Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 V 519



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Urteilskopf

139 V 519

69. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. M. gegen
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) und Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen M. (Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
8C_138/2013 / 8C_171/2013 vom 22. Oktober 2013

Regeste

Art. 51 Abs. 3 UVV; Art. 69 Abs. 2 ATSG; Überentschädigungsberechnung.
Die Leistung der Arbeitslosenversicherung (Taggeld) ist gestützt auf Art. 69
Abs. 2 ATSG in Verbindung mit Art. 51 Abs. 3 UVV im Rahmen der
Überentschädigungsberechnung des Unfallversicherers beim Zusammenfallen von
Taggeldern der Unfallversicherung und einer Rente der Invalidenversicherung zu
berücksichtigen. Die Arbeitslosenentschädigung ist als tatsächlich erzieltes
Ersatzeinkommen dem tatsächlich erzielten Erwerbseinkommen gleichzusetzen (E.
5).

Sachverhalt ab Seite 520

BGE 139 V 519 S. 520

A. Der 1966 geborene M. war bei der G. AG als Kranführer-Handlanger angestellt,
als er am 6. Dezember 1999 von einem am Kran hängenden, abstürzenden Palett
getroffen worden war. Für die erlittenen Verletzungen (...) sprach ihm die
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) als zuständiger
Unfallversicherer Heilbehandlungs- und Taggeldleistungen zu.
Mit Schreiben vom 14. September 2010 informierte die IV-Stelle des Kantons
Appenzell I.Rh. (nachfolgend: IV-Stelle) die SUVA über die rückwirkende
Zusprache von Rentenleistungen der Invalidenversicherung für den Zeitraum vom
1. Dezember 2000 bis 30. September 2010 im Betrag von Fr. 288'671.-. Mit
Verfügung vom 26. November 2010 hielt die SUVA aufgrund dieser Rentenleistungen
der Invalidenversicherung eine Überentschädigung im Rahmen ihrer
Taggeldleistungen in der Höhe von Fr. 140'005.65 fest und stellte die
Rückforderung bzw. die Verrechnung dieses Betrages mit der Rente der
Invalidenversicherung in Aussicht. Auf Einsprache hin reduzierte sie die
Überentschädigung auf Fr. 86'807.55 (Einspracheentscheid vom 4. Juli 2012).

B. Das Kantonsgericht des Kantons Appenzell I.Rh. hiess die dagegen erhobene
Beschwerde mit Entscheid vom 15. Januar 2013 teilweise gut, indem es den
Rückforderungsanspruch der SUVA um die vom Versicherten vom 31. Oktober 2003
bis 31. Dezember 2004
BGE 139 V 519 S. 521
erhaltene Arbeitslosenentschädigung im Betrag von Fr. 23'495.84 auf Fr.
63'311.70 reduzierte.

C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt M., in
Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei festzustellen, dass mangels
Überentschädigung kein Rückforderungsanspruch der SUVA bestehe (Verfahren
8C_138/2013). Die SUVA erhebt ebenfalls Beschwerde mit dem Rechtsbegehren, es
sei der kantonale Gerichtsentscheid aufzuheben und der Einspracheentscheid vom
4. Juli 2012 zu bestätigen (Verfahren 8C_171/2013).
Im Verfahren 8C_138/2013 beantragt die SUVA aufgrund des zwischenzeitlich
ergangenen Urteils BGE 139 V 108, es sei die Beschwerde insofern teilweise
gutzuheissen, als die Sache zur weiteren Abklärung hinsichtlich der Festsetzung
der als Mehrkosten zu berücksichtigenden Anwaltskosten an sie zurückzuweisen
sei.
Im Verfahren 8C_171/2013 lässt M. Abweisung der Beschwerde beantragen. Das
Bundesamt für Gesundheit verzichtet in beiden Verfahren auf eine Stellungnahme.
(Auszug)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. Streitig ist die von der SUVA vorgenommene Überentschädigungsberechnung im
Betrag von Fr. 86'807.55. (...)

3. Gemäss Art. 68 ATSG (SR 830.1) werden Taggelder unter Vorbehalt der
Überentschädigung kumulativ zu Renten anderer Sozialversicherungen gewährt.
Nach Art. 69 ATSG darf das Zusammentreffen von Leistungen verschiedener
Sozialversicherungen nicht zu einer Überentschädigung der berechtigten Person
führen. Bei der Berechnung der Überentschädigung werden nur Leistungen gleicher
Art und Zweckbestimmung berücksichtigt, die der anspruchsberechtigten Person
aufgrund des schädigenden Ereignisses gewährt werden (Abs. 1). Eine
Überentschädigung liegt in dem Masse vor, als die gesetzlichen
Sozialversicherungsleistungen den wegen des Versicherungsfalls mutmasslich
entgangenen Verdienst zuzüglich der durch den Versicherungsfall verursachten
Mehrkosten und allfälliger Einkommenseinbussen von Angehörigen übersteigen
(Abs. 2). Die Leistungen werden um den Betrag der Überentschädigung gekürzt.
Von einer Kürzung ausgeschlossen sind die Renten der AHV und der IV sowie alle
Hilflosen- und Integritätsentschädigungen. Bei Kapitalleistungen wird der
Rentenwert berücksichtigt (Abs. 3).
BGE 139 V 519 S. 522
Es sind diejenigen Sozialversicherungsleistungen in die Berechnung der
Überentschädigung einzubeziehen, die dasselbe Ereignis betreffen (Prinzip der
ereignisbezogenen Koordination). Beim Zusammentreffen von Taggeldern der
Unfallversicherung mit Rentenleistungen der Invalidenversicherung hat
praxisgemäss eine Abrechnung über die gesamte Bezugsperiode, beginnend ab der
Entstehung des Anspruchs auf Taggelder der Unfallversicherung, zu erfolgen (BGE
132 V 27 E. 3.1 S. 29; BGE 126 V 193 E. 3 S. 195; Urteil 8C_512/2012 vom 7.
Juni 2013 E. 2.3, in: SZS 2013 S. 407 mit weiteren Hinweisen).

4.

4.1 Der Versicherte erhielt vom 9. Dezember 1999 bis 31. Dezember 2008
Taggelder der Unfallversicherung und zusätzlich, da er arbeitslos gemeldet und
zu 50 % arbeitsfähig war in der Zeit vom 31. Oktober 2003 bis 31. Dezember 2004
ein damit koordinationsrechtlich abgestimmtes Taggeld der
Arbeitslosenversicherung in der Höhe von Fr. 23'495.84 (vgl. Art. 25 Abs. 3 UVV
[SR 832.202]). Darüber hinaus sprach ihm die IV-Stelle nachträglich
Rentenleistungen für die Zeit vom 1. Dezember 2000 bis 31. Dezember 2008 im
Gesamtbetrag von Fr. 302'485.- zu.

4.2 Mit Schreiben vom 25. Juni 2010 teilte die IV-Stelle der SUVA die
beabsichtigte Rentenzusprache in Form einer ganzen Rente ab 1. Dezember 2000
und einer halben Invalidenrente ab 1. September 2001 mit. Die entsprechende
Verfügung der IV-Stelle erging am 3. Dezember 2010. Aufgrund dieser
rückwirkenden Zusprache einer Invalidenrente nahm die SUVA eine
Überentschädigungsberechnung für die in der Zeit vom 9. Dezember 1999 bis 31.
Dezember 2008 erbrachten Taggeldleistungen vor und forderte mit Verfügung vom
26. November 2010 zu viel ausbezahlte Taggelder der Unfallversicherung zurück.
Vorliegend führte demnach das Zusammentreffen von IV-Rente und UV-Taggeld zu
einer Überentschädigung und zur streitigen Berechnung derselben. Der geltend
gemachte Rückforderungsanspruch der SUVA von zu viel ausbezahlten
Taggeldleistungen stützt sich demnach korrekterweise auf die intersystemische
Koordination bei Bezug von Rentenleistungen anderer Sozialversicherungszweige
nach Art. 69 ATSG, weshalb ihre Leistungen einer Kürzung zufolge
Überentschädigung zugänglich sind.
(...)

5. Die nach Art. 69 Abs. 1 ATSG beim Zusammenfallen von Unfalltaggeld und Rente
der Invalidenversicherung vorzunehmende
BGE 139 V 519 S. 523
Bemessung der Überentschädigung erfolgte zu Recht mittels Abrechnung über die
gesamte Bezugsperiode, beginnend ab der Entstehung des Anspruchs auf Taggelder
der Unfallversicherung (E. 3). Die vom 31. Oktober 2003 bis 31. Dezember 2004
für die bestandene 50%ige Arbeitsfähigkeit ausgerichteten Arbeitslosentaggelder
fielen in die Bezugsperiode der Unfalltaggelder. Wie die SUVA zutreffend
ausführte, käme die gänzliche Nichtberücksichtigung dieser Leistungen bei der
Bemessung der Überentschädigung einer Benachteiligung jener Personen gleich,
die ihre Teilarbeitsfähigkeit tatsächlich verwerten, da ihr entsprechendes
Einkommen insoweit in die Überentschädigungsberechnung einfliesst, als es bei
der Festsetzung des mutmasslich entgangenen Verdienstes in Abzug zu bringen ist
(Art. 51 Abs. 3 UVV). Vor diesem Hintergrund ist es sach- und systemgerecht, in
gleicher Weise auch die Leistungserbringung der Arbeitslosenversicherung
gestützt auf Art. 69 Abs. 2 ATSG in Verbindung mit Art. 51 Abs. 3 UVV im Rahmen
der Überentschädigungsberechnung beim Zusammenfallen von Taggeldern der
Unfallversicherung und einer Invalidenrente zu berücksichtigen. Die
Arbeitslosenentschädigung ist somit als tatsächlich erzieltes Ersatzeinkommen
dem tatsächlich erzielten Erwerbseinkommen gleichzusetzen. Die SUVA rechnete
demnach zu Recht die erhaltene Arbeitslosenentschädigung in der Höhe von Fr.
23'495.84 beim mutmasslich entgangenen Verdienst gemäss Art. 51 Abs. 3 UVV als
effektiv erzieltes Ersatzeinkommen an (nicht publ. E. 6.3), weshalb sich dieser
bei der Berechnung des Höchstanspruchs um die Höhe der ausgerichteten
Arbeitslosenentschädigung verringerte.