiz
verstorbenen Italieners 'hinsichtlich seines Nachlasses' vorsieht, auf
Ansprüche des überlebenden Ehegatten aus ehelichem Güterrecht auszudehnen
sein sollte. Wie dem aber auch sei, ist Prorogation eines von dieser
staatsvertraglichen Norm abweichenden Gerichtsstandes zulässig (BGE 65 I
125). Und die vorliegende Prorogation ist vom Bundesgericht nach Art. 2
Abs. 2 BZP zu beachten, da die Klägerin ihren Wohnsitz in der Schweiz hat.

Erwägung 2

    2.- Indessen fallen nur die Rechtsbegehren in Betracht, für welche
die Prorogation erfolgt ist. Für andere Begehren ist die Zuständigkeit
des Bundesgerichtes als einziger Instanz nicht begründet. Der in der
Vereinbarung vom 21. Juni 1954 formulierten Streitfrage nach dem anzuwenden
den Rechte entspricht das erste, nicht aber das zweite Klagebegehren
(aufLeistung von Fr. 87'110.85). Die Beklagten widersetzen sich denn auch
dessen Beurteilung durch das Bundesgericht. Freilich bringen sie selber
den materiellen Inhalt des italienischen Gesetzes zur Geltung, indem sie
mit ihrem Gegenbegehren feststellen lassen wollen, 'dass der Klägerin
demnach kein Vorschlagsanteil zusteht'. Das wäre aber nach Ansicht beider
Parteien die unabweisliche Folge der Anwendung des italienischen Gesetzes
und hat somit nicht die Bedeutung eines besondern Begehrens. Die Beklagten
haben im übrigen keinen Zweifel darüber bestehen lassen, dass sie sich
an den Wortlaut der Prorogationsvereinbarung halten und eine Befugnis
des Bundesgerichts zu materieller Entscheidung nicht anerkennen wollen.

Erwägung 3

    3.- Bei dieser Sachlage erhebt sich die Frage, ob überhaupt
Rechtsbegehren im wahren Sinne des Wortes vorliegen. Eine gerichtliche
Entscheidung muss (abgesehen von der sog. freiwilligen oder nichtstreitigen
Gerichtsbarkeit) im Ausspruch der Rechtsfolge bestehen, die sich nach dem
Gesetze als Rechtswirkung eines Tatbestandes ergibt (vgl. STEIN, Grundriss
des Zivilprozessrechts und des Konkursrechts, § 63 II). Insbesondere kann
eine gerichtliche Feststellung nach Art. 25 BZP (entsprechend dem Inhalt
anderer Gesetze sowie gemäss der herrschenden Lehre) nur das Bestehen
oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses betreffen (ähnlich § 92
der zürcherischen und Art. 174 der bernischen ZPO; vgl. auch § 256 der
deutschen ZPO). Der Begriff des Rechtsverhältnisses wird etwa umschrieben
als 'ein durch die Herrschaft der Rechtsnormen über einen konkreten
Tatbestand als Rechtsfolge dieses Tatbestandes entstandenes rechtliches
Verhältnis einer Person zu einer andern Person oder zu einem Sachgut'
(so STEIN/JONAS, Die ZPO für das Deutsche Reich, 14. Auflage I S. 699)
oder 'die aus einem konkreten Tatbestand entstandene Rechtsbeziehung
einer Person zu einer andern Person oder zu einer Sache' (SCHöNKE,
Zivilprozessrecht, 5. Aufl. S. 145) oder 'jede aus den Rechtsnormen
sich ergebende Beziehung einer Person zu einer andern Person oder zu
einer Sache, sowie die einzelnen daraus fliessenden rechtlichen Folgen,
Ansprüche und Verpflichtungen' (LEUCH, N. 2 zu Art. 174 der bernischen
ZPO). Es muss sich danach um den Bestand oder Inhalt und Umfang von
Rechten oder Pflichten handeln, die durch das Urteil festgelegt oder
abgegrenzt werden sollen. Dagegen kann nicht eine blosse Rechtsfrage ohne
die an sie zu knüpfende Rechtsfolge zum Gegenstand einer gerichtlichen
Entscheidung gemacht werden. Denn damit wäre eben noch nicht über Rechte
und Pflichten entschieden, also kein materiellrechtliches Urteil gefällt,
wie es auch das Feststellungsurteil sein muss. Im vorliegenden Falle, wo
eine Prorogation auf das Bundesgericht nur für eine Rechtsanwendungsfrage
vereinbart worden ist und die Beklagten die italienischen Gerichte für
eine materielle Entscheidung als allein zuständig halten, bestünde nicht
einmal Gewähr für Beachtung der nachgesuchten Entscheidung durch das
allenfalls hernach um materielle Entscheidung angegangene Gericht.

Erwägung 4

    4.- Die (von Anwälten verfasste) Prorogationsvereinbarung kann, zumal
angesichts der Stellungnahme der Beklagten, nicht wohl ausdehnend dahin
ausgelegt werden, es werde ein eigentliches, d.h. materiellrechtliches
Feststellungsurteil darüber verlangt, ob der Witwe aus Güterrecht
ein Vorschlagsanteil zustehe. Liesse sich indessen die Prorogation
auch so auslegen, so würde es an den besondern Voraussetzungen einer
Feststellungsklage mangeln, die Art. 25 BZP dahin formuliert, dass
der Kläger ein rechtliches Interesse an sofortiger Feststellung haben
müsse. Es besteht kein schutzwürdiges Interesse, die Frage nach einer
Vorschlagsbeteiligung, zudem nur grundsätzlich, ohne ziffermässige
Bestimmung, vorweg entscheiden zu lassen. Nichts würde die Parteien
hindern, sogleich die ganze güterrechtliche Auseinandersetzung zu
gerichtlichem Austrag zu bringen, also die Frage des Vorschlagsanteils nach
Grundsatz und Betrag, aber auch die Ersatzansprüche für Eingebrachtes und
die zur Zeit noch streitigen Sondergutsansprüche. Auf diesem Wege liesse
sich ein vollstreckbares Urteil erzielen. Dass der Vorschlagsanteil
der Witwe besonders gefährdet sei und deshalb möglichst rasch
vorweg durch Urteil festgestellt werden sollte, ist nicht dargetan.
übrigens ist nicht einzusehen, was in dieser Hinsicht mit einer bloss
grundsätzlichen Feststellung gewonnen wäre. Endlich lässt sich für
die Zulässigkeit einer solchen Feststellung nichts daraus herleiten,
dass einem Feststellungsurteil mitunter gestützt auf zuverlässige
Parteierklärungen, namentlich seitens behördlicher Organe, die praktische
Wirkung eines Leistungsurteils beigemessen werden darf (vgl. BGE 50 II
51 ff.; LEUCH, N. 3 zu Art. 174 der bernischen ZPO, S. 175 unter Mitte
der 2. Auflage). Denn abgesehen davon, dass die Beklagten ein Urteil
mit materiellrechtlicher Wirkung gar nicht wollen, wäre eine bloss
grundsätzliche Feststellung keineswegs geeignet, die güterrechtliche
Auseinandersetzung zum Abschluss zu bringen oder auch nur den der Witwe
allenfalls zukommenden Anteil am ehelichen Vorschlage festzusetzen.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Auf die Klage wird nicht eingetreten.