Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 80 III 36



80 III 36

10. Entscheid vom 3. März 1954 i.S. Bammert Regeste

    1.  Die Aufforderung des Betreibungsamtes an den ausgezogenen
Mieter, Sachen in die geräumte Wohmmg zurückzubringen, ist eine
Verfügung. Beschwerderecht nach Art. 17 SchKG (Erw. 1).

    2.  Darf das Amt sich vorerst mit einer solchen Aufforderung begnügen
und dabei die Rückschaffung der Sachen mit Hilfe der Polizei nach Art. 284
SchKG bloss androhen? (Erw. 1).

    3.  Die Wegschaffung der Möbel geschah nicht "heimlich", wenn der
Mieter in guten Treuen annehmen konnte, der im Hause weilende Vermieter
nehme sie wahr und sei damit einverstanden (Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Der Rekurrent bewohnte als Mieter den 2. Stock im Hause der Frau
Haury an der Rosenbergstrasse in St. Gallen. Diese kündigte die Miete auf
Ende Oktober 1953; die vom Rekurrenten angerufene Mieterschutzkommission
verlegte aber den Auszugstermin auf den 30. April 1954. Indessen leitete
die Vermieterin mehrere Betreibungen für angeblich ausstehenden Mietzins
gegen den Rekurrenten ein und stellte ein Ausweisungsbegehren. Während
dessen Hängigkeit zog nun der Rekurrent am 5. November 1953 aus, mit
Beginn um 19 Uhr, und schaffte den ganzen Hausrat in seine neue Wohnung
an der Stahlstrasse.

    B.- Die Vermieterin verlangte beim Betreibungsamt rechtzeitig
im Sinne von Art. 284 SchKG die Rückschaffung und die Aufnahme eines
Retentionsverzeichnisses. Hierauf forderte das Amt 16. November 1953
den Rekurrenten auf, "die weggeschafften Retentionsobjekte" binnen zwei
Tagen in die bisher benutzten Mieträume zurückzubringen. Als er dann
aber am 18. gl. M. Einspruch erhob, mit dem er sowohl eine ausstehende
Mietzinsschuld wie auch heimliche Wegschaffung des Hausrates bestritt
und ausserdem behauptete, es handle sich um lauter Kompetenzstücke,
holte das Betreibungsamt vorerst eine Vernehmlassung der Vermieterin
ein. Am 8. Dezember 1953 wiederholte es jene Aufforderung und setzte
dem Rekurrenten eine neue Frist. Wie schon das erste Mal, drohte es ihm
für den Fall der Nichtbefolgung die Rückschaffung mit polizeilicher
Hilfe an. Ferner verwies es ihn diesmal auf die Möglichkeit der
Beschwerdeführung.

    C.- Auf diesem Wege focht der Rekurrent die an ihn ergangene
Aufforderung an. In beiden kantonalen Instanzen abgewiesen, hält er
gegenüber dem Entscheid der obern kantonalen Aufsichtsbehörde vom
4. Februar 1954 an der Beschwerde fest.

Auszug aus den Erwägungen:

    Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Durch den blossen Einspruch konnte der Rekurrent die Aufforderung
des Betreibungsamtes nicht unwirksam machen. Das Amt war dadurch auch nicht
gehindert, die ihm angedrohte Rückschaffung mit Hilfe der Polizeigewalt
zu vollziehen (vgl. JAEGER, N. 6 zu Art. 284 SchKG). Vorbehalten war
demgegenüber nur die Beschwerde nach Art. 17 SchKG, der allenfalls
aufschiebende Wirkung nach Art. 36 SchKG beizulegen gewesen wäre.

    Aber nicht erst die Rückschaffung, sondern auch schon die Aufforderung
an den Rekurrenten, "die weggeschafften Retentionsobjekte" in die bisher
benutzten Mieträume zurückzubringen, war eine der Beschwerde unterliegende
Verfügung. Das lässt sich nicht etwa deshalb verneinen, weil Art. 284 SchKG
dieses mildere Vorgehen nicht vorsieht. Wird tatsächlich so vorgegangen
(was unter Umständen ohne Gefährdung der Gläubigerrechte geschehen kann
und denn auch grundsätzlich anerkannte Praxis ist, vgl. Handelsrechtliche
Entscheidungen 14 S. 126; SCHATZMANN, Das Retentionsrecht des Vermieters,
74; OSER-SCHÖNENBERGER, N. 13, c zu Art. 274 OR), so ist dies gleichfalls
eine auf Art. 284 SchKG gestützte Massnahme, die denn auch im vorliegenden
Falle ausdrücklich mit der Annahme einer heimlichen Wegschaffung der Sachen
durch den Mieter begründet wurde. Fraglich ist nur, ob die Verfügung,
wie sie erging, ohne die zurückzubringenden "Retentionsobjekte" näher
zu bezeichnen, überhaupt vollziehbar war. Allein, da das Amt ihr eine
Androhung beifügte, welche die Rückschaffung in noch zu bestimmendem
Umfange befürchten liess, hatte der Rekurrent genügenden Grund zur
Beschwerdeführung, wenn er eine Rückschaffung eben für unzulässig hielt.

    So verhielt es sich nun zwar schon bei der ersten Aufforderung vom 16.
November 1953. Man kann sich daher vorerst fragen, ob dem Rekurrenten
das damals nicht benutzte Beschwerderecht dann neuerdings gegenüber
der zweiten Aufforderung vom 8. Dezember 1953 zugestanden sei. Das ist
jedoch zu bejahen. Denn das Betreibungsamt hatte mit Rücksicht auf den
Einspruch des Rekurrenten nicht auf der ersten Aufforderung beharrt,
sondern eine Vernehmlassung der Vermieterin eingeholt, um alsdann neu zu
entscheiden. Damit war jene erste Aufforderung widerrufen.

Erwägung 2

    2.- Mit Recht enthält sich der angefochtene Entscheid einer Überprüfung
des Bestandes der vom Rekurrenten bestrittenen Mietzinsforderung. Dass
der geforderte Betrag in Frage kommt, ist durch einen Beschluss der
Mietzins-Kontrollbehörde glaubhaft gemacht, der freilich schon vor dem
Einzug des Rekurrenten in das Haus der Frau Haury erging. Der Entscheid
muss in dieser Hinsicht dem Richter vorbehalten bleiben, zumal sich der
Rekurrent auf Gegenforderungen aus Arbeitsleistung beruft, worüber die
Betreibungsbehörden keinesfalls zu urteilen haben. Diesen steht dagegen zu,
wenn auch nur vorfrageweise, über die Voraussetzungen der Rückschaffung
zu befinden (BGE 52 III 122 ff.). Infolge der Wegschaffung sind nun die
seinerzeit vom Mieter eingebrachten Sachen nach schweizerischem Recht
bis auf weiteres dem Retentionsrecht entzogen und lassen sich ihm nur
allenfalls durch Rückbringung wieder unterstellen (BGE 68 III 3 ff.). Die
Rückschaffung gegen den Willen des ausgezogenen Mieters ist aber an
besondere Voraussetzungen gebunden, deren Vorliegen nicht zu vermuten,
sondern vom Vermieter glaubhaft zu machen ist.

    Wie es sich hier verhält, ist zum grossen Teil unabgeklärt
geblieben, doch erscheint der Vorwurf der "heimlichen" Wegschaffung
durch den Rekurrenten hinreichend entkräftet. Die an ihn im Hinblick
auf eine Rückschaffung gerichtete Aufforderung besteht daher nicht
zu Recht. Dass die Wegschaffung erst nach dem (frühen) Einbruch der
Dunkelheit (im November) geschah, macht sie nicht zur "heimlichen", während
allerdings der Umstand, dass es noch nicht "nachtschlafende Zeit" war, die
"Heimlichkeit" auch nicht etwa ausschliesst (BGE 76 III 55). "Heimlich"
ist eine Wegschaffung eingebrachter Gegenstände, wenn der Mieter sie ohne
Wissen des Vermieters und zwar unter solchen Umständen bewerkstelligt,
dass er nicht in guten Treuen annehmen kann, jener würde sich nicht
widersetzen, wenn er darum wüsste (vgl. den soeben erwähnten Entscheid,
dessen Betrachtungsweise auf das römische Recht zurückgeht; siehe etwa
die von DERNBURG, System des römischen Rechts, 8. Auflage, S. 411,
Bem. 18 angeführte Pandektenstelle). Nun wurde im vorliegenden Falle die
Vermieterin höchst wahrscheinlich des Auszuges des Rekurrenten gewahr. Hat
sie doch dem Betreibungsamt (wie aus der Begründung der Verfügung vom
8. Dezember 1953 hervorgeht) erklärt, sie sei damals zuhause gewesen
und habe Geräusche aus der Wohnung des Rekurrenten wahrgenommen. Es kann
sich beim Umherschieben und Wegtragen von Möbeln nicht nur um gewöhnliche
Geräusche gehandelt haben; auch aus dem Treppenhaus dürfte Lärm zu den
Ohren der Vermieterin gedrungen sein. Jedenfalls darf dem Rekurrenten unter
diesen Umständen nicht leichthin die Absicht zugeschrieben werden, hinter
dem Rücken der Vermieterin mit seinem Hausrate von dannen zu ziehen. Er hat
übrigens die Anwesenheit mehrerer Personen bei seinem Auszuge behauptet,
namentlich eines mit Namen genannten Privatdetektivs, der im Auftrag der
Vermieterin den Auszug überwacht habe. Ferner will er seinen damaligen
Anwalt Zuvor beauftragt haben, der Vermieterin den bevorstehenden Auszug
anzukündigen. Dies alles hätte sich durch Befragung der genannten Personen
abklären lassen. Indessen bedarf es keiner Rückweisung der Sache, um dies
nachholen zu lassen. Um "heimliches" Vorgehen des Rekurrenten zu verneinen,
genügt es, dass der Auszug nicht wohl der im Hause weilenden Vermieterin
verborgen bleiben konnte. Im übrigen war das gegen ihn hängig gemachte
Ausweisungsbegehren dazu angetan, ihn glauben zu machen, die Vermieterin
wünsche seinen baldigen Auszug. Und zwar hatte bisher nichts erkennen
lassen, dass sie etwas von seinem Hausrat retinieren wolle. Waren doch
die damals hängigen Betreibungen ohne Retention erfolgt (worin freilich
kein Verzicht auf künftige Retentionsbetreibung lag). Bei dieser Sachlage
ist das Rückschaffungsbegehren mangels "heimlicher" Wegschaffung der
eingebrachten Sachen abzulehnen, ohne dass festgestellt werden müsste, ob
sich der Hausrat, wie der Rekurrent behauptet, aus lauter Kompetenzstücken
zusammensetze (in welchem Falle die Rückschaffung von vornherein
ausgeschlossen wäre). Die Akten brauchen daher nicht vorerst ergänzt
zu werden durch Einholung eines Amtsberichts über die nach den Angaben
des Rekurrenten am 8. Dezember 1953 in seiner neuen Wohnung erfolgten
Nachforschungen des Betreibungsamtes nach allfällig pfändbarem Mobiliar.

    Nichts Gegenteiliges folgt aus der dem Betreibungsamt mitgeteilten
Überlegung der Vermieterin, "übrigens hätte sie, auch wenn sie den Auszug
beobachtet hätte, diesen nicht mehr verhindern können, da die Büros des
Betreibungsamtes zu jener Zeit geschlossen gewesen seien". Handelte der
Mieter nicht heimlich, so spielt keine Rolle, ob die Wegschaffung erst
nach seiner Heimkehr von der Arbeit und daher ausserhalb der gewöhnlichen
Geschäfts- und Bureauzeit geschah. Übrigens hätte die Vermieterin, wenn sie
die Wegschaffung des Hausrates nicht dulden wollte, allen Grund gehabt,
ihr zu widersprechen. Ausserdem hätte sie nach Art. 283 Abs. 2 SchKG die
Polizei anrufen können.

Entscheid:

       Demnach erkennt die Schuldbetr.- u. Konkurskammer:

    Der Rekurs wird gutgeheissen und die Verfügung des Betreibungsamtes St.
Gallen vom 8. Dezember 1953 aufgehoben.