Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 80 II 311



80 II 311

51. Urteil der II. Zivilabteilung vom 2. Dezember 1954 i. S. Federer
gegen Landwirtschaftlicher Verein Mörsehwil. Regeste

    1.  Streitwert bei der Klage auf Einräumung eines Notweges (Art. 36
OG). Für die Bestimmung des Streitwertes ist im allgemeinen der Mehrwert
massgebend, den das Notwegrecht dem Grundstück des Klägers verleihen
würde. Der Betrag der Entschädigung, die der Kläger voraussichtlich für
das Notwegrecht zu zahlen hätte, ist von jenem Mehrwert nicht abzuziehen.

    2.  Zur blossen Verbesserung nicht ganz vollkommener Wegverbindungen
mit der öffentlichen Strasse kann ein Grundeigentümer einen Notweg nicht
beanspruchen (Art. 694 Abs. 1 ZGB).

    Bei der Frage, ob ein Grundeigentümer grundsätzlich einen Notweg
beanspruchen könne, kommt es nicht darauf an, ob sein Interesse an der
Gewährung des Notweges grösser ist als dasjenige, das die Nachbarn an
der Verweigerung haben.

Sachverhalt

    A.- An der südwestlichen Seite der Bahnhofstrasse in Mörschwil liegen
zwischen ihr und der Eisenbahnlinie St. Gallen-Mörschwil neben einander in
der Richtung von Nordwesten nach Südosten der Reihe nach die Grundstücke
Nr. 140 der Firma Jean Osterwalder & Co., Nr. 741 des Landwirtschaftlichen
Vereins Mörschwil, des heutigen Klägers, und Nr. 646 des Eduard Federer,
des heutigen Beklagten. Der Kläger hat am 8. März 1954 sein Grundstück,
das auf eine Länge von 25 m an die Bahnhofstrasse anstösst und vom
Eisenbahngeleise zur Strasse von Westen nach Osten eine Steigung von 10%
hat, von der Firma Jean Osterwalder & Co. gekauft. Er beabsichtigt, das
auf seinem Grundstück liegende Oekonomiegebäude als Lagerschuppen für
den Umschlag landwirtschaftlicher Produkte zu benützen und im übrigen
von der Liegenschaft das Most- und Tafelobst auf die Eisenbahnwagen und
Lastautomobile zu verladen. Zu diesem Zweck sollen die Landwirte mit
ihren Obstfuhren von der Bahnhofstrasse aus auf das Grundstück fahren;
dort hätten sie zuerst auf einer neu zu erstellenden Brückenwage ihre
Fuhren zu wägen, nachher westlich zu den Verladungsrampen zu fahren und
sodann rund um den Lagerschuppen herum gegen Norden auf die Bahnhofstrasse
zurückzukehren, so dass der ganze Verladungsbetrieb sich als flüssiger
Einbahnverkehr abwickeln würde. Für die Rückfahrt von der Verladungsrampe
beim Eisenbahngeleise südwestlich des Lagerschuppens zur Bahnhofstrasse,
allenfalls wieder über die Brückenwage zum Wägen des Taragewichtes, soll
ein Weg angelegt werden, dessen letztes Stück, bei der Einmündung in
die Bahnhofstrasse, auf das Grundstück des Beklagten zu liegen käme, wo
bereits das Waldhofsträsschen, eine private Güterstrasse mit öffentlichem
Fusswegrecht, durchgeht.

    B.- Für diesen neu geplanten Weg erhob der Landwirtschaftliche Verein
Mörschwil gegen Federer Klage auf Einräumung eines Notwegrechtes, das
ihm gestatten würde, den Weg unbeschränkt zu begehen und mit beliebigen
Fahrzeugen zu jeder Zeit zu befahren. Er machte in der Klageschrift
geltend, ohne das Notwegrecht könnte er sein Grundstück mit Lagergebäude
überhaupt nicht richtig bewirtschaften. Vor der kantonalen Rekursinstanz
führte er noch weiter aus: Infolge der bestehenden Böschung könnte die
Ein- und Ausfahrt ohne das Notwegrecht nur mit enormen Schwierigkeiten
und unverhältnismässigen Kosten errichtet werden und zudem nicht in
befriedigender Weise. Für die beladenen Fuhrwerke würde ein zu grosses
Gefälle entstehen.

    Der Gemeinderat Mörschwil wies das Klagebegehren ab. Der Regierungsrat
des Kantons St. Gallen als Rekursinstanz hob durch Entscheid vom 2. August
1954 den Beschluss des Gemeinderates auf und erkannte:

    Eduard Federer hat auf seinem Grundstück Parzelle Nr. 646 einen Notweg
zum unbeschränkten Befahren und Begehen zugunsten der Nachbar-Parzelle
Nr. 741 des landwirtschaftlichen Vereins Mörschwil in folgender Begrenzung
zu dulden..."

    Nach der Annahme des Regierungsrates fällt der geforderte Notweg
für den Beklagten als Last nicht ins Gewicht gegenüber den Nachteilen,
die aus der Verweigerung des Notweges für den Kläger entstehen würden.

    C.- Gegen den Entscheid des Regierungsrates hat der Beklagte
rechtzeitig die Berufung an das Bundesgericht erklärt mit dem Antrag,
der Entscheid sei aufzuheben und ein Notweg nicht zu bewilligen, eventuell
die Sache zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    In Bezug auf den Berufungsstreitwert hat er auf seine Eingabe an den
Gemeinderat Mörschwil vom 18. Mai 1954 hingewiesen, worin er gesagt hat:
Die vom Kläger geplante Brückenwage hätte zur Folge, dass diejenige,
die der Beklagte bisher beim Bahnhof betrieben habe, stillgelegt würde,
weil die Bauern nicht mehr, wie bisher, die Brückenwage des Beklagten,
sondern diejenige des Klägers benutzen würden. Dieser müsste daher bei
Einräumung des geforderten Notweges den Beklagten dafür entschädigen, dass
dieser sein jährliches Einkommen von Fr. 1100.-- aus der Brückenwage, sowie
das in dieser angelegte Geld verlieren und das Grundstück Nr. 646 eine
Werteinbusse erleiden würde. Die Entschädigung müsste über Fr. 20'000.--
betragen.

    Der Kläger beantragt, auf die Berufung sei wegen mangelnden
Streitwertes nicht einzutreten, eventuell sei sie abzuweisen. Er führt
aus, der Wert von 32 m2 Boden, der für den Notweg beansprucht werde,
betrage nur rund Fr. 112.-- oder, wenn es sich um Bauland handeln sollte,
rund Fr. 320.--. Das sei der Streitwert. Die Einbusse, die der Beklagte
im Brückenwagenbetrieb erleide, sei nicht Streitgegenstand.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Im vorliegenden Falle dreht sich der Streit nicht um die Frage,
welche Entschädigung der Kläger dem Beklagten für den geforderten Notweg
bezahlen müsse. Streitig ist einzig, ob dem Kläger ein Anspruch auf
Einräumung eines Notweges gegen den Beklagten zustehe. Durch das hierauf
gerichtete Begehren wird nach Art. 36 OG der Wert des Streitgegenstandes
bestimmt. Entgegen der vom Beklagten geäusserten Auffassung, der die
Vorinstanz in ihren Gegenbemerkungen zur Berufung beigestimmt hat,
bemisst sich aber dieser Wert in einem Falle wie dem vorliegenden
nicht ausschliesslich nach der Belastung, die das Notwegrecht für das
Grundstück des Beklagten oder diesen selbst bedeutet. Nach dem Urteil des
Bundesgerichtes in Sachen Signer gegen Manser vom 23. Februar 1953 ist für
die Bestimmung des Streitwertes im allgemeinen das Interesse des Klägers
an der Gutheissung des von ihm geltend gemachten Anspruchs massgebend und
entspricht dieses Interesse beim Anspruch auf ein Notwegrecht dem Mehrwert,
den dieses Recht dem Grundstück des Klägers verleihen würde. Nach den
Angaben des Klägers im vorliegenden Fall ist eine befriedigende Lösung
der Zu- und Wegfahrt von und nach der Bahnhofstrasse mit zweckmässigem
Umschlags- und Lagerhausbetrieb nicht möglich, wenn er für die Weganlage
nur sein eigenes Grundstück verwenden kann, und zwar deshalb, weil dann
für die beladenen Fuhrwerke der Weg ein zu grosses Gefälle hätte. Das wird
vom Kantonsingenieur in seinem Bericht vom 19. Juli 1954 an das kantonale
Justiz- und Sanitätsdepartement bestätigt. Die Vorinstanz stellt denn auch
fest, dass ohne das Notwegrecht der Güterumschlag wesentlich erschwert
und gefahrvoller würde, weil die Anfahrtswege für schwere Fuhren zu steil
würden. Unter diesen Umständen beträgt der für die Berufung massgebende
Streitwert offensichtlich mehr als Fr. 4000.

    Der Betrag der Entschädigung, die der Kläger voraussichtlich für das
Notwegrecht zu zahlen hätte, ist bei der Bestimmung des Streitwerts nicht
vom Mehrwert, den das Notwegrecht dem Grundstück des Klägers verleihen
würde, abzuziehen, da nach der ständigen Praxis des Bundesgerichts bei
Erfüllungsklagen aus gegenseitigen Verträgen der Wert der dem Kläger
obliegenden Gegenleistung zum Zwecke der Festsetzung des Streitwertes
nicht abgerechnet wird (BGE 46 II 272).

    Es kann daher offen bleiben, ob die Belastung, die das Notwegrecht
für das Grundstück des Beklagten bedeuten würde, den nötigen Streitwert
nicht erreicht.

    Die Berufung ist somit zulässig.

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 694 Abs. 1 ZGB kann die Einräumung eines Notweges der
Grundeigentümer beanspruchen, der "keinen genügenden Weg von seinem
Grundstück auf eine öffentliche Strasse" hat. Demgemäss dreht sich
der Streit im vorliegenden Fall um die Frage, ob der Kläger von seinem
Grundstück Nr. 741 bereits einen genügenden Weg auf die Bahnhofstrasse
in Mörschwil, eine öffentliche Gemeindestrasse, habe. Die Vorinstanz hat
für das Bundesgericht nach Art. 63 Abs. 2 OG in tatsächlicher Beziehung
verbindlich festgestellt, dass für eine uneingeschränkte Durchführung
des vom Kläger geplanten Lagerhausbetriebes mit Brückenwage ein Fahrweg
über die nördliche Ecke des Liegenschaft Nr. 646 des Beklagten zur
Bahnhofstrasse nötig sei, weil sonst die Anfahrtswege für schwere Fuhren
zu steil würden. Danach hat der Kläger für den Gewerbebetrieb, den er
auf seinem Grundstück durchführen will, keinen vollständig genügenden
Weg auf die Bahnhofstrasse. Er hätte also nach dem Wortlaut des Art. 694
Abs. 1 ZGB an und für sich einen Anspruch darauf, dass ihm ein solcher Weg
eingeräumt würde. Allein für die Auslegung einer Gesetzesbestimmung ist
nicht ausschliesslich ihr Wortlaut massgebend. Ihre Entstehungsgeschichte,
ihr Grund und Zweck, der Zusammenhang mit andern Gesetzesbestimmungen ist
ebenfalls zu berücksichtigen und kann eine einschränkende oder ausdehnende
Auslegung rechtfertigen.

    Art. 694 ZGB ist aus den bisherigen Bestimmungen der kantonalen
Rechte über das Notwegrecht entstanden. Diese knüpften (wie in HUBER,
System und Geschichte des schweizerischen Privatrechts III S. 315
ff. ausgeführt wird) das Recht an die Voraussetzung, dass ein Gebäude
oder ein landwirtschaftliches Grundstück von der Verbindung mit den
öffentlichen Strassen und Wegen abgeschnitten sei oder an keinem Wege
liege (so Zürich PGB § 139, Schaffhausen PGB § 515, Basel-Stadt, Gesetz
betr. die Nachbarrechte § 10, ähnlich auch Graubünden PR § 230, Zug PGB §
168) oder dass es nicht die zu seiner Benutzung oder Bewerbung unumgänglich
notwendigen Fuss-, Fahr- und Tränkwegrechte besitze (so Glarus BGB §
28) oder dass es keine oder eine beschränkte Zu- und Ausfahrt auf einen
gemeinen Weg oder keine freie Zu- und Abfahrt habe (so Solothurn CGB §
375, Aargau BGB § 493, Flurgesetz § 53, ähnlich Thurgau, Flurgesetz §
33). Die welschen Kantone sprachen das Recht nur zu dem "propriétaire dont
les fonds sont enclavés et qui n'a aucune issue sur la voie publique"
(entsprechend dem bis zum Gesetz vom 20. August 1881 geltenden Art. 682
des franz. CC), der Kanton Tessin ebenso nur dem "possessore di un fondo
che manca di ogni accesso" (CC Art. 296). Diese Bestimmungen zeigen,
dass sie da, wo der unumgänglich notwendige Fuss- oder Fahrweg, der
freie Zugang oder die freie Zufahrt zu einem Grundstück und damit die
nötige Verbindung mit dem öffentlichen Strassennetz, der Aussenwelt mehr
oder weniger vorhanden ist, keinen Notweganspruch einräumen wollten. Das
gilt grundsätzlich auch nach Art. 694 ZGB. Die Vorinstanz hat dem Kläger
den Notweg deshalb eingeräumt, weil sie auf Grund eines Augenscheins
und eines Berichtes des Kantonsingenieurs davon ausging, dass sonst die
Weganlage teilweise für schwere Fuhren zu steil würde und deshalb keine
befriedigende Lösung bilden würde. Dieser Umstand genügt aber nicht für
die Gewährung des Notweges. Einen solchen kann ein Grundeigentümer vom
Gesichtspunkt des Art. 694 ZGB aus nur fordern, wenn er sich in der
Not befindet, wenn die nach den wirtschaftlichen Bedürfnissen seines
Grundstücks erforderliche Verbindung mit der öffentlichen Strasse
überhaupt fehlt oder doch schwer beeinträchtigt ist. Für die blosse
Verbesserung von nicht ganz vollkommenen Wegverhältnissen kann ein Notweg
nicht eingeräumt werden (Urteil des Bundesgerichtes i.S. Schmidig vom
20. September 1935 im Zentralblatt f. Staats- und Gemeindeverwaltung 37
S. 140 ff.; vgl. STAUDINGER, Komm. z. BGB, 10. Aufl. § 917 Anm. II 2
a, 3, N. 28, 31; PLANIOL-RIPERT-PICARD, Droit civil français 2e éd. III
S. 902 N. 926). Die Vorinstanz führt denn auch selbst, ähnlich wie die
staatsrechtliche Abteilung des Bundesgerichtes im Urteil i.S. Schmidig
vom 20. September 1935 und der Regierungsrat des Kantons Luzern in einem
Entscheid vom Jahre 1933 (Zentralblatt f. Staats- und Gemeindeverwaltung
35 S. 211 f.) aus, dass man es mit den Voraussetzungen für den Notweg
streng nehmen müsse, sie nicht ausdehnend auslegen, sondern den Notweg
nur in einem wirklichen Notfall einräumen dürfe, da sonst die Gewährung
solcher Wege ins Uferlose führen würde. Wenn auch im vorliegenden Fall
die Weganlage, sofern sie sich innerhalb der Grenzen des Grundstückes
des Klägers halten muss, teilweise für schwere Fuhren zu steil würde, so
ist doch nicht anzunehmen, dass dadurch der Betrieb des Unternehmens der
Klägers schwer beeinträchtigt würde. Sein Grundstück grenzt auf eine Länge
von 25 m unmittelbar an eine gewöhnliche öffentliche Strasse und zwar ohne
Niveauunterschied und ohne ein Gefälle, das 10% übersteigt. Anderseits
hat der Kläger im kantonalen Verfahren überhaupt nicht angegeben, wo
und in welchem Masse ein zu grosses Gefälle entstehen würde und welche
Kosten die Weganlage ohne den Notweg verursachen würde. Dem Kläger darf
daher zugemutet werden, für den Verkehr mit Lastwagen die erforderliche
Gewichtsgrenze vorzuschreiben oder zur Verminderung des Gefälles gewisse
Arbeiten auszuführen. Für einen unbeschränkten Verkehr oder eine billige
Weganlage könnte er fremdes Grundeigentum nur beanspruchen, wenn ihm das
Expropriationsrecht im öffentlichen Interesse zustände, nicht aber auch
auf Grund des Art. 694 ZGB lediglich im eigenen Interesse.

Erwägung 3

    3.- Bei der Frage, ob der Kläger grundsätzlich einen Notweg
beanspruchen könne, kommt es entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht
darauf an, ob der Notweg als Last für den Beklagten nicht ins Gewicht falle
gegenüber den Nachteilen, die dem Kläger aus einer Verweigerung erwachsen
würden. Auf die gegenseitigen Interessen ist nach Art. 694 Abs. 2 und 3
ZGB erst bei der Festsetzung des Notweges Rücksicht zu nehmen, also dann,
wenn zu bestimmen ist, wo und wie der einzuräumende Notweg durchgehen soll.

Erwägung 4

    4.- Das angefochtene Urteil ist somit wegen Verletzung des Art. 694
ZGB aufzuheben und die Klage auf Einräumung eines Notweges abzuweisen.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird gutgeheissen, der Entscheid des Regierungsrates
des Kantons St. Gallen vom 2. August 1954 aufgehoben und die Klage auf
Einräumung eines Notwegrechtes abgewiesen.