Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 80 II 271



80 II 271

45. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 28. September 1954
i. S. Genossenschaftsbäckerei Glarus in Liq. gegen Schneider und Konsorten.
Regeste

    Genossenschaftsrecht.

    Generalversammlungsbeschlüsse, welche unter Verletzung der Statuten,
nachgiebiger Gesetzesbestimmungen oder zwingender, aber lediglich den
Schutz privater Interessen bezweckender Vorschriften gefasst werden,
sind anfechtbar und nicht nichtig (Art. 883, 888, 891 und 913 OR).

Sachverhalt

                     Aus dem Tatbestand:

    A. - In Glarus bestand seit dem Jahre 1843 die
Aktienbäckerei-Gesellschaft. Aus ihr ging im Jahre 1914 durch Umwandlung
und Geschäftsübernahme die beklagte Genossenschaftsbäckerei hervor. Sie
bezweckte gemäss § 1 ihrer damaligen Statuten, ein "möglichst billiges,
vollgewichtiges und schmackhaftes Brot zu liefern".

    B.- Zu den Mitgliedern der Genossenschaftsbäckerei gehörte
seit 1914 der Konsumverein Glarus, der keine eigene Bäckerei besass.
Er eröffnete 1921 in seiner Filiale. Iselihaus und ab 1931 auch in seinem
Hauptlokal Verkaufsstellen für Brot der Genossenschaftsbäckerei. Am 25.
August 1942 schlossen die Genossenschaftsbäckerei und der Konsumverein
einen Lieferungsvertrag, durch welchen dem Konsumverein, gegen eine
Provision von 16%, der Verkauf von Brot und anderen Backwaren in dessen
Geschäftslokalen übertragen wurde.

    C.- In ihrer Haupversammlung vom 19. Februar 1944 gab sich die
Genossenschaftsbäckerei neue, dem revidierten OR angepasste Statuten. Sie
bestimmen u.a., bei im wesentlichen unveränderter Zweckumschreibung (§ 1):

    in § 4:  "Mitglied der Genossenschaft kann jede Person, Gesellschaft
oder Anstalt werden, die diese Statuten anerkennt und gewillt ist, die
Institution der Genossenschaft zu benützen."

    in § 7:  "... ein Mitglied kann durch die Verwaltungskommission
ausgeschlossen werden, unter Rekursrecht an die nächste Hauptversammlung:

    wenn es die Genossenschaftsinteressen gefährdet und den Statuten
zuwiderhandelt;

    wenn es während zwei aufeinanderfolgenden Jahren keine oder auffallend
wenig Waren aus der Genossenschaftsbäckerei bezieht;

    wenn es ein Konkurrenzgeschäft betreibt" (lit. c).

    in § 16:  "Die Hauptversammlung ist das oberste Organ der
Genossenschaft und es haben ihre statutengemäss gefassten Beschlüsse
für alle Mitglieder rechtsverbindliche Kraft. Jede Hauptversammlung ist
beschlussfähig..."

    in § 17: "Die Traktanden der Hauptversammlung sind den Mitgliedern
acht Tage vorher bekannt zu geben..."

    in § 33:  "Die Hauptversammlung ist jederzeit befugt, mit Zustimmung
von zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder eine Revision der Statuten
zu beschliessen, insofern dieselbe auf der Traktandenliste steht."

    in § 34:  "Die Auflösung der Genossenschaft kann nur stattfinden,
wenn vier Fünftel sämtlicher Mitglieder dies verlangen. Dabei ist der
Art. 913 OR zu beachten. Die Anwendung dieses Art. 913 OR steht der
Hauptversammlung zu."

    Durch Zeitungsinserat vom 14. Februar 1948 wurden die Mitglieder
der Genossenschaftsbäckerei zur ordentlichen Hauptversammlung auf
den 27. Februar 1948 eingeladen. Als Traktanden waren vermerkt: "Die
statutarischen, gestellte Anträge, Statutenänderung." Die Hauptversammlung
vom 27. Februar 1948 beschloss u.a. die Änderung der §§ 17, 18 und 34 der
Statuten. § 34 wurde, gegen einen Antrag des Mitgliedes Walcher, der alle
Brotbezüger gleich behandeln wollte, in der von der Verwaltungskommission
vorgeschlagenen nachstehenden Fassung angenommen:

    in § 34:  "Eine Auflösung der Genossenschaft kann durch
Hauptversammlungsbeschluss mit 4 /5 der abgegebenen Stimmen erfolgen.

    Das nach Tilgung sämtlicher Schulden und Rückzahlung der
Genossenschaftsanteile verbleibende Vermögen wird gleichmässig auf
diejenigen Genossenschafter verteilt, die während ihrer Mitgliedschaft
die statutarischen Verpflichtungen erfüllt haben."

    D.- Der ungünstige Rechnungsabschluss für das Jahr 1949 veranlasste die
Verwaltungskommission der Bäckereigenossenschaft im Februar 1950, mit dem
Konsumverein in Verhandlungen über eine Herabsetzung der zugesicherten
Verkaufsprovision zu treten. Der Konsumverein stimmte einer auf das
laufende Jahr befristeten Verminderung von 16 auf 13% zu unter der
Voraussetzung, dass die Genossenschaftsbäckerei wirksame Massnahmen zur
Sanierung des Betriebes ergreife. Am 30. September 1950 kündigte die
Bäckereigenossenschaft den Lieferungsvertrag auf den 31. Dezember 1950
in der Meinung, dass für die Zeit ab 1. Januar 1951 ein neues Abkommen
geschlossen werde. Hierüber kam indessen keine Einigung zustande. Daraufhin
fand am 16. November 1950 eine ausserordentliche Hauptversammlung der
Bäckereigenossenschaft statt, welche auf Antrag der Verwaltungskommission
die Auflösung der Genossenschaft auf den 31. Dezember 1950 beschloss.

    An der ordentlichen Hauptversammlung vom 23. Februar 1951 orientierten
die eingesetzten Liquidatoren über den Stand der Liquidation. Sodann
teilten sie in einem Zirkularschreiben vom 29. Dezember 1951 an
sämtliche Genossenschafter mit, dass nach Rückzahlung der Anteilscheine
und Begleichung der Steuern ein Liquidationsergebnis von Fr. 42'880.--
verbleibe. In Bezug auf dessen Verwendung wurde erklärt, dass gemäss
§ 34 der Statuten in der neuen Fassung von 1948 nur jene Mitglieder
anteilsberechtigt seien, welche die Bedingungen der §§ 4 und 7 der Satzung
erfüllt haben. Entsprechend erhielten 91 Genossenschafter vorläufige
Auszahlungen, während 42 als nicht berechtigt ausgeschiedenen Mitgliedern
die erwähnte Auffassung der Liquidatoren in einem zweiten Rundschreiben
vom 29. Dezember 1951 gesondert zur Kenntnis gebracht wurde.

    E.- Gegen dieses Vorgehen erhob die Genossenschafterin Frau
Schneider-Jakober Einsprache. Sie behauptete, durch Kauf des Brotes in
der Filiale des Konsumvereins ihren Verpflichtungen genügt zu haben, und
verlangte ihren vollen Liquidationsanteil. Da sie auf Ablehnunng stiess,
reichte sie zusammen mit 12 weiteren Genossenschaftern, unter ihnen dem
Konsumverein Glarus, gegen die Genossenschaftsbäckerei in Liq. Klage ein
über die Streitfragen:

    "Ist nicht gerichtlich festzustellen, dass die Änderung der
Statuten der Beklagten vom 27. Februar 1948 ungültig ist, und dass damit
insbesondere § 34 der Statuten der Beklagten in der Fassung vom 19. Februar
1944 gültig ist?

    Eventuell:

    1. Ist nicht gerichtlich festzustellen, dass die Kläger während ihrer
Mitgliedschaft die statutarischen Verpflichtungen der Beklagten gegenüber
erfüllt haben?

    2. Ist die Beklagte deshalb nicht verpflichtet, die Kläger bei der
Verteilung des Liquidationserlöses als vollberechtigte Genossenschafter
anzuerkennen und ihnen vorläufig eine erste Auszahlung von je Fr. 300.--,
abzüglich Verrechnungs- und Couponsteuer in der Höhe von Fr. 90.-
auszubezahlen?

    3. Ist die Beklagte nicht verpflichtet, den Klägern von weitern
Liquidationszahlungen die gleichen Anteile zukommen zu lassen, wie den
übrigen vollberechtigten Mitgliedern?"

    Das Zivilgericht Glarus hiess für die Kläger Nr. 8 und 13 die
Eventualbegehren gut und wies im übrigen die Klage ab. Demgegenüber
schützte das Obergericht des Kantons Glarus mit Urteil vom 2./16. März
1954 das Klage-Hauptbegehren, womit ein Eintreten auf die Eventualbegehren
sich erübrigte.

    F.- Die Beklagte legte Berufung an das Bundesgericht ein. Sie
beantragt, es sei die Klage, soweit nicht vom Kläger Nr. 8 angestrengt,
vollumfänglich abzuweisen, eventuell die Sache an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Berufung richtet sich in erster Linie gegen die
Ungültigerklärung der Statutenänderung vom 27. Februar 1948
durch das Obergericht. Sie hält daran fest, dass der bezügliche
Generalversammlungs-Beschluss höchstens anfechtbar gewesen wäre, aber
keinesfalls nichtig sei.

    a) Das Zeitungsinserat vom 14. Februar 1948, mit welchem die
Genossenschafter zur Hauptversammlung vom 27. Februar 1948 geladen wurden,
erwähnte zwar "Statutenänderung" als Verhandlungsgegenstand. Aber im
Widerspruch zu Art. 883 Abs. 1 OR enthielt es keine Bekanntgabe des
wesentlichen Inhalts der vorgeschlagenen Neuerung. Daher konnte hierüber
gemäss Art. 883 Abs. 2 OR an der Generalversammlung vom 27. Februar 1948
kein Beschluss gefasst werden. Die trotzdem angenommene Änderung der §§
17, 18 und 34 der Statuten war also gesetzwidrig.

    Daraus haben die kantonalen Gerichte verschiedene Folgerungen
gezogen, indem das Zivilgericht blosse Anfechtbarkeit, das Obergericht
aber Nichtigkeit der Statutenrevision annahm. Das Bundesgericht hat
bereits in einem unveröffentlichten Urteil vom 22. November 1939 in
Sachen Wildenthaler und Neu-Email A.-G. c. St. Gallen entschieden,
dass ein Beschluss anfechtbar und nicht nichtig sei, wenn er "nur die
Statuten, Gesetzesbestimmungen dispositiven Rechts oder Vorschriften,
die zwar zwingend sind, aber lediglich den Schutz der privaten Interessen
der einzelnen Aktionäre bezwecken", verletze. Dabei wurde den Vorschriften
der letztgenannten Art auch die dem Art. 883 OR entsprechende in Art. 700
OR beigezählt. Von dieser Praxis abzugehen ist kein Anlass. Sie wahrt den
Grundsatz unter Vermeidung nachteiliger Rechtsunsicherheit, wie sie die
einschneidenden Folgen der Nichtigkeit bewirken müssten (vgl. WIELAND,
Handelsrecht II S. 103). ... Dass, wie die Vorinstanz beifügt, der
wesensmässige Unterschied zwischen den beiden Gesellschaftsformen
"Analogieschlüsse vom Aktien- zum Genossenschaftsrecht" verbiete,
ist an sich unrichtig (vgl. z.B. BGE 78 II 155) und hier überdies
deswegen verfehlt, weil es gar nicht um "eine analoge Anwendung gewisser
gesetzlicher Bestimmungen aus dem Aktienrecht auf das Genossenschaftsrecht"
geht, sondern einfach um die Auslegung einer der aktienrechtlichen analogen
genossenschaftsrechtlichen Vorschrift.

    Da nun weder die Kläger noch andere Genossenschafter ihr in
Art. 891 OR vorbehaltenes Recht zur Anfechtung des umstrittenen
Generalversammlungs-Beschlusses vom 27. Februar 1948 ausgeübt haben,
ergibt sich, dass die neue Fassung des § 34 der Statuten rechtswirksam ist,
es wäre denn, ein sonstiger Mangel würde die Nichtigkeit bewirken.

    b) Zur Bekräftigung ihrer grundsätzlichen Anschauung führt
die Vorinstanz aus, die Beschränkung der Anteilsberechtigung am
Liquidationsüberschuss nach Massgabe des in der Generalversammlung vom 27.
Februar 1948 gutgeheissenen Satzungstextes bringe eine "Diskriminierung"
aller Genossenschafter mit sich, welche Brot und Backwaren der Beklagten
statt in deren Ladengeschäft beim Konsumverein gekauft hatten; das sei
umso stossender, als Mitgliederausschlüsse wegen ungenügender Warenbezüge
unterblieben waren und die Brotablage in der Konsumfiliale Iselihaus für
die Bewohner naher Quartiere eine willkommene Bequemlichkeit dargestellt
habe.

    Die Nichtigkeit der Statutenänderung von 1948 liesse sich aus
solchen Überlegungen höchstens dann herleiten, wenn diese einen rechts-
oder sittenwidrigen Inhalt des neuen § 34 zu belegen vermöchten. Davon
kann ernsthaft nicht die Rede sein. § 34 der Satzung verletzt keine
zwingenden Gesetzesbestimmungen. Indem er für den Fall der Auflösung der
Genossenschaft die Verwendung des Liquidationsüberschusses festlegt, macht
er erlaubten Gebrauch von der in Art. 833 Ziff. 8 und 913 OR eingeräumten
Gestaltungsfreiheit. Weil die gewählte Lösung sich im Rahmen der
nachgiebigen Gesetzesordnung bewegt, liegt auch keine Beeinträchtigung der
in Art. 854 OR vorgesehenen Rechtsgleichheit unter den Genossenschaftern
vor. Dass eine Genossenschaft die Beteiligung am Liquidationsüberschuss
von der Erfüllung der statutarischen Mitgliedschaftspflichten abhängig
macht, ist sachlich weder mit der guten Sitte unvereinbar noch
unbillig. Endlich war, wie bereits das Zivilgericht hervorgehoben hat,
seit der Generalversammlung von 1948 zufolge Verwerfung des Antrages
Walcher zweifelsfrei bekannt, dass Backwarenkäufe beim Konsumverein nicht
oder doch nicht länger als Benützung der Institutionen der Genossenschaft
galten. Mittlerweile hatten die Kläger annähernd drei Jahre Zeit, um sich
durch Direktbezüge von der Beklagten im geforderten Mindestausmass einen
Anspruch auf den Liquidationsanteil zu sichern. Selbst wenn man übrigens
trotz alledem zugunsten der Kläger unterstellen wollte, der neue § 34
der Statuten sei mit irgendwelchen rechts- oder sittenwidrigen Mängeln
behaftet, so könnten diese nach der Natur der Sache keine öffentlichen,
sondern nur private Interessen berühren, weshalb nach dem Vorstehenden der
Generalversammlungsbeschluss bestenfalls anfechtbar gewesen und niemals
nichtig wäre.

    c) Gänzlich abwegig ist die Meinung der Vorinstanz, durch den Beschluss
auf Änderung des § 34 der Satzung seien den Klägern gegen ihren Willen
wohlerworbene Rechte entzogen worden. Abgesehen davon, dass der angeführte
BGE 61 II 171 ohnehin auf den gegebenen Sachverhalt nicht ohne weiteres
passen würde, hatten die Mitglieder der Beklagten gemäss § 34 der Statuten
von 1944 weder einen wohlerworbenen noch überhaupt einen Anspruch auf
Anteil am Liquidationsüberschuss. Vielmehr hätte danach Art. 913 Abs. 4
OR Platz greifen, d.h. das Restvermögen zu genossenschaftlichen Zwecken
oder zur Förderung gemeinnütziger Bestrebungen verwendet werden müssen,
was sowohl die Kläger wie das Obergericht zu verkennen scheinen.

    d) Schliesslich bemerkt die Vorinstanz, es sei "durch das
Versammlungsprotokoll nicht einmal mit Sicherheit nachgewiesen,
dass überhaupt die vom Gesetz verlangte 2/3 Mehrheit der
Genossenschafter anwesend gewesen ist (OR Art. 888 Abs. 2)". Dem
ist vorweg entgegenzuhalten, dass es nach der eigens zitierten
Gesetzesbestimmung wie nach den §§ 33 und 16 der Satzung für Beschlüsse
über Statutenrevisionen einer Mehrheit von zwei Dritteln "der abgegebenen
Stimmen" bzw. "der anwesenden Mitglieder", nicht etwa sämtlicher
Genossenschafter bedarf. Nun hält die unbestrittene Aufzeichnung im
Versammlungsprotokoll vom 27. Februar 1948 fest, dass in der Abstimmung
über den Antrag der Verwaltungskommission auf Änderung des § 34 und
den abweichenden Antrag Walcher jener "mit überwiegender Mehrheit gegen
vereinzelte Stimmen" durchdrang. Geht man vom allgemeinen Sprachgebrauch
aus, so kann nicht bezweifelt werden, dass in einer Kampfabstimmung
unter 46 anwesenden Genossenschaftern "vereinzelte Stimmen" die für
eine Vereitelung des qualifizierten Mehrs nötige Zahl von 16 nicht
erreichen. Ausserdem hätte auch eine Beschlussfassung mit bloss absoluter
statt mit Zweidrittels-Mehrheit in Anbetracht des Gegenstandes und der
Auswirkungen aus den mehrfach genannten Gründen die Anfechtbarkeit und
nicht die Nichtigkeit zur Folge gehabt.

Erwägung 2

    2.- Die damit sich ergebende Abweisung des Klage-Hauptbegehrens zwingt
zur Beurteilung der Eventualbegehren.