Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 V 505



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Urteilskopf

139 V 505

66. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Gemeinde X.
gegen T. (Beschwerde in öffentlich- rechtlichen Angelegenheiten)
9C_333/2013 vom 30. Oktober 2013

Regeste

Art. 11 Abs. 1 lit. c und g ELG; Vermögensverzicht zu Lebzeiten des
verstorbenen Ehegatten.
Das Vermögen, auf das der verstorbene Ehegatte zu Lebzeiten verzichtet hat,
stellt auch bei Ausschlagung der Erbschaft (Art. 573 Abs. 1 ZGB) und
Überschuldung des Nachlasses im Umfang der Erbquote des überlebenden Ehegatten
(mindestens die Hälfte [Pflichtteil]; Art. 471 Ziff. 3 ZGB) anrechenbares
(Verzichts-)Vermögen dar (E. 2).

Sachverhalt ab Seite 505

BGE 139 V 505 S. 505

A. T. meldete sich nach dem Hinschied ihres Ehemannes zum Bezug von Ergänzungs-
und Zusatzleistungen zur Witwenrente der AHV an. Mit Verfügung vom 27. Oktober
2011 verneinte die Gemeinde X., Durchführungsstelle für Zusatzleistungen zur
AHV/IV, einen Anspruch. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 30.
Dezember 2011 fest.
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B. In Gutheissung der Beschwerde der T. hob das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich den Einspracheentscheid vom 30. Dezember 2011 auf und stellte
fest, dass sie ab August 2011 Anspruch auf eine monatliche Ergänzungsleistung
(EL) in Höhe von Fr. 527.75 hat (Entscheid vom 4. April 2013).

C. Die Gemeinde X., Durchführungsstelle für Zusatzleistungen zur AHV/IV, führt
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren,
der Entscheid vom 4. April 2013 sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung
an das kantonale Sozialversicherungsgericht zurückzuweisen.
T. stellt keinen Antrag zur Beschwerde. Das kantonale
Sozialversicherungsgericht und das Bundesamt für Sozialversicherungen
verzichten auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. Nach den für das Bundesgericht verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz (
Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG) hatten die EL-Ansprecherin und ihr Ehemann die in
ihrem Miteigentum stehende 3 1/2 -Zimmer- Wohnung an die Tochter verkauft zu
einem Preis, der Fr. 195'000.- unter dem Verkehrswert nach Art. 17 Abs. 4 ELV
(SR 831.301) lag. Am 1. Juli 2011 hatten die Eheleute eine Darlehensforderung
über total Fr. 47'500.- gegenüber der Tochter. Ihr (übriges) Vermögen am
Todestag des Ehemannes, bestehend aus Bankguthaben und Wertschriften, belief
sich auf Fr. 35'348.-. Jeweils die Hälfte der drei erwähnten Beträge hat die
Vorinstanz bei der Berechnung des Anspruchs der Beschwerdegegnerin auf
Ergänzungsleistungen ab 1. August 2011 berücksichtigt, somit ein Reinvermögen
nach Art. 11 Abs. 1 lit. c ELG (SR 831.30) von Fr. 101'324.- ([Fr. 97'500.- +
Fr. 23'650.-+ Fr. 17'674.-]- Fr. 37'500.-[Freibetrag]). Darüberhinaus seien ihr
keine "ererbten Vermögenswerte" anzurechnen, da sie die Erbschaft ihres
verstorbenen Ehemannes ausgeschlagen habe. Diese Auffassung rügt die Beschwerde
führende Durchführungsstelle als bundesrechtswidrig (Art. 95 lit. a BGG).

2.

2.1 Mit dem Tod einer verheirateten Person ist eine güter- und erbrechtliche
Auseinandersetzung zur Bestimmung des Nachlasses vorzunehmen. Die
güterrechtliche Auseinandersetzung hat der
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erbrechtlichen - zum mindesten rechnerisch - vorauszugehen, da erst nach ihrer
Durchführung feststeht, woraus die Erbschaft besteht. Die güterrechtlichen
Ansprüche des überlebenden Ehegatten werden mit dem Tode des andern fällig (BGE
101 II 218 E. 3 S. 221). Das aus der güter- und erbrechtlichen
Auseinandersetzung resultierende Vermögen ist bei der Berechnung der
Ergänzungsleistung vollumfänglich zu berücksichtigen. Ebenfalls voll
anzurechnen sind Vermögenswerte, auf die der Erblasser zu Lebzeiten im Sinne
von Art. 11 Abs. 1 lit. g ELG verzichtet hatte, wie wenn der Verzicht nicht
stattgefunden hätte (Urteil P 30/06 vom 5. Februar 2007 E. 3.5 und 4.3.2).
Vorliegend ist unbestritten, dass mit Bezug auf den Verkauf der
Eigentumswohnung durch die Beschwerdegegnerin und ihren Ehemann an die Tochter
ein solcher Verzichtstatbestand gegeben ist. Der Differenzbetrag von Fr.
195'000.- ist EL-rechtlich somit als im Todeszeitpunkt vorhandenes Vermögen zu
betrachten.

2.2 Die Vorinstanz hat keine güterrechtliche Auseinandersetzung vorgenommen,
was nicht zu beanstanden ist. Die Erbschaft des verstorbenen Ehemannes der
Beschwerdegegnerin wurde von allen nächsten gesetzlichen Erben, somit auch von
ihr und der Tochter ausgeschlagen und in der Folge konkursamtlich liquidiert (
Art. 573 Abs. 1 ZGB). Die Nachlassliquidation wurde eingestellt, wie die
Vorinstanz unter Hinweis auf das Amtsblatt festgestellt hat, und das
Konkursverfahren als geschlossen erklärt, sollte nicht ein Gläubiger bis Ende
Monat die Durchführung verlangen und für die Deckung einen Kostenvorschuss von
Fr. 4'000.- leisten (vgl. Art. 230 Abs. 2 SchKG). Dies ist offenbar nicht
geschehen. Aus dem Gesagten ist zu schliessen, dass die Erbschaft sehr
wahrscheinlich überschuldet oder ein Liquidationserlös höchst unsicher war (IVO
SCHWANDER, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. II, 4. Aufl. 2011, N. 4
zu Art. 573 ZGB). Ergab die nach der Einstellung des Konkurses durchzuführende
Liquidation des Nachlasses keinen Überschuss, hat eine allfällige Forderung der
Beschwerdegegnerin aus Güterrecht keinen wirtschaftlichen Wert und könnte daher
bei der EL-Berechnung nicht berücksichtigt werden (Urteil P 55/06 vom 22.
Oktober 2007 E. 3.3). Resultierte dagegen - wider Erwarten - ein Überschuss,
war er den Berechtigten zu überlassen, wie wenn keine Ausschlagung
stattgefunden hätte (Art. 573 Abs. 2 ZGB; SCHWANDER, a.a.O., N. 5 zu Art. 573
ZGB; AMONN/WALTHER, Grundriss des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts, 9.
Aufl. 2013, § 38 Rz. 43 und § 42 Rz. 25). Ein diesbezüglicher Anspruch der
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Beschwerdegegnerin (obligationenrechtlicher Natur; BGE 136 V 7 E. 2.2.1.2 S.
12) wäre bei der EL-Berechnung zu berücksichtigen, allerdings frühestens ab
Fälligkeitsdatum. Unter diesen Umständen ist EL-rechtlich von einem Vermögen
nach der güterrechtlichen Auseinandersetzung von Fr. 41'324.- (Fr. 23'650.-
[Darlehensforderung gegenüber der Tochter] + Fr. 17'674.- [hälftiger Anteil am
Bankguthaben und an den Wertschriften]) auszugehen. Dazu kommt ihr eigenes
Verzichtsvermögen von Fr. 97'500.- (vorne E. 1).
Unter der Annahme der Überschuldung des Nachlasses kann der Beschwerdegegnerin
erbrechtlich kein (zusätzliches) Vermögen angerechnet werden. Dies gilt
indessen nicht in Bezug auf die andere Hälfte des ihrem verstorbenen Ehemann
zuzuordnenden Verzichtsvermögens. Dabei handelt es sich nicht um eine - im
Rahmen der konkursamtlichen Liquidation des ausgeschlagenen Nachlasses als
Aktivum zu berücksichtigende - Forderung der Erbmasse, welche in diesem Stadium
gegenüber der Tochter noch durchgesetzt werden könnte. Ein Anspruch der
Beschwerdegegnerin gestützt auf Art. 579 ZGB ("Haftung im Falle der
Ausschlagung") ist zu verneinen. Der Betrag von Fr. 97'500.- stellt somit im
Umfang der Erbquote der überlebenden Ehegattin (mindestens die Hälfte
[Pflichtteil]; Art. 471 Ziff. 3 ZGB) ebenfalls anrechenbares (Verzichts-)
Vermögen im Sinne von Art. 11 Abs. 1 lit. c und g ELG dar.

2.3 Nach dem Gesagten ist bei der Berechnung des EL-Anspruchs ab 1. August 2011
zusätzlich zu den Fr. 101'324.- (vorne E. 1) ein Betrag in der Höhe des der
Erbquote der Beschwerdegegnerin entsprechenden Anteils an dem ihrem
verstorbenen Ehemann zuzuordnenden Verzichtsvermögen von Fr. 97'500.- zu
berücksichtigen. Dies führt zudem zu einem höheren Vermögensertrag nach Art. 11
Abs. 1 lit. b ELG. In diesem Sinne wird die Vorinstanz den EL-Anspruch ab 1.
August 2011 neu zu berechnen haben. Die Beschwerde ist begründet.